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N Und umzuſchaffen das Geſchaffne, damit ſichs nicht zum Starren waffne, wirkt ewiges lebendiges Tun. Und was nicht war, nun will es werden, zu reinen Sonnen, farbigen Erden, in keinem Falle darf es ruhn. Es ſoll ſich regen, ſchaffend handeln, erft ſich geftalten, dann verwandeln; nur ſcheinbar ſtehts Momente ſtill. Das Ewge regt ſich fort in allen; denn alles muß in nichts zerfallen, wenn es im Sein beharren will. Goethe (18ar) Ostat Brand iet Leipzig beſorgt. 5 . ö ; i : 2 € E 5 zu teinen Sonnen, farbigen Erden, in keinem Falle darf es ruhn. es foll ſich vegen, ſchaffend Handeln, etſt ſich geſtalten, dann verwandeln; Momente ſſtill. Das Ewge regt ſich fort in allen; nur ſcheinbar ſtehts iR a I er en Vorwort Das Buch Oswald Spenglers: Der Untergang des Abend⸗ landes. Umriſſe einer Morphologie der Weltgeſchichte wird viel ge⸗ lobt und viel geſcholten. Das Verdienſt hat es unbeſtreitbar, das Intereſſe an geſchichtsphiloſophiſchen Fragen neu entflammt und dieſen Brand in weite Kreiſe der gebildeten Welt geſchleudert zu haben. Damit iſt auch von dieſer Seite her — über andere Gründe gibt die folgende Einleitung Aufſchluß — das Intereſſe an Hegels Geſchichtsphiloſophie in ein akutes Stadium getreten. Niemand ſollte über Dinge, die in dieſes Gebiet gehören, reden oder ſchreiben, der nicht mit der ungeheuren Leiſtung Hegels vertraut iſt. So will dieſe neue Unterſuchung und Darſtellung der Hegelſchen Geſchichtsphilo⸗ ſophie nicht nur ein Beitrag zur Aufhellung wichtigſter Probleme der Hegelforſchung, ſondern auch der Verſuch einer Einführung in den gewaltigen Gedankenbau des vielleicht größten Philoſophen des Abendlandes ſein. Daß die eigentümliche Verwandtſchaft Hegels und Spenglers und wiederum die ſcharfe Gegenſätzlichkeit der beiden Denker in hellſte Beleuchtung rückt, gehört zu den Umſtänden, die ſich bei der Durch⸗ dringung der Geſchichtsphiloſophie Hegels von ſelbſt einſtellen. Hamburg, bei der Kirche zu St. Georg, Oſtern 1922. Kurt Leeſe enn RAN wo. e e u * E Fr ’ * 2 ni? u 5 m . me 4 ei „ . 7 5 er n * * 5 * d 8 * 4 ie » {a Eu m 0 . * — = N „ 4 i 1 ar - = 2 — e 1 * } in 8. » 7 4 * 1 5 u; Seite ))))))yhJJ!JV! EL EEE, a A ein le 13 + Erſter Teil: Die Grundlegung I. Der Hintergrund der Weltanſchauung 23-30 4 ee ee ir 23 ® / BL ET Bee 27 Pe II. Das Weſen und die Aufgabe der Geſchichtsphiloſophie 31—55 I. Der induktive Ausgangspuntnkt 31 2, Die geſchichtsphiloſophiſche Frageſtellun g 35 3. Das Apriori und die Empirie 39 4. Das Problem der Theod ieee 47 2 6. Der Endzweck der Geſchichte N 53 2 I. Die geſchichtsphiloſophiſchen Grundbegriffe 56—118 Br eat hi 56 „ 2. Der Begriff der Entwicklung 62 . Der Begriff des Volksgeiſte s 74 9 Das Weſen der Kultur 26 * dh) Drganifche Entfaltung und dialektiſche Bewegung 83 Be c) Goethe, Hegel und Spule... 2.0 en. ae 92 * 4. Der Begriff der Freiheit 105 3 2 /// ee ns 111 4 IV. Die Lehre von der Rangordnung der Individuen . 119-138 es a Ba 0 119 1 2. Die weltgeſchichtliche Perſönlich leit 124 3. Süd und Moral in der Geſchichte „„ 131 Bweiter Teil: Die Dialettit des weltgeſchichtlichen prozeſſes 1 ,d, 141 I. Erſte Stufe: Die orientalifhe Welt 144—183 ] . ache ü 144 12 Inhaltsüberſicht eh Seite 2. Die Phaſe der Identität.. 153 a) Haan % „„ 153 b) Juden Se 158 3. Die Phaſe des Widerfpruhe -. - - » . 2 2 2 m ana. 164 Pens. VE 165 bia ee ar DER a An 171 nnn ee ee 174 4. Die Dialektik des orientaliſchen Geiſtes 181 II. Zweite Stufe: Die griechiſche Welte 184— 218 1. Die Perisdizitut Ber -Kulint 1 :n 2 22 27 184 2. Die Herausbildung des griechiſchen Prinzips . ß 188 3. Die Phaſe der Iden tit le sen er 195 4. Die Phaſe des Widerſpru ch 208 5. Die Dialektik des griechiſchen Geiſteeeeeeet s. 215 III. Dritte Stufe: Die römiſche Welt 219—236 1. Die Herausbildung des römiſchen Pini „ 219 2. Die Phaſe der Identitilt . re 221 3. Die Phaſe des Widerſpru ch . 227 4. Die Dialektik des römiſchen Geiſte s 232 IV. Vierte Stufe: Die chriſtliche Weell 237309 „Garne... Lane su a DE 237 a) Die Herausbildung des Griſlichen Prinzips 237 b) Die Dialektik des chriſtlichen Geiſttnn s. 2441 2. Die Geſamtanlage der Geſchichtsphiloſophie Hegenlnss 252 3. Das Germanentu mm e 2565 a) Das Problem der abendlündifhen Kultur et 256 b) Die Herausbildung des germaniſchen Prinzips und die Phaſe der abſtrakten Identit te in 263 c) Die Phaſe des Widerfpruhd -. - » » : 2 2 nr anne 268 d) Die Phaſe der konkreten Fdentität - - -» -» » nn. 285 4; Die Zukunft der Gelchichte - . 0... Ua nal 8 305 Schlaßbettachtunnggg¶¶ss Bere 310 Namens und Autorenverzeihnid - » » «2: 2 nn nn nr 313 Einleitung 2 „Vorleſungen über die Philoſophie der Gefchichte« hat Hegel in fünf Winterſemeſtern an der Univerſität Berlin gehalten: 1822/23, 24/23, 26/27, 28/29, 30/31. Als Buch erſchienen fie erſtmalig 1837 in Band IX der Sämtlichen Werke, herausgegeben von dem Hegel nahe⸗ ſtehenden Juriſten Eduard Gans. Im Jahre 1840 kam die zweite, 1848 die dritte Auflage heraus, die — der zweiten in der Korrektheit des Druckes nachſtehend — im Wortlaut mit ihr völlig übereinſtimmt. Beide Auflagen beſorgte Hegels Sohn Karl. Von dieſen drei Ausgaben galt die zweite bisher als die authentiſche, ſo 5 daß fie 1907 von Fritz Brunſtäd bei Reclam als textus receptus a mit nur einigen formalen Anderungen neu ediert werden konnte.! . Es iſt ein Ereignis in der Hegelforſchung, daß gerade zur 150. Wie⸗ derkehr ſeines Geburtstags jener textus receptus durch eine vollſtän⸗ dig neue Ausgabe der Vorleſungen verdrängt werden konnte und nur noch ſeine Verwendung als Quelle neben andern Quellen zum Bes hufe der Rekonſtruktion der Geſchichtsphiloſophie Hegels geſtattet. Wir meinen die neue Ausgabe von Georg Laſſon.? Welches find die Gründe, die zu dieſer Umwälzung führten? Die zweite, bisher authentiſche Ausgabe von 1840 in Band IX der Werke wird im folgenden ſtets nach Brunſtäd [Abkürzung: B] zitiert. Über das Verhält: nis der drei erſten Auflagen zueinander vgl. B, 5f. — Der Verſuch Brunftäds, im der Einleitung und den Anmerkungen zu feiner Ausgabe der Hegelſchen Ge: ſchichts philoſophie dieſe in Kant ſche Kategorien zu übertragen, erſcheint mir 2 N 3 33 er Man dient mit einer ſolch künſtlichen Umftififierung weder Kant 2 G. W. Fr. Hegel, Vorleſungen über die Philoſophie der Welt: * Vellſtandig neue Ausgabe von Georg Laſſon, Philoſophiſche Bibliothek [Abkürzung: LI Band I: Einleitung. Die Vernunft in der Ge: ſchichte, 1917; Band II: Die orientaliſche Welt, 1919; Band III: Die griechiſche und tömiſche Welt, 1920; Band IV: Die germaniſche Welt, 1920, * 14 Einleitung Die Quellen, die den erſten Herausgebern der Vorleſungen, Eduard Gans und Karl Hegel, zur Verfügung ſtanden, waren eigenhändige Manuſkripte Hegels und in der Hauptſache Kollegnachſchriften von Zuhörern. Von ſolchen Quellen liegen heute noch vor: ein Manu⸗ ſkript Hegels aus dem Winter 1830 für die „Einleitung“ und vier Kollegnachſchriften: die von Griesheimſche 1822/23 (zwei Bände), die von Kehlerſche 1822/23 (23 Quartſeiten), die von 8 ge — * Kehler ſche 1824/25 (bricht mit dem 14. 2. 25 ab) und die Stie veſche 1826/27. Sie konnten daher von Laſſon mit den Ausgaben von E. Gans und K. Hegel verglichen werden, wobei ſich herausſtellte, daß deren Arbeitsweiſe höchſt bedeutende und kaum entſchuldbare Fehler aufweiſt. Die gemeinſamen N der beiden Editionen ſind nach Laſſon folgende: 1. Willkürliche Veränderung und Verſtümmelung des Hegel⸗ ſchen Manuſkripts: Umſtellung einzelner Abſchnitte zwecks erleichterter Einfügung der Kollegnachſchriften, die zudem nicht immer an die richtige Stelle geratenz Weglaſſung ganzer Sätze; Anderung der Hegelſchen Diktion; falſches Verſtändnis von an den Rand geſchriebenen Stichwörtern; Leſefehler. Von dieſen Mine geln wird dabei Karl Hegel, alſo die bisher maßgebende Ausgabe, mehr betroffen als der erſte Herausgeber Eduard Gans. 2. Hinſichtlich der Reproduktion der Kollegnachſ chriften: Ungenauigkeit im Wortlaut und Unvollſtändigkeit im Umfang; Beiſeitelaſſung vieler und wichtiger Partien; unbegründete Ver⸗ änderung des ſprachlichen Ausdrucks; Unklarheiten der Dispoſition. Zum Teil laſſen ſich dieſe Mängel darauf zurückführen, daß die erſten Herausgeber von dem Beſtreben geleitet wurden, aus den „Vorleſungen“ ein Buch zu machen, das ſtiliſtiſche Glätte erforderte und durch geeignete Auswahl des Materials dem Intereſſe des Leſers entgegenkam. „So ergab ſich die Notwendigkeit, das gedruckte Werk auf Grund Einleitung 15 Be bandfcheiftlichen Urkunden vollftändig umzugeſtalten“ (Laſſon).“ 33 wird der Zugang zu der ſchwer erſchließbaren Gedankenwelt des Philoſophen von einer Seite aus erweitert, die am eheſten ge⸗ eignet iſt, zur Einführung in die Grundanſchauungen feiner Philo⸗ ſophie überhaupt zu dienen. Dieſer Umſtand macht aus dem litera⸗ riſchen Ereignis ein philoſophiſches. Der ehemalige textus receptus, die 2. Auflage von 1840, iſt damit nicht überflüſſig geworden. Es fehlt ja heute immerhin noch an wertvollſtem Quellenmaterial, ſowohl an Kollegnachſchriften für die beiden letzten Wintervorleſungen 1828/29, 30/31 als auch an Manu⸗ fktripten Hegels für fämtliche der „Einleitung“ folgenden Partien. Die erſten Herausgeber waren nicht in dieſem Nachteil. Eine Kolleg— nachſchrift von 1830/31 ſtand ihnen zur Verfügung und ebenſo, außer dem Manuſkript für die Einleitung, eigenhändige Kolleghefte Hegels, aus denen auch Karl Hegel die erſte Ausgabe von Gans er⸗ ganzen konnte. Überall, wo die nunmehr maßgebenden, oben ange: führten Quellen beim Vergleich mit der Ausgabe der Werke ver⸗ ſagen, findet ſich der gleiche Wortlaut der letzteren auch in der neuen Ausgabe. Nur mit dieſer Einſchränkung alſo iſt der alte Druck noch authentiſch, bis eine etwaige Wiederauffindung der verloren gegan⸗ genen Nachſchriften und Hegelſchen Manuſkripte auch hier eine Nach⸗ prüfung geſtattet. Die Umwälzung hinſichtlich der Tertgeftaltung iſt deine fo bedeutſame, daß die Frage nach dem philoſophiſchen Ertrag der neuen Ausgabe der Hegelſchen Geſchichtsphiloſophie wohl be⸗ gründet ſein dürfte.“ Die von Kehlerſche Nachſchtift 1824/25 iſt eine „ganz neue und frifch ſprudelnde Quelle Hegelſcher Aus führungen aus der Glanzzeit des großen Denkers“. Die von 1 Gries heimſche 1822/23 hat auch E. Gans und K. Hegel vorgelegen. Wie es in dieſer Hinſicht mit der von Kehletſchen 1822/23 und der Stieveſchen 1826/27 fteht, darüber 1 äußert Laſſon nichts. Leider ſind die verſchiedenen Nachſchriften ſtillſchweigend in⸗ einandergeatbeitet und im Druck nicht gekennzeichnet. Letzteres iſt nut bei demeigen⸗ udien Danuftript Hegelt für die Einleitung der Fall [Abkürzung: LM]. * Für } n Profeſſot O. Or. Heintich Scholz in Kiel verpflichtet. 16 Einleitung Es geht nun aber nicht an, den Zuwachs, den Hegels Geſchichts—⸗ philoſophie auf dieſe Weiſe erfahren hat, nach erfolgter ſchematiſcher Abſonderung rein in ſich zu betrachten und den organiſchen Zu— ſammenhang, in dem die neuen oder neu geordneten Stücke mit den bisherigen ſtehen, außer acht zu laſſen. Das iſt ſchon aus dem Grunde nicht ſtatthaft, als ihr eigentlich philoſophiſcher Wert ein ſehr ungleicher iſt. Der Blick auf das Ganze der Gedankenführung des Philoſophen muß uns immer gegenwärtig ſein. Hierbei ſoll unſerer Aufgabe gemäß der Akzent auf dem Neuen liegen, durch das die bisherige Faſſung ergänzt, geklärt, vertieft oder bereichert wird. Rein äußerlich ſoll dies ſo geſchehen, daß dort, wo die alte und neue Ausgabe wörtlich, weſentlich oder auch nur annähernd über⸗ einſtimmen, die korreſpondierenden Seitenzahlen angemerkt werden; wo aber die neue über die alte Ausgabe hinausführt, dies ebenfalls an dem alleinigen Beleg der erſteren ohne weiteres kenntlich iſt, auch wenn im laufenden Text zur Vermeidung ermüdender Wieder⸗ holungen nicht ausdrücklich allemal darauf hingewieſen wird. Der Wortlaut der Belegſtellen iſt, wenn nicht ausdrücklich anderes bemerkt wird, in beiden Fällen ſtets derjenige der neuen Ausgabe. Zu den großen Vorzügen der von Laſſon veranſtalteten Ausgabe gehört eine ſehr ſorgfältig und bis ins kleinſte durchgeführte Periodi⸗ ſierung des umfangreichen Stoffs. Sie erleichtert ganz ungemein deſſen Bewältigung. Aber es wäre eine verhängnisvolle Täuſchung, wenn man meinte, ſich ihr bedingungslos anvertrauen zu dürfen. Die Dispoſition iſt keine ſyſtematiſche Gliederung. Auch in der Laſſon⸗ Ausgabe bleiben Hegels Vorleſungen das nur oberflächlich und vor⸗ läufig geſichtete Material, aus dem der ſyſtematiſche Zuſammenhang erſt erſchloſſen werden muß, wie es der Natur ihres praktiſch-pädago⸗ giſchen Zweckes nach auch nicht anders zu erwarten iſt. Wir haben daher die Aufgabe, zum erſten Male eine Gliederung der Hegelſchen Geſchichtsphiloſophie unter dem ſyſte⸗ Einleitung 17 matiſchen Geſichtspunktihres leitenden Grundgedan⸗ kenns vorzunehmen.! Damit aber erweitert ſich nun die Frage nach dem philoſophiſchen Ertrag der neuen Ausgabe der Hegelſchen Geſchichtsphiloſophie zu der Nötigung, diefelbe in einer Geſamtdarſtellung zuſammenzufaſſen. Eine ſolche iſt ein dringendes Bedürfnis, da es eine auch nur einiger maßen befriedigende Darſtellung der Geſchichtsphiloſophie Hegels nicht gibt, ja, auf Grund der bisherigen Ausgaben auch kaum geben konnte. Paul Barths geht von Hegels Logik aus, erhebt aus ihr den ganz äußerlich gefaßten Begriff der dialektiſchen Methode und ſtellt endlich feſt, daß die Anwendung derſelben auf die Geſchichte ein bedauerlicher Fehlgriff und ein unverantwortlicher Schnitzer iſt. Was Barth über Hegels Geſchichtsphiloſophie äußert, ſind einige dürf⸗ tige Notizen, die dem großen Gegenſtand in keiner Weiſe gerecht . 3 Kuno Fiſchers hat über Hegels Geſchichtsphiloſophie ausführlich referiert. Es fehlt aber dieſem Referat jeder leitende Geſichtspunkt, ſo daß es nicht mehr als eine bloße Kompilation des Stoffes iſt. Man erhält die Teile ohne das geiſtige Band. Die weitaus bedeutendſte Leiſtung iſt die von Georg Laſſon.? KLlaſſon hat aber mehr die geiſtige Phyſiognomik des Geſchichtsphilo⸗ ſophen Hegel im Auge als eine direkte Analyſe feines Werkes. Auf⸗ fallend iſt, daß Laſſon mit keinem Worte des für Hegels Geſchichts⸗ Philoſophie fo tief bedeutſamen Problems der Dialektik Er⸗ wähnung tut. Und doch liegt gerade hier der Kernpunkt, auf deſſen Verſtändnis alles ankommt. Laſſon ſelber hat den klaren Weg dazu | 1 Dies gilt natürlich nur von dem zweiten Teil dieſes Buches: Die Dialektik des Wgeſcechtlichen Progeffes. * Die Geiichtsphilsfephie Hegels und der Hegeliäner des auf Marr und Hartmann, Leipfig 1890; Die Pilofophie der Geſchichte f 3 als Soziologie, Leipzig 1913, 1, S. 48. 404 f. 738 ff. Geſchichte der neuern Pphiloſophie, Achter Band, Hegels Leben, Werke und Lehre, Heidelberg 1901/02, u. Tei, S. 7399-811. 7 Hegel als Geſchichtophiloſoph, Leipzig 1920. keeſe, Geſchicht epttlo ſo phie Hegels 18 Einleitung gewieſen, von hier aus Hegels Geſchichtsphiloſophie in Angriff zu nehmen. Er ſagt: „Ganz allgemein muß man zunächſt den Punkt ins Auge faſſen, daß für Hegel ſelbſt die geſchichtliche Wirklichkeit nicht ein beliebiger Gegenſtand des Nachdenkens neben anderen und die Philoſophie der Geſchichte nicht eine philoſophiſche Diſziplin unter vielen gleichwertigen iſt. Vielmehr hat jene Wirklichkeit den Hauptgegenſtand ſeines Nachdenkens ausgemacht, und die Geſchichtsphiloſophie hat Ausgang und Ziel ſeiner philoſophiſchen Methode gebildet. Schon früher hatten Denker der verſchiedenſten Art über Geſchichte und gejchichte liche Probleme gehandelt. Gerade in den letzten hundert Jahren vor Hegel war das Intereſſe dafür immer reger geworden, und die Auf— gabe einer Philoſophie der Geſchichte hatte ſich dem denkenden Geiſte immer ſtärker als unabweislich aufgedrängt. Die Denker aber, die ſich dieſer Aufgabe zuwandten, traten an ſie heran, nachdem ſie ſich auf andern Erkenntnisgebieten eine feſte Stellung zu der Ob— jektivität ſchon gewonnen hatten. Das iſt bei Hegel anders. Die ge— ſchichtliche Wirklichkeit iſt der Gegenſtand, auf den ſich fein Nach- denken von Anfang an gerichtet hat. Noch ehe er daranging, ſyſte⸗ matiſch zu philoſophieren, hat er ſich um das Verſtändnis geſchicht⸗ licher Prozeſſe bemüht. An der Unterſuchung dieſer Pro: zeſſe hat er ſeine Methode ſich ausgebildet und iſt er ſich der Grundzüge ſeiner Denkart bewußt ge— worden. Er iſt Geſchichtsphiloſoph gewesen, längſt ehe er an das Unternehmen dachte, eine Logik und ein philoſophiſches Syſtem zu ſchaffen. Wer in ihm hauptſächlich den abſtrakten Logiker ſieht, der ſieht an der eigenſten Beſtimmtheit des Hegelſchen Denkens vorbei.“ Es beſteht demnach das Recht und die Notwendigkeit, daß das Weſen der dialektiſchen Methode, inſofern ſie für Hegels Geſchichtsphiloſophie konſtituierend iſt, auch aus dieſer ſelbſt erhoben werde. In der dialektiſchen Me— s A. a. O. S. 2. Sperrungen vom Verf. 1 Einleitung 19 9 . . offenbart ſich die für Hegel charakteriſtiſche Denkart. Es iſt w prüfen, worin fie ſich auf dem ihr genuinften Boden der Ges 1 ſchichtophiloſophie ſelber ausprägt, ein wie weitgehender Gebrauch * von ihr gemacht, von welchen andersartigen Konzeptionen ſie etwa diourchkreuzt und umgebogen wird. * Damit geht unſere Unterſuchung gerade den umgekehrten Weg als dn, den Barth eingeſchlagen hat. Paul Barth hat die Bedeutung 4 des dialektiſchen Problems für Hegels Geſchichtsphiloſophie ober⸗ 5 23 flachlich geſtreift; Kuno Fiſcher hat ſie überhaupt nicht erkannt; Georg Laſſon hat ſie aus nicht erſichtbaren Gründen verſchwie⸗ gen. Wir ſehen in dem Problem der Dialektik den Angelpunkt, um br den ſich Hegels Geſchichtsphiloſophie dreht. Von hier aus iſt fie überhaupt erſt zu erſchließen. Hier enthüllen ſich ihre tiefften Ges * beimniſſe Hier finden wir das geiſtige Band und den ſyſtematiſchen 7 Zuſammenhang, um deren Aufweis es recht eigentlich zu tun iſt. Im Jahre 1888 erſchien von Eugen Heinrich Schmitt eine reisgekronte und auch heute noch der Beachtung nicht unwerte Schrift: Das Geheimnis der Hegelſchen Dialektik be 4 leuchtet vom konkret⸗ſinnlichen Standpunkte Dieſe Monographie, die an vielen Unklarheiten leidet, blieb die letzte über den Gegenſtand. Sie hat die Geſchichtsphiloſophie Hegels von allen Gebieten ſeines | Pbdoſapbierens alleine gänzlich unberückſichtigt gelaſſen. Das „Ge⸗ = heimnis“ der Hegelſchen Dialektik hat E. H. Schmitt nicht ent⸗ . rätſelt. Daß dieſes Geheimnis von Hegels Geſchichtsphiloſophie aus nicht nur zugänglich und lösbar, ſondern in feiner letzten men ſch⸗ lichen Bedeutſamkeit auch faßbar ift, darüber handeln die . 5 »Die chronologiſche Reihenfolge der Werke Hegels: Phänomenologie (1807), | er (1812), Enzyklopädie (1817), die feinen Vorleſungen über die Philoſophie * 1 * iſt alſo kein ſtichhaltiger Einwand gegen das ge: r x \ ee 1 2 * . e . EN ENT a “ de 11 25 8 * I nA; a wo ee * J. Der Hintergrund der Weltanſchauung 1. Die Idee „Bei dem großen Reichtum unſerer Sprachen findet ſich doch oft der denkende Kopf wegen des Ausdrucks verlegen, der ſeinem Be⸗ griffe genau anpaßt, und in deſſen Ermangelung er weder andern, noch ſogar ſich ſelbſt recht verſtändlich werden kann.“ Mit dieſem Satze beginnt Kant ſeine berühmte Auseinanderſetzung mit Pla⸗ tos Ideenlehre, „um den Sinn auszumachen, den der erhabene Er Philoſoph mit feinem Ausdrucke verband“. Anders als für Plato ſind für Kant die Ideen nicht von der Vernunft vorgefundene und von ihr unabhängige Objekte. Ideen find Objekte, die „die Vernunft ſich ſelbſt ſchafft“. Die Idee iſt ein „Produkt unſrer eigenen Ver⸗ nunft“.? Die Idee als Vernunftſchöpfung iſt aber auch nicht auf einen Gegenſtand der Erfahrung bezogen, wie dies bei den Verſtan⸗ desbegriffen oder Kategorien der Fall iſt. Die Idee iſt „nur“ Idee. Sie iſt deshalb keineswegs überflüſſig und nichtig. „Denn wenn ſchon dadurch kein Objekt beſtimmt werden kann, ſo koͤnnen ſie (die Ideen) doch im Grunde und unbemerkt dem Verſtande zum Kanon feines ausgebreiteten und einhelligen Gebrauchs dienen, da- durch er zwar keinen Gegenſtand mehr erkennt, als er nach ſeinen Begriffen erkennen würde, aber doch in dieſer Erkenntnis beſſer und weiter geleitet wird.““ Die Idee ſtellt der Erfahrungserkenntnis die immer nur annäherungsweiſe zu löfende Aufgabe, von der Teils | 2 Kritik der reinen Vernunft (Reclam) S. zyzff. ' Das Ende aller Dinge 1794. Kants populäre Schriften, herausg, von Paul Menzer 1911, S. 298 f. * Kritik di. r. B. S. 284. 24 Der Hintergrund der Weltanſchauung erſcheinung zur Totalität, vom Bedingten zum Unbedingten oder Abſoluten vorzudringen. Seele, Welt und Gott ſind für Kant die drei Ideen der reinen Vernunft, die er aus metaphyſiſchen Gegen— ſtänden auf der Vernunft immanente regulative Prinzipien redu⸗ ziert.“ Einen gänzlich andern Sinn als Kant verbindet Hegel mit dem Ausdruck „Idee“, wobei er ſich Plato in gewiſſem Sinne wieder nähert und gleichzeitig den Subſtanzgedanken Spinozas zur Gel: tung bringt. Um Hegels Meinung nicht zu verfehlen, iſt Kants Mah⸗ nung, den Ausdruck auf den ihm anpaſſenden Begriff zu unter⸗ ſuchen, beſonders ernſt zu nehmen. Prüft man nämlich, was Hegel unter der Idee, die in ſeinem Syſtem eine ſo große Rolle ſpielt, ja das Fundament bildet, auf dem ſein Gedankenbau errichtet iſt, verſteht, ſo mag auch hier „der denkende Kopf wegen des Ausdrucks verlegen“ geweſen ſein. Häufig verſteht man unter Idee eine ſub— jektive Vorſtellung oder ein wirklichkeitsfremdes Ideal. Aber die Idee Hegels iſt nicht als „eine Idee von irgend etwas“, nicht for⸗ mal⸗logiſch und abſtrakt aufzufaſſen.“ Sie iſt auch nicht wie die Idee Kants eine Regel zur möglichſten Erweiterung und Syſtemati⸗ ſierung der Erfahrungserkenntnis, deren konſtitutive Faktoren die raumzzeitlichen Anſchauungen und die Kategorien des Verſtandes ſind. „Die Idee,“ ſagt Hegel, „kann als die Vernunft (dies iſt die eigentliche philoſophiſche Bedeutung für Vernunft), ferner als das Subjekt⸗Objekt, als die Einheit des Ideellen und Reellen, des Endlichen und Unendlichen, der Seele und des Leibes, als die Mög— lichkeit, die ihre Wirklichkeit an ihr ſelbſt hat, als das, deſſen Natur nur als exiſtierend begriffen werden kann uff. gefaßt werden.““ Die Idee iſt alſo nicht eine Schöpfung der menſchlichen Vernunft, Daß die Idee Kants nicht immer eine rein theoretifche, auf Erkenntnis ab» zweckende Aufgabe bedeutet, ſondern auch dem ſittlichen Handeln Ziele ſetzt, kann hier außer Betracht bleiben. 5 Enzyklopädie der philoſophiſchen Willen: ſchaften ed. Laſſon 21911, 213, S. 190f. A. a. O. 9214, S. 191. Die Idee 25 ſondern ſie iſt die allumfaſſende Weltvernunft ſelber. Als ſolche iſt ſie alle Weſenheit und Wahrheit, die eine allgemeine Su bſtanz, d. h. das, wodurch und worin alle Wirklichkeit des natürlichen und geiſtigen Lebens ihr Sein und Beſtehen hat.? Die Idee iſt nicht das Poſtulat des ſtets unerreichbar bleibenden Abſoluten, ſie iſt das dem Denken zugängliche und von ihm erfaßbare Abſolute, die Einheit des Ideellen und Reellen, des Endlichen und Unendlichen, das Sub⸗ jekt⸗Objekt. So weit war ſchon Schelling, mit mächtigem Ein⸗ heitsdrang über den Dualismus Kants und den ſubjektiven Idea⸗ lismus Fichtes hinausſtrebend, in ſeiner Identitätsphiloſophie ge⸗ kommen. Hegel erblickte in ihr den Höhepunkt der bisherigen Ent⸗ wicklung des philoſophiſchen Denkens. Für Schelling war nur die Einheit des Endlichen und Unendlichen, des Denkens und Seins ruhig beharrende Identität. Das Abſolute war ihm der In⸗ differenzpunkt, in dem aller lebendiger Widerſtreit zum Erlöfchen kam, die unterſchiedsloſe Ruhe des Todes, in die alle Unterſchiede und Gegenjäße verſanken. An dieſem Punkte trennte ſich der Lebens⸗ drang Hegels von der kontemplativen Natur Schellings. 3 Für Hegel iſt die Idee „weſentlich Prozeß“.“ Damit iſt gemeint, „daß die mit ſich identiſche Idee das Negative ihrer ſelbſt, den Widerſpruch, ent⸗ halte“. 10 Die Idee iſt daher, wie Hegel auf die Denkmethode Fichtes und Schellings zurückgreifend ſagt, „dialektiſch“. 11 „Die Einſicht, A. a. O. 5213, S. 190f.; L M, I, 4 B, 42. * Bol. M. Kronenberg, Ge: ſchichte des deutſchen Idealismus 1912, I1, S. 688 f. 700 ff. — „Ich nenne Ver: nunft die abſolute Vernunft, oder die Vernunft, inſofern ſie als totale Indifferenz des Subjektiven und Objektiven gedacht wird.“ „Das Abſolute iſt unveründerlich beſtimmt als totale Indifferenz des Erkennens und Seins ſowohl als der Subjektivi⸗ tät und der Objektivität. Differenz kann alſo nur geſetzt fein in Anſehung deſſen, was von dem Abſoluten abgefondert wird und inſofern es abgefondert wird. Dieſes iſt das Einzelne. Schelling, Darſtellung meines Syſtems der Philoſophie 1801, $ ı und $ 30, Anmerkung (Werke, ed. Otto Weiß, II, S. 318. 331). »Enzyllo⸗ pädie a. a. O. f 215, S. 193. A. a. O. f 214, S. 192. u A. a. O. fars, S'. 103. — Die Dialektik ift das „fubftantielle Grundprinzip” der Philosophie Fichtes und Schellings. Sie ift der Text der Philoſophie Hegels. Die Hegelſche 26 | Der Hintergrund der Weltanſchauung daß die Natur des Denkens ſelbſt die Dialektik iſt, daß es als Ver⸗ ſtand in das Negative ſeiner ſelbſt, in den Widerſpruch geraten muß, macht eine Hauptſeite der Logik aus.“ 12 Wir können mithin ſagen, daß die logiſchen Kategorien der Identität und des Wider⸗ ſpruchs für das Weſen der Dialektik konſtitutiv ſind. Aber nicht ſo, daß die Sphäre des Widerſpruchs ſich gegen die der Identität aus⸗ ſchließend verhält. Die Setzung und Aufhebung des Widerſpruchs geſchieht innerhalb der Identität, die über den Widerſpruch hinüber⸗ greift. Würde der Widerſpruch nicht aufgehoben, oder, wie Hegel auch ſagt, „verſöhnt“, ſo wäre die Identität, alſo die Grundvoraus⸗ ſetzung des Denkens, ja zerſtört. Scheinbar handelt es ſich hier um rein logiſche Beſtimmungen. Aber der dialektiſche Stil der Hegelſchen Logik iſt vielmehr ſelber bedingt durch ein alogiſches Lebensgefühl. Das Leben iſt die ur⸗ ſprüngliche Einheit, die nur im Widerſtreit lebendig iſt und durch den Widerſtreit, ſeine immerwährende Setzung und Aufhebung, lebendig bleibt. Die unveränderliche Einheit, die den Widerſpruch von ſich ausſchließt, iſt die Ruhe des Todes. Deshalb iſt Hegel über das Identitätsſyſtem Schellings hinausgegangen. Der Widerſpruch ohne die ihn bindende Einheit führt in das Chaos der vernunftloſen Willkür. Faſt auf jeder Seite ſeiner Geſchichtsphiloſophie hämmert Hegel dem Leſer dieſe Wahrheit ein. Das geiſtig⸗geſchichtliche Leben der Menſchheit, um deſſen Ergründung Hegel es zu tun iſt, ſteht in der Mitte zwiſchen dieſen beiden Extremen des Todes und des Chaos. So ſcheint die Dialektik Hegels zu tiefſt auf der intuitiven Erfaſſung des Lebensprozeſſes zu beruhen, deſſen Logiſierung ſie iſt. Die dialektiſche Methode iſt der paradoxe Verſuch, das Alogiſche dem übergreifenden Geſamtzuſammenhang des Denkens einzuordnen und es damit logiſch zu rechtfertigen. Hegel hat ein deutliches Bes Dialektik iſt die „durchgeführte Konſequenz der Fichte-Schellingſchen Lehre“. Eugen Heinrich Schmitt, Das Geheimnis der Hegelſchen Dialektik 1888, S. 40. 78. 12 Hegel, Enzyklopädie a. a. O. $ ı1, S. 43. Sperrung vom Verf. Natur und Gift 27 5 wußtſein darüber, daß er der Philoſoph des lebendigen hRMeiſtes iſt. „Die Idee iſt ſelbſt die Dialektik, welche ewig das mit . Be, ſich Identiſche von dem Differenten, das Subjektive von dem Ob⸗ jektiven, das Endliche von dem Unendlichen, die Seele von dem Leibe, ab⸗ und unterſcheidet, und nur inſofern ewige Schöp⸗ fung, ewige Lebendigkeit und ewiger Geiſt iſt.“ 9 Die Idee iſt der im Weltprozeß ſich entfaltende und ſeine eigenen Be⸗ ſtimmungen dialektiſch, d. h. im Wechſelſpiel von Identität und Widerſpruch ſetzende Logos. 2. Natur und Geiſt Natur und Geiſt ſind verſchiedene, jedoch nicht gleichwertige Weiſen, in denen die Idee ſich manifeſtiert. Die Natur iſt „die Idee in der Form des Andersſeins“. 1 „Die Natur iſt darum nach ihrer beſtimmten Exiſtenz, wodurch ſie eben Natur iſt, nicht zu vergöttern, noch ſind Sonne, Mond, Tiere, Pflanzen uff. vorzugsweiſe vor menſchlichen Taten und Begeben⸗ | heiten als Werke Gottes zu betrachten und anzuführen. Die Natur iſt an ſich, in der Idee göttlich, aber wie ſie iſt, entſpricht ihr Sein ihrem Begriffe nicht; ſie iſt vielmehr der unaufgelöſte Widerſpruch. Ihre Eigentümlichkeit iſt das Geſetztſein, das Negative, wie die Alten die Materie überhaupt als non-ens gefaßt haben. So iſt die Natur auch als der Abfall der Idee von ſich ſelbſt ausgeſprochen worden, indem die Idee als dieſe Geſtalt der Außerlichkeit in der Unange⸗ 1 A. a. O. 214, S. 192. Sperrung vom Verf. Vgl. hierzu auch den wichtigen Satz Hegels: „Die notwendige Entzweiung iſt Ein Faktor des Lebens, das ewig entgegenſetzend ſich bildet: und die Totalität iſt, in der höchſten Lebendigkeit, nur durch Wiederherſtellung aus der höchſten 8 Trennung möglich.“ Differenz des Fichteſchen und Schellingſchen Syſtems der Philoſophie 1801, Sämtl. Werke I, S. 174. 1 Ennzklopädie a. a. O. f 247, St. 20. 28 Der Hintergrund der Weltanſchauung meſſenheit ihrer ſelbſt mit ſich iſt.“ 1s Die Natur leiſtet, wie Kant und Fichte dies ſchon deutlich hervorgehoben haben, einer reſtloſen begrifflichen Durchdringung unüberwindlichen Widerſtand. „In der Natur hat das Spiel der Formen nicht nur ſeine ungebundene zügelloſe Zufälligkeit, ſondern jede Geſtalt für ſich entbehrt des Begriffs ihrer ſelbſt. Das Höchſte, zu dem es die Natur in ihrem Daſein treibt, iſt das Leben; aber als nur natürliche Idee iſt dieſes der Unvernunft der Außerlichkeit hingegeben, und die individuelle Lebendigkeit iſt in jedem Momente ihrer Exiſtenz mit einer ihr anderen Einzelheit befangen; dahingegen in jeder geiſtigen Außerung das Moment freier allgemeiner Beziehung auf ſich ſelbſt enthalten iſt.“ 16 \ Aus der Natur als ihrer vernunftloſen und widerſpruchsvollen Außer— lichkeit und Endlichkeit muß die Idee ſich zur Exiſtenz des Geiſtes hervorbringen, der „die Wahrheit und der Endzweck der Natur und die wahre Wirklichkeit der Idee iſt“. 17 Die Natur hat im Panlogis⸗ mus Hegels, der ein ſelbſtändiges alogiſches Prinzip ſcheinbar nicht aufkommen läßt, nur als „Durchgangspunkt“ der Idee und Mittel zur Realiſierung des Geiſtes Recht und Bedeutung. Sie iſt der Widerſpruch, den die Weltvernunft antithetiſch in ſich ſelbſt erzeugt, um ihn — die Idee iſt Prozeß — ſynthetiſch in ſich zurückzunehmen und ihn als aufgehobenes Moment in ſich zu konſervieren. Die Natur iſt in ihrer bloßen Tatſächlichkeit etwas Alogiſches, der Überwindung Bedürftiges, durch das die Idee hindurch muß, um ſich als Geiſt zu vollenden und als Geiſt zu bewähren. 18 Die Idee iſt „zunächſt 1 A. a. O. F 248, S. 208. 1 A. a. O. § 248, S. 208; $ 250, S. 210f,. Sperrung vom Verf. 7 A. a. O. F251, S. 212; f 575, S. 498. e Eduard von Hartmann, Geſchichte der Metaphyſik 1900, II, S. 211. 214. 223. „Der Begriff der Zufälligkeit bei Hegel iſt denn auch von jeher als die Achillesferſe ſeines Syſtems erkannt worden, als eine Verlegenheitsausflucht des Panlogis⸗ mus, der das Unlogiſche im einzelnen und an der Oberfläche einſchmuggeln ſoll, das im ganzen nicht zu erklären iſt.“ S. 244. Mit G. Laſſon ein: wenden, „es gehöre zur Vernünftigkeit der Welt, daß in ihr auch das Zufällige Natur und Geift 29 nur“ Subſtanz, d. h. unbewußt und unperfönlich. Durch ihre dialek⸗ tiſche Selbſtbewegung aber erlangt ſie „ihre entwickelte wahrhafte Wirklichkeit“, „daß ſie als Subjekt und als Geiſt iſt“. Als Subjekt a und Geiſt ift die Idee bewußt und perfönlich. 19% „Der Geift ift als die Wahrheit der Natur geworden.“ 20 Aber er ift zunächſt nur als endlicher Geiſt, wie auch die Natur der Sphäre der Endlichkeit angebört. Seine Beſtimmung iſt, einen Entwicklungsprozeß zu durchlaufen, der ihn in dialektiſcher Stufenfolge über den „Stand⸗ punkt der Endlichkeit“ erhebt, bis die Idee aus ihrer Selbſt⸗ entzweiung in ſich zurückkehrt und als abſoluter, unendlicher Geiſt ihren Kreislauf vollendet. „Das Abſolute iſt der Geiſt: dies iſt die hoͤchſte Definition des Abſoluten. Dieſe Definition zu finden und ihren Sinn und Inhalt zu begreifen, dies, kann man ſagen, war die abſolute Tendenz aller Bildung und Philoſophie; auf dieſen Punkt hat ſich alle Religion und Wiſſenſchaft gedrängt: aus dieſem Drang allein iſt die Weltgeſchichte zu be⸗ greifen.“ 21 Danach gliedert ſich das Syſtem der Hegelſchen Philoſophie in drei Teile: die Logik, als die „Wiſſenſchaft der Idee an und für ſich“, die Naturphiloſophie als die „Wiſſenſchaft der Idee in ihrem Andersſein“, und die Philoſophie des Geiſtes als die Wiſſen⸗ ſchaft „der Idee, die aus ihrem Andersſein in ſich zurückkehrt“. „Auf dieſe Weiſe zeigt ſich die Philoſophie als ein in ſich zurückgehender Kreis.“ 22 Die Philoſophie hat weiter nichts zu tun, als den Kreis⸗ lauf der Idee nachzudenken, die „der ewige Lebens⸗ und Entwick⸗ und Unvernünftige feinen Platz habe; genau wie das Häßliche unter den Be: griff des Schönen, jo fällt auch das Unvernünftige unter den Begriff der Ver⸗ nunft“, — heißt aus der für den Panlogismus ſehr großen Not eine recht zweifelhafte Tugend machen. Einleitung zur Enzyklopädie a. a. O. S. XXVIII. Enzyklopädie a, a. O. f 213, S. 191; f 215, S. 193; 5 573, S. 494; E. v. Hartmann a. a. O. S. 223ff, „ Enzyklopädie a. a. O. $ 388, S. 339. * A. a. O. 581, S. 105; f 384, S. 3355 $ 386, S. 336 f.; 5 554, S. 474. Sperrung vom Verf. A. a. O. ff 17. 18, S. sof. 30 Der Hintergrund der Weltanſchauung lungsprozeß iſt, in dem und durch den das Unendliche ins Endliche eingeht und alles Endliche wiederum unendlich wird“. 23 Die Geſchichtsphiloſophie findet ihren Ort im dritten Teil des Hegel⸗ ſchen Syſtems, in der Philoſophie des Geiſtes. Kronenberg a. a. O. S. 763. Vgl. Hegel, Grundlinien der Philoſophie des Rechts. Werke, Band VI I, 1854, $ 31, S. 63 f.: „Dieſer Entwickelung der Idee als eigener Tatigkeit ihrer Vernunft ſieht das Denken als ſubjektives, ohne ſeinerſeits eine Zu⸗ tat hinzuzufügen, nur zu. Etwas vernünftig betrachten heißt, nicht an den Gegen⸗ ſtand von außen her eine Vernunft hinzubringen und ihn dadurch bearbeiten, ſondern der Gegenſtand iſt für ſich ſelbſt vernünftig; hier iſt es der Geiſt in ſeiner Freiheit, die höchſte Spitze der ſelbſtbewußten Vernunft, die ſich Wirklichkeit gibt und als exiſtierende Welt erzeugt; die Wiſſenſchaft hat nur das Geſchüft, dieſe eigene Arbeit der Vernunft der Sache zum Bewußtſein zu bringen.“ II. Das Weſen und die Aufgabe der Geſchichts— philoſophie 1. Der induktive Ausgangspunkt Hegel unterſcheidet drei verſchiedene Arten der Geſchichtsbetrachtung, die er die „urſprüngliche“, die „reflektierende“ und die „philoſo⸗ phiſche“ Geſchichte nennt. Zu den urſprünglichen Geſchichtſchreibern rechnet er Herodot, Thukydides, Kenophon, Cäſar u. a. Sie leben im Geiſt der Be⸗ gebenheiten, die ſie beſchreiben. „Seine (des Hiſtorikers) Bildung und die der Begebenheiten, die er beſchreibt, der Geiſt des Ver⸗ faſſers und der Geiſt der Handlung, die er erzählt, iſt einer und derſelbe. Er hat daher keine Reflexionen anzubringen; denn er lebt in der Sache ſelbſt und iſt noch nicht über ſie hinaus.“ Auch die erdichteten Reden, die z. B. Thukydides dem Perikles in den Mund legt, ſind keine dem Geiſt der Zeit fremde Reflexionen. „In ſolchen Reden ſprechen dieſe Menſchen die Maximen ihres Volkes, ihrer eigenen Perfönlichkeit, das Bewußtſein ihrer politiſchen Verhaͤltniſſe wie ihrer ſittlichen und geiſtigen Natur, die Grundſätze ihrer Zwecke und Handlungsweiſen aus. Was der Geſchichtſchreiber ſie ſprechen läßt, iſt nicht ein geliehenes Bewußtſein, ſondern der Sprechenden eigene Bildung.“! Die reflektierende Geſchichtſchreibung iſt dadurch gekennzeichnet, daß der Geiſt des Autors ein anderer iſt als der Geiſt des In⸗ halts.? Es fehlt dieſer Gattung von Hiſtorie der „Charakter des SE L, 1, 167 ff. B, 33ff. L., I, ızı=B, 36f. 32 Das Weſen und die Aufgabe der Geſchichtsphiloſophie Dabeigeweſenſeins“.) Je nach den Prinzipien und Zwecken, mit denen der Hiſtoriker an den geſchichtlichen Stoff herantritt, gibt es ver⸗ ſchiedene und nicht gleichwertige Arten feiner Bearbeitung: die all⸗ gemeine Geſchichte, welche lange Perioden der Geſchichte eines Volkes, eines Landes oder die ganze Weltgeſchichte überſchauen will; die pragmatiſche Geſchichte, die den Urſachen und Grün⸗ den für das Geſchehene nachſpürend den Zuſammenhang der Be: gebenheiten und die Verkettung der Umſtände im Auge hat; die kritiſche Geſchichte, der es um die Unterſuchung und Beurtei⸗ lung der geſchichtlichen Überlieferung auf ihre Wahrheit und Glaub⸗ würdigkeit zu tun iſt; die Spezialgeſchichte, die einen be— ſtimmten Geſichtspunkt wie Kunſt, Religion, Wiſſenſchaft, Recht oder Verfaſſung aus dem allgemeinen Zuſammenhang hervortreten läßt.“ Von der Geſchichtſchreibung, ihren Gattungen und Arten, im engeren Sinne iſt nun wohl zu unterſcheiden die „philoſophiſche“ Geſchichte, mit der ſich eine beſondere Problematik auftut. „Daß es eine Philoſophie der Weltgeſchichte iſt, die wir betrachten, daß wir die Geſchichte philoſophiſch behandeln wollen, dies iſt es, was gleich bei dem Titel dieſer Vorleſungen auffallen kann und was wohl einer Erläuterung oder wohl vielmehr einer Recht⸗ fertigung zu bedürfen ſcheinen muß,’ Hegel verſchmäht den induktiven Ausgangspunkt, der zur Not⸗ wendigkeit der geſchichtsphiloſophiſchen Denkweiſe hinleitet. Er be— ginnt gleich damit, den Begriff der Geſchichtsphiloſophie zu ent⸗ wickeln und ihn auf feine Eonftitutiven Faktoren zu unterſuchen.“ Dieſes Verfahren betrifft jedoch nur die Form und Weiſe der Dar— ſtellung. Inhaltlich hat Hegel über „die nächſte Anſicht der Ge— ſchichte“, „wie ſie uns unmittelbar vor Augen kommt“,? alſo noch nicht, wie ſie der geſchichtsphiloſophiſchen Betrachtung erſcheint, , I, 171. J., I, 17077 B, 36-41; L, 1,2, LM, I, 1. L M. I, 58 = BB, 56, LM, I, 56 B, 55. Der induktive Ausgangspunkt 33 Setze von großartiger Wucht und hinreißender Ergriffenheit ges formt. Sie mögen, in beiden Ausgaben faſt gleichlautend, hier zu Beginn ſtehen, weil ſie am beſten die geſchichtsphiloſophiſche Frage⸗ ſtellung vorbereiten. „Wir ſehen ein ungeheures Gemaͤlde von Be⸗ gebenheiten und Taten, von unendlich mannigfaltigen Geſtaltungen der Volker, Staaten, Individuen, in raſtloſer Aufeinanderfolge. Alles, was in das Gemüt des Menſchen eintreten und ihn in⸗ tereſſieren kann, alle Empfindung des Guten, Schönen, Großen wird in Anſpruch genommen, allenthalben werden Zwecke gefaßt, betrieben, die wir anerkennen, deren Ausführung wir wünſchen; wir hoffen und fürchten für ſie. In allen dieſen Begebenheiten und Zu⸗ fällen ſehen wir menſchliches Tun und Leiden obenauf, überall Unſriges und darum überall Neigung unſres Intereſſes dafür und dawider. Bald zieht uns Schönheit, Freiheit und Reichtum an, bald reizt Energie, wodurch ſelbſt das Laſter ſich bedeutend zu machen weiß. Bald ſehen wir die umfaſſendere Maſſe eines allge⸗ meinen Intereſſes ſich ſchwerer fortbewegen und, indem ſie einer unendlichen Komplexion kleiner Verhältniſſe preisgegeben wird, zer⸗ ftäuben, dann aus ungeheurem Aufgebot von Kräften Kleines ber vorgebracht werden, aus unbedeutend Scheinendem Ungeheures her⸗ vorgehen, — überall das bunteſte Gedränge, das uns in ſein In⸗ tereſſe hineinzieht, und wenn das eine entflieht, tritt das andre ſogleich an ſeine Stelle. Die negative Seite an dieſem Gedanken der Veränderung weckt unſere Trauer.“ Was uns niederdrücken kann, iſt dies, daß die reichſte Geſtaltung, das ſchönſie Leben in der Geſchichte den Untergang finden, daß wir da unter Trümmern des Vortrefflichen wandeln. Von dem Edelſten, Schöniten, für das wir uns intereſſieren, reißt uns die Geſchichte los: die Leidenſchaften haben es zugrunde gerichtet: es iſt vergänglich. Alles ſcheint zu vergehen, nichts zu bleiben. Jeder Reiſende hat dieſe Melancholie empfunden.“ Wer hätte unter den Ruinen von Karthago, Palmpra, of. - B, 117. [, I, 11. tee ſe, Geſchichtorbiloſorbie Hegels 3 34 Das Weſen und die Aufgabe der Geſchichtsphiloſophie Perſepolis, Rom geſtanden, ohne zu Betrachtungen über die Ver⸗ gänglichkeit der Reiche und Menſchen, zur Trauer über ein ehe— maliges, kraftvolles und reiches Leben veranlaßt zu werden? Zu einer Trauer, die nicht wie am Grabe lieber Menſchen bei perſön⸗ lichen Verluſten und der Vergänglichkeit der eigenen Zwecke verweilt, ſondern unintereſſierte Trauer iſt über den Untergang glänzenden und gebildeten Menſchenlebens.“ 10 Zu den unmittelbaren und näch⸗ ſten Eindrücken der Geſchichte rechnet Hegel vor allem die „Natur⸗ gewalt der Leidenſchaft“, mit der die Individuen der Befriedigung ihrer ſelbſtſüchtigen Bedürfniſſe und partikulären Zwecke, der Schran⸗ ken des Rechts und der Moralität nichtachtend, hingegeben ſind, und die dem Menſchen näher liegt als die künſtliche und langwierige Zucht zur Ordnung und Mäßigung. „Wenn wir dieſes Schauſpiel der Leidenſchaften betrachten und die Folgen ihrer Gewalttätigkeit, des Unverſtandes, der ſich nicht nur zu ihnen, ſondern ſelbſt auch und ſogar vornehmlich zu dem, was gute Abſichten, rechtliche Zwecke ſind, geſellt, in der Geſchichte uns vor Augen halten, das Übel, das Böſe, den Untergang der blühendſten Reiche, die der Menſchengeiſt hervorgebracht hat, wenn wir auf die Individuen mit tiefſtem Mit⸗ leid ihres namenloſen Jammers blicken, ſo können wir nur mit Trauer über dieſe Vergänglichkeit überhaupt, und indem dieſes Un⸗ tergehen nicht nur ein Werk der Natur, ſondern des Willens der Menſchen iſt, noch mehr mit moraliſcher Trauer, mit der Empörung des guten Geiſtes, wenn ein ſolcher in uns iſt, über ſolches Schau⸗ ſpiel enden. Man kann jene Erfolge ohne redneriſche Übertreibung, bloß mit richtiger Zuſammenſtellung des Unglücks, das das Herr⸗ lichſte an Völker- und Staatengeſtaltungen wie an Privattugenden oder Unſchuld wenigſtens erlitten hat, zu dem furchtbarſten Gemälde erheben und ebenſo damit die Empfindung zur tiefſten, ratloſeſten Trauer ſteigern, welcher kein verſöhnendes Reſultat das Gegen⸗ gewicht hält, und gegen die wir uns etwa dadurch befeſtigen oder en , 11. 1 er 2 * Die geſchichts philoſophiſche Frageſtellung 35 daraus heraustreten, daß wir denken: es iſt ebenſo geweſen, ein Schickſal; es iſt nichts daran zu ändern, und dann, daß wir aus der Langeweile, welche uns jene Reflexion der Trauer machen kann, zurück in unſer Lebensgefühl, in die Gegenwart unſerer Zwecke und Intereſſen, welche nicht eine Trauer über Vergangenheit, ſon⸗ dern unſere Wirkſamkeit fordert, — auch in die Selbſtſucht zurück⸗ treten, welche am ruhigern Ufer ſteht und von da aus ſicher des fernen Anblicks der verworrenen Trümmermaſſe genießt.“ 11 Die Geſchichte ſo in ihrer Unmittelbarkeit ſehen, heißt, ſie mit der „Kategorie der Veränderung“ auffaſſen.!? y 2. Die geſchichtsphiloſophiſche Frageſtellung An dieſem Punkte entſpringt die Frage, die die Hiſtorie aufgibt, die ſie aber ſelbſt nicht löſen kann. „Indem wir die Geſchichte als dieſe Schlachtbank betrachten, auf welcher das Glück der Völker, die Weisheit der Staaten und die Tugend der Individuen zum Opfer gebracht worden, ſo entſteht dem Gedanken notwendig die Frage, wem, welchem Endzweck dieſe ungeheuerſten Opfer gebracht worden ſind.“ 18 Der Frage nach dem ſchließlichen Endzweck des in ſeinen einzelnen Geſtaltungen und beſonderen Zwecken dem Unter⸗ gang geweihten geſchichtlichen Geſamtverlaufs kann die denkende Betrachtung nicht ausweichen. „Dieſer ungeheuren Aufopferung gei⸗ ſtigen Inhaltes muß ein Endzweck zugrunde liegen. Die Frage drängt ſich uns auf, ob hinter dem Lärmen dieſer lauten Oberfläche nicht ein inneres, ſtilles, geheimes Werk ſei, worin die Kraft aller Er⸗ ſcheinungen aufbewahrt werde.“ 11 Indem das Denken mit dieſer Frage nach dem letzten Sinn an die Geſchichte herantritt und ſie auf die Bedingungen ihrer Lösbarkeit hin unterſucht, wird es ge⸗ ſchichtsphiloſophiſch. Und ſo ſagt Hegel geradezu: „Die Philoſophie der Geſchichte iſt nichts anderes als die denkende Betrachtung , . - , 5f. [, , 10 B, 1% LN I, 38 — B, 56 1, I, 12. 30 36 Das Weſen und die Aufgabe der Geſchichtsphiloſophie derſelben“. 15 Das geſchichtsphiloſophiſche Denken iſt ſchlechthin teleologiſch. Die Geſchichte auf einen „abſoluten Endzweck“ hin unterſuchen, dem ſich alle Einzelzwecke unterordnen, heißt, ſie der Vernunft unterwerfen. Sinn und Zweck in der Geſchichte ſehen, heißt, Vernunft in ihr ſehen. Mit der philoſophiſchen Behandlung der Geſchichte tritt an die Stelle der Kategorie der bloßen Ver⸗ änderung die „Kategorie der Vernunft“. 16 Geſchichtsphiloſophie iſt entweder überhaupt nicht, oder, wenn fie iſt, iſt fie am Zweck⸗ gedanken orientiert. Das hat Hegel, nachdem ihm Leſſing !, Kant! und Schelling hierin ſchon vorgearbeitet hatten, un: widerruflich feſtgeſtellt.?“ Auch Hegels Antipode Oswald Speng— ler, für den alle Geſchichte „Schickſal“, nicht wie für Hegel Schickung iſt, bildet keine Ausnahme. Die „erhabene Zweckloſigkeit“ aller Kulturen, der er das Wort redet, ift doch nur das negative Reſultat der Zweckbetrachtung, deren Gültigkeit alſo im Anſatz wenigſtens vorausgeſetzt wird. Es iſt die geſchichtsphiloſo— phiſche Kardinalfrage, ob und wieweit der Zweckgedanke durchführbar und wie alsdann der Zweck, der aus der „verworrenen Trümmermaſſe“ das anfänglichen Eindrucks einen leidlich ſinnvollen Zuſammenhang rekonſtruiert, inhaltlich zu beſtimmen iſt. A. Die axiomatiſche Vorausſetzung alles Philoſophierens iſt der Glaube 16 L M, I, 1 = B, 41. ½ L, I, 12. „ Die Erziehung des Menſchengeſchlechts, 177780. 1 Idee zu einer allgemeinen Geſchichte in weltbürgerlicher Abſicht, Berliniſche Monatsſchrift 1784. Syſtem des tranſzendentalen Idealismus, 1800. Werke a. a. O. II, S. 261278. 20 Jakob Burckhardt, Weltgeſchichtliche Betrachtungen 21910, S. 2ff., lehnt gegen Hegel polemiſierend die Geſchichts⸗ philoſophie nachdrücklich ab, weil er aus der Geſchichte den Zweck- und Entwick⸗ lungsgedanken eliminiert wiſſen will. Er begnügt ſich daher mit einer Phä nomenologie des ſich Wiederholenden, Konſtanten, Typiſchen und nimmt ſeinen Ausgangspunkt „vom duldenden, ſtrebenden und handelnden Menſchen, wie er iſt und war und immer ſein wird“. Übrigens hat er Hegel mißverſtanden, wenn er ihm vorwirft, daß der Gedanke, daß Vernunft die Welt beherrſche, „erſt zu beweiſen und nicht, mitzubringen“ ſei. Siehe das Folgende.“ Der Untergang des Abendlandes. Umriſſe einer Morphologie der Weltgeſchichte, 11920, I, S. 29. Die geſchichts philoſophiſche Frageſtellung 37 an die Vernunft und der Mut zur Wahrheit. „Der Mut der Wahr⸗ heit, Glauben an die Macht des Geiſtes, iſt die erſte Bedingung des philoſophiſchen Studiums; der Menſch ſoll ſich ſelbſt ehren und ſich des Höchſten würdig achten. Von der Größe und Macht des Geiſtes kann er nicht groß genug denken. Das verſchloſſene Weſen des Uni⸗ rei verſums hat keine Kraft in fich, welche dem Mute des Erkennens Widerſtand leiſten konnte: es muß ſich vor ihm auftun und feinen Reichtum und ſeine Tiefen ihm vor Augen legen und zum Genuſſe bringen.“ 2 Mit demſelben Imperativ muß man an die Philoſophie der Weltgeſchichte herantreten: glaube an die Vernunft! ? „Dieſer allgemeine Glaube iſt es, aus dem man zunächſt zur Philoſophie der Weltgeſchichte treten muß, der Glaube, daß die Weltgeſchichte ein Produkt der ewigen Vernunft iſt und Vernunft ihre großen Revo⸗ lutionen beſtimmt hat.“ 2 „Den Glauben und Gedanken muß man zur Geſchichte bringen, daß die Welt des Wollens nicht dem Zu⸗ fall anheimgegeben iſt. Daß in den Begebenheiten der Völker ein letzter Zweck das Herrſchende, daß Vernunft in der Weltgeſchichte iſt, — nicht die Vernunft eines beſondern Subjekts, ſondern die aöttliche, abſolute Vernunft, — iſt eine Wahrheit, die wir voraus⸗ ſetzen.“ 25 Allein, bei dem bloßen Glauben und der bloßen Voraus⸗ ſetzung darf es nicht bleiben. Der Mut des Erkennens iſt eine Anti⸗ Fzipation, die fich erſt noch bewähren muß, um ihrer ſelbſt völlig ſicher zu fein. Der Glaube an die Macht der Vernunft in der Ges ſchichte allen Zufälligkeiten und Sinnloſigkeiten im einzelnen zum 2 Trotz muß aus einer Vorausſetzung zum bewährten „Reſultat“ n Segels Anrede an feine Zuhörer bei Eröffnung feiner Vorleſungen in Berlin am 22. Oltobet 1818. Enzyklopädie a. a. O. S. LXXVI. * LM, 1,6.15=B, ., 1, 23 »» L, I, 5; B, 43: „Wenn man nämlich nicht den Ge: danken, die Erkenntnis der Vernunft, ſchon mit zur Weltgeſchichte bringt, jo ſollte man wenigſtens den feſten, unüberwindlichen Glauben haben, daß Vernunft in derſelben iſt, und auch den, daß die Welt der Intelligenz und des ſelbbewußten Wollens nicht dem Zufall anheimgegeben ſei, ſondern im Lichte der ſich wiſſenden Idee ſich zeigen müſſe. 38 Das Weſen und die Aufgabe der Geſchichtsphiloſophie werden, das aus der Geſchichte ſelber hervorgeht. „Es hat ſich alſo erſt und es wird ſich aus der Betrachtung der Weltgeſchichte ſelbſt ergeben, daß es vernünftig in ihr zugegangen, daß ſie der vernünf⸗ tige, notwendige Gang des Weltgeiſtes geweſen ſei, der die Sub⸗ ſtanz der Geſchichte iſt ... Dies muß wie geſagt das Ergebnis der Geſchichte ſelbſt ſein.“ 2s Der „Beweis“ der erſt nur vorausgeſetzten Wahrheit iſt die Abhandlung der Weltgeſchichte felbft.27 Daß in dieſer Argumentation ein Zirkel liegt, bedarf keines beſonderen Nach⸗ weiſes. Ohne den Glauben an die Vernunft iſt in die Philoſophie der Geſchichte nicht hineinzukommen und gleichzeitig ſoll dieſe den Beweis für die Richtigkeit einer Vorausſetzung erbringen, die ſie überhaupt erſt möglich macht. An einen Beweis im ſtrengen Sinn des Wortes hat Hegel aber auch nicht gedacht. „In der Welt⸗ geſchichte er weiſt fie (die Vernunft) ſich nur. Die Weltgeſchichte iſt nur die Erſcheinung dieſer einen Vernunft, eine der beſonderen Geſtalten, in denen fie ſich offenbart.“ 2s Wie die „Idee“ ſich im Raume als Natur auslegt, ſo iſt die Weltgeſchichte ihre Auslegung in der Zeit.? Wenn Hegel alſo ſagt: „Der einzige Gedanke, den fie (die Philoſophie) mitbringt, iſt ... der einfache Gedanke der Vernunft, daß die Vernunft die Welt beherrſcht, daß es alſo auch in der Weltgeſchichte vernünftig zugegangen iſt“ 30, — fo handelt es ſich in dem Beweiſe, der dieſe Vorausſetzung zum Reſultat erhebt, um nichts mehr und nichts weniger als um die Verifizierung einer Intuition an dem empiriſchen Stoff der Ge— ſchicht e.! Damit erhebt ſich das von Hegel ſorgfältig ventilierte Problem: wie verhält ſich das geſchichtsphiloſophiſche Apriori zur Empirie der Geſchichte? 26 L. M, I, 6f. 158. 65 = B, 43 f. 46. 61. 7 L, I, 5. 12/13. 5 L, I, 6. % 1, 1, 134 = B, 117. * L M, I, 4 = B, 42. 1 Daß der durch die Vernunft erfaßbare „Endzweck der Welt“ nicht deduzierbar iſt, ſondern auf einer Intuition beruht, deutet Hegel ſelber an, wenn er von ihm ſagt: „Dieſer iſt ein Inhalt, der Zeugnis von ſich ſelber gibt und in ſich ſelbſt trägt und in dem alles, was der Menſch zu ſeinem Intereſſe machen kann, ſeinen Halt hat.“ L, I, 3. Sperrung vom Verf. d Das Apriori und die Empitie 39 3. Das Apriori und die Empirie Es kann nun gar keine Rede davon fein, als ob Hegels Geſchichts⸗ philoſophie von vornherein darauf ausginge, die Tatſachen der Ge⸗ ſchichte a priori zu konſtruieren, ſie mit dem diktatoriſchen Macht⸗ anſpruch der Vernunft einfach zu vergewaltigen. Das mag, trotzdem Hegel ſelber eine ſolche Unterſtellung auf das beſtimmteſte ablehnt, bis zu einem gewiſſen Grade dennoch wirklich der Fall ſein. Die Maͤngel ſind aber dann nicht in einer grundſätzlich falſchen ge⸗ ſchichtsphiloſophiſchen Problemſtellung begründet, ſondern eine un⸗ ausbleibliche Folge der enormen Schwierigkeit der zu löſenden Auf⸗ gabe: eine Intuition zu bewähren an einem niemals abgeſchloſſenen und reſtlos überſehbaren Stoff. Die Vergewaltigung der Tatſachen iſt nicht eine beſondere Eigentümlichkeit gerade Hegels, ſondern mehr oder minder das unausweichliche Schickſal jeder geſchichtsphiloſo⸗ phiſchen Durchdringung der geſchichtlichen Empirie, ja, wir können ſagen, jeder begrifflichen Durchdringung der Empirie überhaupt. Was z. B. den Geſchichtsphiloſophen Spengler von dem Ge⸗ ſchichtsphiloſophen Hegel unterſcheidet, iſt doch keineswegs der Umſtand, daß jener den Tatſachen keine oder weniger Gewalt an⸗ tue als dieſer, ſondern die grundlegend andersartige Intuition, die ihre zwingende Kraft jedesmal nur der ſynthetiſchen Energie ver⸗ dankt, mit der ſie durchführbar iſt. Hegel war nicht der Verächter der Empirie, als der er lange Zeit verſchrieen ward. Ein „Polyhiſtor“ verfügte er gleich Ariſtoteles über den geſamten Wiſſensſtoff ſeiner Zeit.“? So iſt auch eine Geſchichtsphiloſophie, die achtlos mit dem Bol. hierzu beſonders M. Kronenberg a. a. O. S. 677 f. 679f. und W. Bin: delband, Die Geſchichte der neueren Philoſophie 190%, II, S. 323. „Auf dieſe Weiſe legte Hegel frühzeitig bereits die breite Grundlage empitiſchen Wiſſens zu feinem großen Ideenbau, und er hat auch nachher ebenſowenig aufgehört, jene Grundlage immerfort zu erweitern, wie die tragenden Ideen ſelbſt zu vertiefen. So ift Hegel eines der größten Genies philoſophiſcher Konſtruktions kraft und Syſtembildung, zugleich einer der größten Empiriker geworden, ein Polnhifter 40 Das Weſen und die Aufgabe der Geſchichts philoſophie hiſtoriſchen Tatſachenmaterial umginge, für ihn undenkbar. „Die Geſchichte hat nur das rein aufzufaſſen, was iſt, die Begebenheiten und Taten. Sie iſt um ſo wahrer, je mehr ſie ſich nur an das Ge⸗ gebene hält und — indem dies zwar nicht ſo unmittelbar darliegt, ſondern mannigfaltige, auch mit Denken verbundene Forſchungen erfordert — je mehr ſie dabei nur das Geſchehene zum Zwecke hat.“ „Die Geſchichte ... haben wir zu nehmen, wie ſie iſt; wir haben hiſtoriſch, empiriſch zu verfahren.“ ss In der Empirie ſteckt aber bereits, wie Kant dies zeigte, ein begriffliches Moment. Des⸗ halb fährt Hegel fort: „als die erſte Bedingung konnten wir ſomit ausſprechen, daß wir das Hiſtoriſche getreu auffaſſenz allein in ſolchen allgemeinen Ausdrücken wie treu und auffaſſen liegt die Zweideutigkeit. Auch der gewöhnliche und mittelmäßige Ge⸗ ſchichtſchreiber, der etwa meint und vorgibt, er verhalte ſich nur aufnehmend, nur dem Gegebenen ſich hingebend, iſt nicht paſſiv mit von dem erſtaunlichſten Umfange des Wiſſens — darin nur mit Ariſtoteles etwa zu vergleichen, obwohl er auch dieſen noch um ebenſoviel übertrifft, wie Umfang und Tiefe der modernen Bildung die der Alten. Dieſe umfaſſende Empirie iſt bei Hegel nun von vornherein ausgezeichnet dadurch, daß ſie ganz in den Dienſt der genialen Intuition geftellt iſt.“ Kronenberg S. 678. „Die Vorausſetzung für die Durchführung der dialekitſchen Methode war die koloſſale Polyhiſtorie, welche Hegel in der Tat beſaß. Sie bezog ſich zwar auch auf die Naturwiſſenſchaften, aber in eminentem Sinne auf das hiſtoriſche Wiſſen, und ſie beſchränkt ſich in dieſer Richtung nicht auf die Maſſenhaftigkeit der gelehrten Kenntniſſe, ſondern ſie zeigt ſich vor allem in der außerordentlichen Feinfühligkeit, womit Hegel das Weſen der hiſtoriſchen Erſcheinungen auf allen Gebieten des menſchlichen Lebens zu durchdringen vermochte.“ Windelband S. 323. Johann Plenge, Marx und Hegel 1911, ©, 36f., nennt Hegel einen „Empiriker von überwältigender Größe“. ® LM, I, 3. 7 B, 42. 44. Vgl. hierzu L. v. Rankes Programm der Geſchicht⸗ ſchreibung: „Man hat der Hiſtorie das Amt, die Vergangenheit zu richten, die Mit⸗ welt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren, beigemeſſen: ſo hoher Amter unterwindet ſich gegenwärtiger Verſuch nicht: er will bloß zeigen, wie es eigentlich geweſen. Woher aber konnte das neuerforſcht werden? Die Grundlage vorliegender Schrift ... find Memoiren, Tagebücher, Briefe, Ge: ſandtſchaftsberichte.“ Geſchichte der romaniſchen und germaniſchen Völker uſw. 1824 (G. W. 33/34, S. VII). Das Aprisri und die Empirie 4 feinem Denken; er bringt feine Kategorien mit und ſieht durch ſie das Vorhandene. Das Wahrhafte liegt nicht auf der ſinnlichen Oberfläche; bei allem insbeſondere, was wiſſenſchaftlich ſein ſoll, darf die Vernunft nicht ſchlafen und muß Nachdenken an⸗ gewendet werden “. 24 Die wiſſenſchaftliche Bearbeitung des „in der Geſchichte vorliegenden faktiſchen Details“ iſt alſo eine Funktion des Denkens. Die Hingabe an den Stoff und der ihn durchwaltende Begriff tragen und ſtützen ſich gegenſeitig und begründen erſt in ihrer Gemeinſamkeit die geſchichtsphiloſophiſche Erkenntnis. Hegel erläutert dieſen Sachverhalt an dem Beiſpiel Kepler s. „Man muß mit dem Kreiſe deſſen, worin die Prinzipien fallen, wenn man es ſo nennen will, a priori vertraut ſein, ſo gut als, um den größten Mann in dieſer Erkennungsweiſe zu nennen, Kepler mit den Ellipfen, mit Kuben und Quadranten und mit den Gedanken von Verhältniſſen derſelben a priori, ſchon vorher bekannt fein mußte, ehe er aus den empiriſchen Daten feine unſterblichen Geſetze, welche in Beſtimmungen aus jenem Kreiſe von Vorſtellungen be⸗ ſtehen, erfinden konnte. Derjenige, der in dieſen Kenntniſſen der allgemeinen Elementarbeſtimmungen unwiſſend iſt, kann jene Ge⸗ ſetze, und wenn er den Himmel und die Bewegungen ſeiner Geſtirne noch ſo lange anfchaute, ebenſowenig verſtehen, als er fie hätte er⸗ finden konnen.“ 35 Aus dieſer Überlegung folgt nun keineswegs, daß in den geſchichtlichen Stoff ihm fremdartige, „einſeitige Reflexionen“ und „ſubjektive Anſichten“ hineingetragen werden dürften. „Denn die verunſtalten die Geſchichte.“ 8 Nur bei einem Höchſtmaß fach licher und ſelbſtverleugnender Hingabe an das Objekt iſt es möglich, das die Geſchichte durchwaltende Apriori der Vernunft heraus⸗ zuſehen. Dazu gehört aber auch ein geübtes Auge, das wie das Auge Keplers der Aufgabe gewachſen iſt, „keine phyſiſchen Augen, „% LM, I, 7 = B, 44. Die drei letzten Sperrungen vom Verf. ® LM, I, 149 f. = B, 107f. Sperrung vom Verf. ., I, 5. 8; Enzyklopädie a. a. O. 18, S. 457f. . 42 Das Weſen und die Aufgabe der Geſchichtsphiloſophie kein endlicher Verſtand, ſondern das Auge des Begriffs, der Ver— nunft, das die Oberfläche durchdringt und ſich durch die Mannig⸗ faltigkeit des bunten Gewühls der Begebenheiten hindurchringt“. 37 „Wer die Welt vernünftig anſieht, den ſieht ſie auch vernünftig an; beides iſt in Wechſelbeſtimmung.“ ss Die Aufgabe der Ges ſchichtsphiloſophie darf erſt dann als gelöſt gelten, wenn „das Ge⸗ ſchehene ſich dem Begriffe einfügt“, oder wenn, wie Hegel auch ſagt, „das Verhältnis von dem Gedanken und vom Geſchehenen“ in das „richtige Licht“ geſtellt worden ift. 39 Die Kategorie der Vernunft, die es mit dem Endzweck der Ge⸗ ſchichte zu tun hat, der an dieſer ſelbſt erſt zu bewähren iſt, ermög⸗ licht die weitere Aufgabe der Geſchichtsphiloſophie, den geſchichtlichen Stoff zu ordnen nach den Geſichtspunkten des Weſentlichen und Unweſentlichen, des Wichtigen und Unwichtigen, alſo die geſchichtsphiloſophiſch bedeutſame Struktur des Geſchichtsverlaufs in dieſen einzuzeichnen. Der Gedanke des Zwecks iſt die Norm, an der Wert und Bedeutung der geſchichtlichen Vorgänge gemeſſen wer⸗ den können, die mithin auch alles das ausſcheidet, was nicht als das „wahrhaft Weſentliche“ dem Endzweck ſubſumiert werden kann. “0 „Das Weſentliche an der Weltgeſchichte wollen wir auf dieſe Weiſe betrachten mit Übergehung des Unweſentlichen. Der Ver: ſtand hebt das Wichtige und an ſich Bedeutende hervor. Das Weſent— liche und Unweſentliche beſtimmt er ſich nach dem Zwecke, den er bei Behandlung der Geſchichte verfolgt. Dieſe Zwecke können von der größten Mannigfaltigkeit ſein. Sogleich beim Aufſtellen eines Zwecks tun ſich mehr Berückſichtigungen kund; es gibt da Haupt⸗ und Nebenzwecke. Wenn wir dann das in der Geſchichte Gegebene mit den Zwecken des Geiſtes vergleichen, ſo werden wir auf das alles verzichten, was ſonſt intereſſant iſt, und an das Weſentliche uns halten. So bietet ſich der Vernunft ein Inhalt dar, der nicht L, I, 8. LM, I, 7 ⸗ B, 4. I, I, 2. 3. 8. „ L M, I, 10. 10 8 44. 108. Das Apriori und die Empirie 43 einfach auf derſelben Linie ſteht mit dem, was ſich überhaupt zu⸗ getragen hat.“ 41 Geſchichtsphiloſophie iſt Wertphiloſophie! Die Kate⸗ gorie der Vernunft beſtimmt den Begriff des Wertes. Was iſt nach Hegel im geſchichtlichen Daſein der Menſchheit wertvoll? Wertvoll iſt das, was vernünftig iſt, was ſich als Beſonderes dem Allgemeinen ein⸗ und unterordnet, was in förderlicher Beziehung auf den Endzweck ſteht. „Das Vernünftige iſt das an und für ſich Seiende, wodurch alles ſeinen Wert hat.“ 2 Wie den Begriff des Wertes ſo beſtimmt die Kategorie der Ver⸗ nunft auch den Begriff der Wirklichkeit. Wirklich iſt in der Geſchichte keineswegs alles, was je nur immer ſich zugetragen hat. Die „Wirklichkeit“ iſt wie der wertvolle Inhalt eine Ausleſe, die die Vernunft erſt ſchafft. Dem Begriff der Wirklichkeit hat die Philoſophie Hegels beſondere Aufmerkſamkeit zugewandt. „Eine finnige Betrachtung der Welt unterſcheidet ſchon, was von dem weiten Reiche des äußeren und inneren Daſeins nur Erſchei⸗ nung, vorübergehend und bedeutungslos iſt, und was in ſich wahr⸗ haft den Namen der Wirklichkeit verdient.“ Das Daſein iſt zum Teil Erſcheinung und nur zum Teil Wirklichkeit. Unter Er⸗ ſcheinung verſteht Hegel das vorübergehende und bedeutungsloſe Da⸗ ſein, die äußerliche Zufälligkeit, die weſenloſe Meinung, den Ein⸗ fall, die Unwahrheit, den Irrtum, das Böſe.““ Hegel verſteht alſo unter Erſcheinung etwas gänzlich anderes als Kant. Für Hegel iſt die Welt der Erſcheinung die Welt des Scheins, die nicht „den emphatiſchen Namen eines Wirklichen verdient“. 1 Für Kant iſt fie umgekehrt in eminentem Sinne wirklich, weil Begriff und Geſetz in ihr walten. Der Gegenſatz zwiſchen Kant und Hegel iſt aber 4 L, I, f. „ L., I, 3. „ Enzyklopädie d. a. O. 6, S. 36f.; Nechtephilo⸗ ſophie a. a. O. ft, S. 21. Hegel hat dieſen Begriff der Erſcheinung nicht immer feſtgehalten. Sehr häufig verſteht er unter Erſcheinung ! die Exiſtenz der Idee. Alsdann iſt ihm die Erſcheinung gleichbedeutend mit „Wirklichleit“. Der Sinn, den Hegel mit dem Wort Erſcheinung verbindet, iſt immer nut aus dem jeweiligen Zuſammenhang zu erſchließen. “ Enzyklopädie a. a. O. 44 Das Weſen und die Aufgabe der Geſchichtsphiloſophie nur ein ſolcher der Ausdrucksweiſe. Kants Welt der Erſcheinung fällt ſachlich durchaus unter Hegels Begriff der Wirklichkeit. Wir können im Sinne Hegels ſagen: die Wirklichkeit iſt das vernünftige und die Erſcheinung ( Schein) iſt das ſchlechthin zufällige Das ſein. Vernünftig iſt aber nur dasjenige Daſein, was teilhat am Allgemeinen, alſo der Iſoliertheit und Vereinzelung entnommen iſt. Und ſo definiert Hegel das Wirkliche: „Wirklichkeit iſt immer Ein⸗ heit der Allgemeinheit und Beſonderheit, das Auseinandergelegtſein der Allgemeinheit in die Beſonderheit, die als eine ſelbſtändige er— ſcheint, obgleich ſie nur im ganzen getragen und gehalten wird. Inſofern dieſe Einheit nicht vorhanden iſt, iſt etwas nicht wir k⸗ lich, wenn auch Exiſtenz angenommen werden dürfte“. Dieſe Exiſtenz iſt eben dann nur Erſcheinung, nicht Wirklichkeit. Ein ſchlechter Staat, ein kranker Körper, eine abgehauene Hand exiſtieren zwar, haben aber „keine wahrhafte Realität“, da ihnen das orga⸗ niſche Verhältnis jener Einheit abgeht, die die Einheit des Allge— meinen und Beſonderen iſt. “D Wird Hegels Unterſcheidung zwiſchen Exiſtenz, Wirklichkeit und Erſcheinung nicht beachtet, ſo wird auch ſein berühmter Satz: „was vernünftig iſt, das iſt wirklich; und was wirklich iſt, das iſt vernünftig” 6 ſtets dem Mißverſtändnis ausgeſetzt ſein, als ob alles Exiſtierende vernünftig wäre. Bei Licht beſehen iſt jener Satz eine Tautologie. Denn die Kategorie der Ver— nunft beſtimmt den Begriff der Wirklichkeit. Hegels Abſicht iſt gar nicht darauf gerichtet, das „weite Reich des äußeren und inneren Daſeins“ einſchließlich jeden baren Unſinns und jeden blöden Eins falls vor dem Forum der Vernunft zu rechtfertigen, ſondern der Auffaſſung entgegenzutreten, „ſowohl daß die Ideen, Ideale weiter nichts als Schimären und die Philoſophie ein Syſtem von ſolchen Hirngeſpinſten ſei, als umgekehrt, daß die Ideen und Ideale etwas viel zu Vortreffliches ſeien, um Wirklichkeit zu haben, oder ebenſo etwas zu Ohn mächtiges, um ſich ſolche zu ver: 15 Rechtsphiloſophie a. a. O. $270, S. 339, % A. a, O. Vorrede, S. 17. Das Apriori und die Empirie 45 ſchaffen “. 47 Die Idee iſt nicht ein Hirngeſpinſt oder ein ohnmäch⸗ tiges Ideal, ſondern fie hat Daſein, Exiſtenz. Das iſt der einzig ‚mögliche Sinn des Satzes, was vernünftig iſt, das iſt wirklich und was wirklich iſt, das iſt vernünftig. Im Begriff des Wirklichen ſteckt der Begriff der Exiſtenz. Daß das Wirkliche — das Vernünf⸗ tige eriftiert, darauf liegt der Nachdruck. Aber der Begriff der Exiſtenz deckt ſich nicht reſtlos mit dem des Wirklichen, da auch das Zufällige und Unvernünftige zwar exiſtieren, aber nicht „wirklich“ find. 8 An dieſem Punkte gewährt Hegel den allerklarſten Einblick in die tiefſten Tendenzen ſeiner Philoſophie, einen Einblick, der auch für das Verſtändnis ſeiner Geſchichtsphiloſophie von höchſter Be⸗ deutung iſt: „Wenn .. die Idee für das gilt, was nur fo eine Idee, eine Vorſtellung in dem Meinen iſt, ſo gewährt hingegen die Philoſophie die Einſicht, daß nichts wirklich iſt als die Idee. Darauf kommt es dann an, in dem Scheine des Zeit⸗ lichen und Vorübergehenden die Subſtanz, die im: manent, und das Ewige, das gegenwärtig iſt, zu erkennen. Denn das Vernünftige, was ſynonym iſt mit der Idee, indem es in feiner Wirklichkeit zugleich in die äußere Exiſtenz tritt, tritt in einem unendlichen Reichtum von Formen, Erſcheinungen und Geſtaltungen hervor, und umzieht ſeinen Kern mit der bunten Rinde, in welcher das Bewußtſein zunächſt hauſt, welche der Begriff erſt durchdringt, um den innern Puls zu finden und ihn ebenſo in den äußern Geſtaltungen noch jchlagend zu fühlen. Die unendlich mannigfaltigen Verhältniſſe aber, die ſich in dieſer Außerlichkeit, durch das Scheinen des Weſens in ſie, bilden, dieſes unendliche Material und ſeine Regulierung, iſt nicht Gegen⸗ * Enzyklopädie a. a. O. $6, S. zy; LM I, 4. B, 42f.; L, I, 53 = B, 73. “L, I, 55: „Das, was ſonſt Wirklichkeit heißt, wird von der Philoſophie als ein Faules betrachtet, das wohl ſcheinen kann, aber nicht an und für ſich wirklich ift.“ B, 74 unterſcheidet von der „Wirklichkeit die „faule Exrifteny“. Vgl. auch C. v. Hartmann a. a. O. II, S. 243. 46 Das Weſen und die Aufgabe der Geſchichtsphiloſophie ſtand der Philoſophie.“ 9 Hegels Philoſophie bezieht ſich auf den „Kern“ der dem Daſein im weiteſten Sinne des Wortes im⸗ manenten Weltvernunft und findet ihre Grenze an der „bunten Rinde“ der Beſonderheiten und des Zufalls, die im Panlogismus nur noch als „Spiel“ 0, aber nicht mehr als Ernſt der Idee ver⸗ ſtändlich find. So hat es auch die Geſchichtsphiloſophie nur mit der kernhaft vernünftigen Wirklichkeit, aber nicht mit der empiriſchen Totalität alles deſſen zu tun, was ſich je in der Geſchichte zuge⸗ tragen hat. Jene aus dieſer herauszufinden, iſt recht eigentlich ihre Aufgabe. „Sagen wir nun dagegen (d. h. gegen die Auffaſſung, ‚daß die Ideale in der Wirklichkeit nicht realiſiert werden könnten), die allgemeine Vernunft vollführe ſich, ſo iſt es um das empiriſch Einzelne freilich nicht zu tun; denn das kann beſſer und ſchlechter ſein, weil hier der Zufall, die Beſonderheit ihr ungeheures Recht auszuüben vom Begriffe die Macht erhält. Man kann ſich allerdings in Rückſicht auf beſondere Dinge vorſtellen, daß manches in der Welt unrecht ſei. So wäre denn an den Einzelheiten der Erſcheinung vieles zu tadeln.“ 91 Die neue Ausgabe fährt fort: „aber um das empiriſch Beſondere iſt es hier nicht zu tun; das iſt dem Zufall anheimgegeben, und darauf kommt es nicht an“. 52 „Die philoſo⸗ phiſche Betrachtung hat keine andere Abſicht, als das Zufällige zu entfernen.“ 55 Das Empiriſch⸗Einzelne iſt von Hegel nicht unter⸗ ſchätzt worden. Er ſpricht von dem „ungeheuren Recht“ der Beſon⸗ derheit. Nur gehört das Individuelle und Einzelne dem Felde der poſitiven Wiſſenſchaften an, zu denen Hegel ausdrücklich bie Geſchichtswiſſenſchaft rechnet. „Auch die Geſchichte gehört hierher, inſofern die Idee ihr Weſen, deren Erſcheinung aber in der Zu⸗ e Rechtsphiloſophie a. a. O. Vorrede, S. 17. Sperrung vom Verf. ' Enzyklo⸗ pädie a. a. O. $ 16, S. 49; 9248, S. 208. 51 L, I, 53 f. = B, 73. 52 L, I, 34. 9 L, I, 5; vgl. Rechtsphiloſophie a. a. O. $ 324, S. 410: „Wie überhaupt der Begriff und die Philoſophie den Geſichtspunkt der bloßen Zufälligkeit verſchwin⸗ den macht und in ihr, als dem Schein, ihr Weſen, die Notwendigkeit, erkennt.“ Das Problem der Theodizee 47 faͤlligkeit und im Felde der Willkür iſt.““! Der Geſchichtsphi⸗ loſoph Hegel hat „dem Reize entſagen müſſen, das Glück, die Perioden der Blüte der Völker, die Schönheit und Größe der In⸗ dividuen, das Intereſſe ihres Schickſals in Leid und Freud näher zu ſchildern. Die Philoſophie hat es nur mit dem Glanze der Idee zu tun, die ſich in der Weltgeſchichte ſpiegelt“.““ Hegel war ſich voll⸗ kommen klar darüber, daß der Hiſtoriker und noch mehr der Ver⸗ faſſer hiſtoriſcher Romane am Individuellen, an der „partikulären Lebendigkeit“ und den „ſubjektiven Leidenſchaften“, in anderem Maße intereſſiert iſt, als der Geſchichtsphiloſoph.“s Deſſen Aufgabe iſt vielmehr, zu zeigen, daß in dem geſamten Bereich der Geſchichte „nur das Wirklichkeit hat, was der Idee gemäß iſt“, und damit den „Schein“ zu zerſtören, „als ob die Welt ein verrücktes, törichtes Geſchehen jei. 7 Die Geſchichte philoſophiſch behandeln, heißt alſo, die Kategorie der Vernunft auf ſie anwenden und an ihr bewähren. Zweck, Wert und Wirklichkeit ſind nur verſchiedene Geſichtspunkte, unter denen die Kategorie der Vernunft anwendbar iſt. Der Zweck hat ſeinen Gegen⸗ ſatz am Zufall und Sinnwidrigen, der Wert am Bedeutungsloſen, am Unweſentlichen und Unwichtigen, und die Wirklichkeit an der bloßen Exiſtenz. 3 4. Das Problem der Theodizee Mit dieſer Faſſung der Aufgabe der Geſchichtsphiloſophie, „die Wirk⸗ lichkeit der göttlichen Idee zu erkennen und die verſchmähte Wirk⸗ Enzyklopädie a. a. O. f 16, S. 48 f. * L., IV, 938 = B, 563. “ Enzyklopadie a. a. O. 5549, S. 489f.; L M, I, 154 =B, f. L., I, 55 = B, 74. Ein indi⸗ vidualiſtiſches Zeitalter mußte Hegel den Vorwurf machen, daß er das Individuelle der geſchichtlichen Erſcheinungen und Perſoͤnlichkeiten nicht hoch genug eingefhägt habe. Hier verwechſelt man aber die Gefchichtsphilofophie mit der Gefchichtichrei: bung. Im übrigen handelt es ſich um den tiefgreifenden Gegenſatz zweier Denk⸗ arten und Geſellſchaftsauffaſſungen, der individualiſtiſchen und univerſaliſtiſchen. Bol. das Buch von Othmar Spann, Der wahre Staat, Leipzig 1921, 48 Das Weſen und die Aufgabe der Geſchichtsphiloſophie lichkeit zu rechtfertigen“, 's fühlte ſich Hegel ſowohl an die Seite des Griechen Anaxagoras wie auch in die Nähe des reli⸗ giöſen Vorſehungsglaubens gerückt, ein Umſtand, der ihm Veranlaſſung gibt, das Verbindende und Unterſcheidende, das ſeine Geſchichtsphiloſophie mit jenen beiden Weltauffaſſungen hat, zu präziſieren. Anaxagoras hat zwar zuerſt ausgeſprochen, daß die Vernunft die Welt regiere, aber er vermochte noch nicht, dieſen Gedanken auf die konkrete Natur anzuwenden. Sein Prinzip blieb abſtrakt. „Ich mache auf dieſen Unterſchied hier gleich von Anfang aufmerkſam, ob eine Beſtimmung, Grundſatz, Wahrheit nur abſtrakt feft gehalten oder aber ob zur nähern Determination und zur kon— kreten Entwicklung fortgegangen wird.“ 59 Der religiöſe Glaube, daß die göttliche Vorſehung die Welt regiere, enthält die Wahrheit, daß die Welt nicht dem Zufall preisgegeben ſei, ſondern daß die unendliche Macht den „abſoluten, vernünftigen Endzweck der Welt verwirklicht“. Nur iſt dieſer Glaube entweder Glaube an die Vorſehung „überhaupt“ und „geht nicht zum Be⸗ ſtimmten, zur Anwendung auf das Ganze, den umfaſſenden Ver⸗ lauf der Weltbegebenheiten fort“. Er hält, wenn er aus ſeiner Un⸗ befangenheit heraustritt und polemiſch wird, es ſogar für eine Ver- meſſenheit, den vor unſern Augen verborgenen Plan der Vor— ſehung erkennen zu wollen. Er bleibt alſo abſtrakt wie der Nus des Anaxagoras. Oder der Vorſehungsglaube beſchränkt ſich auf ganz individuelle Einzelheiten und ſinkt zur „Kleinkrämerei“ herunter. „Denn im beſondern läßt man es hie und da wohl gelten, und fromme Gemüter ſehen in vielen einzelnen Vorfallenheiten, wo andere nur Zufälligkeiten ſehen, nicht nur Schickungen Gottes über⸗ haupt, ſondern auch feiner Vorſehung, nämlich Zwecke, welche Dies ſelbe mit ſolchen Schickungen habe. Doch pflegt dies nur im ein⸗ zelnen zu geſchehen; indem z. B. einem Individuum in einer großen 5 I, I, 58 B, 74. 5 L M, I, 13f. 16 = B, 45f. 47. Sperrung vom Verf. Das Problem der Theodizee 49 Verlegenheit und Not unerwartet eine Hilfe gekommen iſt, ſo dürfen wir demſelben nicht unrecht geben, wenn es bei ſeiner Dankbarkeit dafür zugleich zu Gott aufſchaut. Aber der Zweck ſelbſt iſt beſchränk⸗ ter Art; ſein Inhalt iſt nur der beſondere Zweck dieſes Individuums. Wir haben es aber in der Weltgeſchichte mit Individuen zu tun, welche Völker, mit Ganzen, welche Staaten ſind; wir können alſo nicht bei jener, ſozuſagen, Kleinkrämerei des Glaubens an die Vor⸗ ſehung halt machen und ebenſo nicht bei dem bloß abſtrakten, unbe⸗ ſtimmten Glauben, der bloß bei dem Allgemeinen, daß es eine Vor⸗ ſehung gebe, welche die Welt regiere, ſtehen bleibt, aber nicht zum Beſtimmten vorgehen will, ſondern wir haben vielmehr Ernſt damit zu machen.“ 0 Der Geſchichtsphiloſoph begnügt ſich nicht mit jener ganz abſtrakten Allgemeinheit des religiöſen Vorſehungsglaubens, geſchweige denn mit der kleinlichen Art ſeiner vereinzelten Anwen⸗ dung. Er muß den vorausgeſetzten Glauben, mit dem auch er allerdings zunächſt an die Geſchichte herantritt, aus dieſer ſelbſt in ſeiner Richtigkeit erweiſen, er muß ihn zur wohldurchdachten Ein⸗ ſicht in die Notwendigkeit des Geſchichtsverlaufs erheben und dieſen ſelbſt in ſeinen konkreten Beſtimmungen als „Produktion der ſchöpferiſchen Vernunft“ begreifen.“! Deshalb hat Hegel, ſich neben Leibniz ſtellend, feine Geſchichtsphiloſophie geradezu als „Theo— dizee“ bezeichnet, als eine Rechtfertigung Gottes aus der Ge ſchichte.“? Hegel will nur im Gegenſatz zu den Beſtrebungen Leib: L M, I, 15 ff. - B, 46 ff.; L, 1, 19: „Man ſtellt ſich in der Tat gewöhnlich die Vor: ſehung nur im kleinen wirkend vor, denkt ſie ſich als einen reichen Mann, der den Menſchen feine Almoſen aus teilt und ihnen ſteuert.“ * LM, I, 15. 24 B, 46,49; L, I, 23f. ®LM, I, 24f. = B, 49. Untet dem Geſichtspunkt einer Theodizee“ hatte bereits Herder ſeine Ideen zur Philoſophie der Geſchichte der Menſchheit 1784—91 (in der Vorrede zum Erſten Teil, April 1784) geſtellt. Vgl. Herders Werke ed. Th. Matthias (Bibliographiſches Inſtitut) IV, S. 5f. 10; desgl. Kant, Idee zu einer allgemeinen Geſchichte in weltbürgerlicher Abſicht, November 1784, Neun: ter Satz: „Eine ſolche Rechtfertigung der Natur — oder beſſer der Vorſehung iſt kein unwichtiger Bewegungsgrund, einen befonderen Geſichtspunkt der Welt: betrachtung zu wählen. Denn was hilft's, die Herrlichkeit und Weisheit der Schöp: deeſe, Geſchichtsphiloſophie Hegels 4 50 Das Weſen und die Aufgabe der Geſchichtsphiloſophie nizens und der Aufklärung das Problem der Theodizee nicht an der Natur, ſondern an der Geſchichte orientieren. „Man ſchleppt es als eine Tradition mit ſich, daß Gottes Weisheit in der Natur zu erkennen ſei. So war es eine Zeitlang Mode, die Weisheit Gottes in Tieren und Pflanzen zu bewundern. Man zeigt, daß man Gott kenne, indem man über menſchliche Schickſale oder über Produk⸗ tionen der Natur erſtaunt. Wenn zugegeben wird, daß ſich die Vor⸗ ſehung in ſolchen Gegenſtänden und Stoffen offenbare, warum nicht in der Weltgeſchichte?“ 2 Die neue Ausgabe fährt fort: „Ohne⸗ hin iſt die Natur ein untergeordneterer Schauplatz als die Welt⸗ geſchichte. Die Natur iſt das Feld, wo die göttliche Idee im Elemente der Begriffsloſigkeit iſt; im Geiſtigen iſt ſie auf ihrem eigentüm⸗ lichen Boden, und da gerade muß fie erkennbar fein”, 4 Wie der Zufall und die Beſonderheit, jo ſind auch das Übel und das Böſe die Grenzbegriffe der Geſchichtsphiloſophie. Nicht, daß die Größe des Übels und die Macht des Böſen geleugnet oder durch Schöne färberei gemildert werden ſollen. „Es iſt in der Weltgeſchichte, daß die ganze Maſſe des konkreten Übels uns vor die Augen gelegt wird.“ Die Aufgabe der Geſchichtsphiloſophie beſteht vielmehr fung im vernunftloſen Naturreiche zu preiſen und der Betrachtung zu emp⸗ fehlen, wenn der Teil des großen Schauplatzes der oberſten Weisheit, der von allem dieſem den Zweck enthält — die Geſchichte des menſchlichen Geſchlechts —, ein unaufhörlicher Einwurf dagegen bleiben ſoll, deſſen Anblick uns nötigt, unſere Augen von ihm mit Unwillen wegzuwenden und, indem wir verzweifeln, jemals darin eine vollendete vernünftige Abſicht anzutreffen, uns dahin bringt, ſie nur in einer andern Welt zu hoffen? Daß ich mit dieſer Idee einer Weltgeſchichte, die gewiſſermaßen einen Leitfaden a priori hat, die Bearbeitung der eigentlichen bloß empiriſch abgefaßten Hiſtorie verdrängen wollte: wäre Mißdeutung meiner Abſicht; es iſt nur ein Gedanke von dem, was ein philoſophiſcher Kopf (der übri⸗ gens ſehr geſchichtskundig ſein müßte) noch aus einem anderen Standpunkte ver⸗ ſuchen könnte.“ Vielleicht hatte Hegel, als er dieſen Satz las, das Gefühl, daß er der philoſophiſche und zugleich ſehr geſchichtskundige Kopf ſei, der ſich unter⸗ winden dürfe, die von Kant geſtellte Aufgabe zu löſen. “ L, I, 18f. = B, 49. % L, I, 19. s L M, I, 25. Vgl. auch Ernſt Troeltſch, Über den Begriff einer hiſtoriſchen Dialektik, Hiſtoriſche Zeitſchrift (Band 119) 1919, S. 403 ff. Das Problem der Theodizee 51 darin, den denkenden Geiſt mit dem „Negativen“ zu verſöhnen. ““ Die neue Ausgabe formuliert genauer: „Die Rechtfertigung geht darauf hinaus, das Übel gegenüber der abſoluten Macht begreiflich zu machen. Es handelt ſich um die Kategorie des Negativen, von der vorher die Rede war, und die uns ſehen läßt, wie in der Welt⸗ geſchichte das Edelſte und Schönfte auf ihrem Altar geopfert wird. Dies Negative wird von der denkenden Vernunft verworfen, die dafür vielmehr einen affirmativen Zweck will.“ 7 Wie aber iſt es möglich, das Übel „begreiflich“ zu machen und die poſtulierte Ver ſoͤhnung zuftande zu bringen? Darauf lautet Hegels Antwort: „Dieſe Ausſöhnung kann nur durch die Erkenntnis des Affirmativen er⸗ reicht werden, in welchem jenes Negative zu einem Untergeord⸗ neten und Überwundenen verſchwindet, — durch das Bewußtſein, teils was in Wahrheit der Endzweck der Welt ſei, teils daß derſelbe in ihr verwirklicht ſei und nicht das Böſe neben ihm ebenſoſehr und gleich mit ihm ſich geltend gemacht habe.“ “s Hegel hat ſich durchaus gegen jenen ſupranaturaliſtiſchen Agnoſtizis⸗ mus erklärt, der das göttliche Weſen „jenſeits“ der menſchlichen Dinge und der menſchlichen Erkenntnis „in der Ferne“ hält. „Wird Gott jenſeits unſeres vernünftigen Bewußtſeins geſtellt, ſo ſind wir davon befreit, ſowohl uns um ſeine Natur zu bekümmern, als Ver⸗ nunft in der Weltgeſchichte zu finden.“ 69 Nein, was wir „Gott“ nennen, iſt die in der Geſchichte ſich unbedingt durchſetzende und verwirklichende Idee, die nicht ein leeres, ohnmächtiges, tranſzen⸗ dentes Ideal, ſondern die „abſolute Macht“ des Guten, das „Mäch⸗ tigſte“ iſt, das ſich wirkſam vollführt.“ „Die Einſicht der Philo⸗ ſophie iſt, daß keine Gewalt über die Macht des Guten, Gottes, geht, die ihn hindert, ſich geltend zu machen, daß Gott recht be⸗ hält, daß die Weltgeſchichte nichts anderes darſtellt als den Plan be LM, I, 25 = B, 49. [, I, 25. "LM, I, 25 = B, af. Spertung dom Def. , I, 17. "LM I, 4f. - B, Af. L, I, f. - B, 24. 4* 52 Das Weſen und die Aufgabe der Geſchichtsphiloſophie der Vorſehung.7! Gott regiert die Welt; der Inhalt feiner Welt⸗ regierung, die Vollführung ſeines Planes iſt die Weltgeſchichte. Dieſen zu faſſen iſt die Aufgabe der Philoſophie der Weltgeſchichte.“ 72 Hegel hat hierbei bemerkt, daß die Philoſophie ſich nicht zu ſcheuen habe, an die religiöſen Wahrheiten zu erinnern und denſelben aus dem Wege zu gehen. 7? Es beruht das nicht bloß auf einer unver⸗ kennbaren Liebhaberei für den Archaismus der religiöſen Bilder⸗ ſprache, ſondern auf dem richtigen Inſtinkt, daß die Gedankenbewe⸗ gung des deutſchen Idealismus eine beſtimmte Erſcheinungsform der nordiſch-proteſtantiſchen Ausprägung der chriſtlichen Ideenent⸗ wicklung iſt.?“ Hegel wird nie müde, hervorzuheben, daß Religion und Philoſophie, Glauben und Wiſſen ihrer Bewußtſeinsform nach zwar verſchieden, ihrem Gehalt nach aber identisch find, 7° Recht oder Unrecht dieſer genaueren Verhältnisbeſtimmung zu unter⸗ ſuchen, iſt hier nicht der Ort. Nur ſo viel ſei zum Verſtändnis ſeiner Geſchichtsphiloſophie bemerkt, daß er die denkende Vernunft als „das eigentliche Organ, in dem Gott für den Menſchen iſt“, be: zeichnet hat, daß die Vernunft des Subjekts „das Vernehmen des göttlichen Werkes“ und daß die Wirkſamkeit Gottes die dem ger ſchichtlichen Daſein immanente, in demſelben und durch das— ſelbe ſich vollbringende Weltvernunft ift. 7% So hat Hegel feine Ge— ſchichtsphiloſophie auch mit den Worten geſchloſſen, daß ſie als die „wahrhafte Theodizee“ zu zeigen unternommen habe, „daß das, was geſchehen iſt und alle Tage geſchieht, nicht nur von Gott kommt und nicht ohne Gott, ſondern weſentlich das Werk en ſelbſt iſt“. 77 i J, 55 = B, 4. L M, I, 18 = B, 48; L, I, 164. Kronenberg a. a. O. II, S. 693; G. Laſſon in feiner Einleitung zu Hegels Enzyklopädie a. a. O. S. XIX. s Z. B. Enzyklopädie a. a. O. Bor: rede zur zweiten Ausgabe S. 14; $$ 1. 2, S. 31 f.; 572, S. 485 f.; $ 573, S. 494; L, I, 23. U, I, 22; L, I 55 = B, 943 LM 1:05 = Bis 7 L, IV, 938 = B, 563. Der endzwec der Gefchichte 53 5. Der Endzweck der Geſchichte Eine Frage bedarf noch der Klärung, um das Weſen und die Auf: gabe der Hegelſchen Geſchichtsphiloſophie ausreichend beſtimmen zu koͤnnen. Wie iſt der Endzweck der Welt, auf deſſen Realiſierung es der die Geſchichte durchwaltenden Vernunft ankommt, inhaltlich zu beſtimmen? 7s Hegel hat bei der inhaltlichen Beſtimmung des „Kriteriums“, „wo⸗ nach wir beurteilen können, ob etwas vernünftig iſt oder unvernünf⸗ tig“, 7b wie im Vorbeigehen die Architektonik feines Syſtems bloß⸗ gelegt. „Die reinſte Form, in der ſich die Idee offenbart, iſt der Gedanke ſelbſt; ſo wird die Idee in der Logik betrachtet. Eine andere Form iſt die der phyſiſchen Natur, die dritte endlich iſt die des Geiſtes überhaupt.“ 80 Die phyſiſche Welt iſt der geiſtigen „unter⸗ geordnet“, ſie hat „keine Wahrheit“ gegen dieſe. „Der Geiſt und der Verlauf feiner Entwicklung iſt das Subſtanzielle.“ 1 Die geiſtige Welt hervorzubringen und ihr anzugehören, iſt die weſenhaft menſch⸗ liche Beſtimmung. Die neue Ausgabe bringt hierzu eine Erläuterung, die die Stellung des Menſchen zu Natur und Geiſt noch deutlicher hervortreten läßt: „Nach der Schöpfung der Natur tritt der Menſch auf, und er bildet den Gegenſatz zu der natürlichen Welt; er iſt das Weſen, das ſich in die zweite Welt erhebt. Wir haben in unſerm allgemeinen Bewußtſein zwei Reiche, das der Natur und das des Geiſtes. Das Reich des Geiſtes iſt das, was von dem Menſchen her⸗ vorgebracht wird. Man mag ſich allerlei Vorſtellungen vom Reiche Gottes machen, ſo iſt es immer ein Reich des Geiſtes, das im Menſchen realiſiert und in die Exiſtenz geſetzt werden ſoll. Der Boden des Geiſtes iſt der allumfaſſende; er ſchließt alles in ſich, was den Menſchen je intereſſiert hat und noch intereſſiert.“ 2 Die Weltgeſchichte geht auf dem „geiſtigen Boden“ vor. 98 So kann der N s. 27 B, 50. H. a. O. I., I, 0. "LM, I, 27. 0. - B, I., I, 27. 9 I M, I, 27 = B, 50. 54 Das Weſen und die Aufgabe der Geſchichtsphiloſophie geſuchte Endzweck auch nur ein geiſtiger fein. „Die Weltgeſchichte nach ihrem Endzwecke haben wir zu betrachten; dieſer Endzweck iſt das, was in der Welt gewollt wird. Von Gott wiſſen wir, daß er das Vollkommenſte iſt. Gott und die Natur ſeines Willens iſt einerlei; dieſe nennen wir philoſophiſch die Idee. So iſt es die Idee überhaupt, aber in dieſem Elemente des menſchlichen Geiſtes, was wir zu- betrachten haben; beſtimmter iſt es die Idee der menſchlichen Freiheit.“ “ Der Endzweck der Welt iſt „das Bewußtſein des Geiſtes von ſeiner Freiheit“. Die Welt⸗ geſchichte ſelber iſt „der Fortſchritt im Bewußtſein der Freiheit“. Und die Aufgabe der Geſchichtsphiloſophie iſt es, die Notwendigkeit dieſes Entwicklungsprozeſſes in ſeinen konkreten Zuſammenhängen und Übergängen zu „erkennen“. 85 Hegel weiſt darauf hin, daß dieſe inhaltliche Beſtimmung des weltgeſchichtlichen Endzwecks immer noch eine vorläufige iſt, da der Freiheitsbegriff die größte Problematik in ſich birgt, die eben nur durch die nähere Ausführung der Ge ſchichtsphiloſophie ſelber lösbar iſt. „Daß aber dieſe Freiheit, wie ſie angegeben worden, ſelbſt noch unbeſtimmt oder daß ſie ein un⸗ endlich vieldeutiges Wort iſt, daß ſie, indem ſie das höchſte iſt, unendlich viele Mißverſtändniſſe, Verwirrungen, Irrtümer mit ſich führt und alle möglichen Ausſchweifungen in ſich begreift, dies iſt etwas, was man nie beſſer gewußt und erfahren hat als in jetziger Zeit; aber wir laſſen es hier zunächſt bei jener allgemeinen Bes ſtimmung bewenden.“ 86 | 7 Hegel betont, daß erſt das „Bewußtſein“ des Geiſtes von ſeiner Freiheit die „Wirklichkeit“ feiner Freiheit iſt.s? Sind Bewußtſein und Wirklichkeit der Freiheit die ſinngebenden Zielpunkte des weltge⸗ ſchichtlichen Prozeſſes, ſo müſſen das Unbewußte und die bloße Mög⸗ lichkeit der Freiheit der Ausgangspunkt desſelben ſein. Oder, wie Hegel ſagt, es iſt ein unendlich wichtiger Unterſchied zwiſchen dem 4 L, I, zo. Die beiden letzten Sperrungen vom Verf. ®° LM, I, 40 f. 148 = B, 53 f. 107; L, I, 42; L, I, 49 = B, 124. % L M, I, 41 B, 54. “ A. a. O. 22 . n y 3 r A! R VE * 1 E „ +; 1 Der Endzwech der Geſchichte 55 „Prinzip“, dem, was nur erſt „an ſich“ und zwiſchen dem, was „wirklich“ iſt. 's Die Geſchichte iſt die Verwirklichung deſſen, was im Geiſt als feine Möglichkeit, fein „An ſich“ verborgen ruht, die Freiheit. Dieſe Realiſierung des nur erſt Möglichen iſt zugleich ein immer deutlicheres Bewußtwerden des anfänglich Unbewußten. Wohl gibt es von Urbeginn im menſchlichen Zuſammenleben Zwecke, deren ſich der Menſch auch bewußt iſt. Es ſind die Zwecke, die die Sicherung von Leben und Eigentum im Auge haben und die ſich mit jedem ent⸗ ſtehenden Übelſtande und Bedürfnis ſogleich auch näher beſtimmen. Aber der Zweck, den die Weltgeſchichte aktualiſiert, gewinnt erſt all⸗ mählich deutlichere Umriſſe im Bewußtſein der Menſchheit. Beſon⸗ dere Kreiſe innerhalb ihrer mögen ſich ihrer beſonderen Zwecke be— wußt fein. Der Sinn des Ganzen enthüllt ſich ſchrittweiſe. Die Welt⸗ geſchichte beginnt nicht mit irgendeinem „bewußten“ Zweck. Der erg ift vorhanden und wirkſam, aber als „bewußtloſer Trieb“. Und „das ganze Geſchäft der Weltgeſchichte“ beſteht in der Arbeit, dieſen bewußtloſen Trieb „zum Bewußtſein zu bringen“. 89 ‚Die Weltgeſchichte zeigt uns, wie der Geiſt allmählich zum Bewußtſein und zum Wollen der Wahrheit kommt; es dämmert in ihm, er findet Hauptpunkte, am Ende gelangt er zum vollen Bewußtſein.“ 90 Damit werden der Begriff des Geiſtes, der Begriff der Entwicklung und der Begriff der Freiheit zu geſchichtsphiloſophiſchen Grund: begriffen. % A. a. O. LM, I, 64 = B, 60. » , I, 52 = B, 94.— Dieſe Gedanken reihe hat ihre Wurzeln in der „Leibnizſchen Lehre von einem auffteigenden, den unbewußten Vernunftgehalt in Bewußtheit und ſyſtematiſche Einheit über: führenden Fortſchritt. E. Troeltſch, Über den Begriff einer hiſtoriſchen Dia ⸗ lektik a. a. O. S. 390f. Überkaupt iſt der direkte oder indirekte Einfluß Leibnizens auf Hegel nicht zu unterſchätzen. Vergl. Ernſt Caſſitet, Freiheit und Ferm, 1918, S. 33—95 (Leibniz). III. Die geſchichtsphiloſophiſchen Grundbegriffe 1. Der Begriff des Geiſtes Die Weltgeſchichte, ſo ſagte Hegel, iſt die Bewegung der Idee im „Elemente des menſchlichen Geiſtes“. Wie kommt er aber zu der näheren Beſtimmung, daß es ſich hierbei um das Bewußtſein des Geiſtes von ſeiner Freiheit handelt? Die Erklärung liegt darin, daß Geiſt und Freiheit für Hegel ſinnverwandte Begriffe ſind. „Des Geiſtes Subſtanz iſt die Freiheit.“ „Jedem iſt es unmittelbar glaub⸗ lich, daß der Geiſt auch unter andern Eigenſchaften die Freiheit be— ſitze; die Philoſophie aber lehrt uns, daß alle Eigenſchaften des Geiſtes nur durch die Freiheit beſtehen, alle nur Mittel für die Freiheit ſind, alle nur dieſe ſuchen und hervorbringen. Es iſt dies eine Erkenntnis der ſpekulativen Philoſophie, daß die Freiheit das einzige Wahrhafte des Geiſtes ſei.“ Die Freiheit iſt das „Beiſich⸗ ſelbſtſein“ des Geiſtes. „Denn wenn ich abhängig bin, ſo beziehe ich mich auf ein anderes, das ich nicht bin, und kann nicht ohne ein Außeres fein. Frei bin ich, wenn ich bei mir ſelbſt bin.“ ! Die neue Ausgabe beugt einem naheliegenden Mißverſtändnis dieſes letzten Satzes vor. Das Beiſichſelbſtſein des Geiſtes iſt nicht etwa abſolute Beziehungsloſigkeit. Der Geiſt iſt denkend und er iſt wiſſend, d. h. er hat es mit Gegenſtänden zu tun, auf die er bezogen iſt. Er weiß aber von einem Gegenſtande nur, ſofern er darin auch von ſich ſelber weiß. „Ich weiß von meinem Gegenſtande, und ich weiß von mir; L, I, 32,41 = B, 51f. Der Begriff des Geiſtes 57 beides iſt nicht zu trennen.“ Indem der Gegenſtand gewußt wird, iſt er für den Geiſt nicht mehr ein ſchlechthin Außeres und Fremdes. Der Geiſt bleibt im Wiſſen des Gegenſtandes bei ſich ſelbſt, er iſt Selbſtbewußtſein. Und nur als Selbſtbewußtſein iſt der Geiſt wahrhaft bei ſich ſelbſt und damit wirklich frei. Die natürlichen Dinge, die nicht von ſich wiſſen, ſind darum auch nicht frei. Das Selbſtbewußtſein des Geiſtes, das jeden Inhalt als den ſeinigen er⸗ kennt und ihm damit das Herrſchaftszeichen der Vernunft aufprägt, iſt die Freiheit des Geiſtes. Frei kann deshalb auch nur der ſein, der um ſeine Freiheit weiß. Weiß er es nicht, dann iſt er Sklave, kein Freier. „Die Empfindung der Freiheit iſt es erſt, die den Geiſt frei macht, obgleich er an und für ſich (d. h. der bloßen Möglichkeit nach) immer frei iſt.“? Daß Freiheit die „Subſtanz“ des Geiſtes iſt, be⸗ deutet alſo für Hegel, daß der Geiſt die Möglichkeit der Freiheit hat mit dem Drang und Trieb, zum Selbſtbewußtſein und damit zur Wirklichkeit der Freiheit zu gelangen. Der Geiſt iſt daher nicht etwas von vornherein Fertiges und Ruhendes. Er iſt werdend, tätig und ſtrebend. Er ſtrebt danach, ſeine Freiheit zu vervollkommnen. „Und dieſes Streben iſt ihm weſentlich. Sagt man nämlich, der Geiſt iſt, ſo hat das zunächſt den Sinn: er iſt etwas Fertiges. Er iſt aber etwas Tätiges. Die Tätigkeit iſt fein Weſen; er iſt fein Produkt, und fo iſt er fein Anfang und auch ſein Ende. Seine Freiheit beſteht nicht in einem ruhenden Sein, ſon⸗ dern in einer beſtändigen Negation deſſen, was die Freiheit auf⸗ zuheben droht. Sich zu produzieren, ... iſt das Geſchäft des Gei⸗ ſtes.“ Der Geiſt iſt „Aktuoſität“ und „weſentlich Energie“, raſtloſe, unendliche Bewegung. Er kann ſich nie mit einem erreichten Ziel definitiv begnügen. Es erreichen, heißt zugleich, über es hinausgehen. Seine Arbeit hat „nur das eine Reſultat, ſeine Tätigkeit aufs neue zu vermehren und ſich aufs neue aufzuzehren. Stets tritt ihm jede ſeiner Schöpfungen, in der er ſich befriedigt hat, als neuer Stoff I, 31 f. 33. I., I, 32f. 32. 93. 142, 58 Die geſchichtsphiloſophiſchen Grundbegriffe entgegen, der ihm Aufforderung iſt, ihn zu verarbeiten. Was ſeine Bildung iſt, wird zum Material, an dem ſeine Arbeit ihn zu neuer Bildung erhebt“. Nicht das fertige Werk iſt ihm Zweck, ſondern die „Luſt ſeiner Tätigkeit“. Iſt es das Weſen des Geiſtes, nie ruhend noch raſtend, ſeine Freiheit zu produzieren, ſo ſtößt er hierbei auf Widerſtände und Hinderniſſe, die ihn zu einer „beſtändigen Negation“ deſſen nötigen, „was die Freiheit aufzuheben droht“. Die äußeren Naturbedingungen, in die der Geiſt verſtrickt iſt, können derart ſein, daß fie alle Verſuche zur Freiheit gänzlich mißlingen laſſen.“ Das iſt z. B. der Fall, wenn, wie in der heißen und kalten Zone, die Gewalt der Elemente zu groß iſt, als daß der Menſch im Kampfe mit ihnen mächtig genug wäre, ſeine geiſtige Freiheit gegen die Macht der Natur geltend zu machen.“ Aber auch da, wo die Naturbedin⸗ gungen den Regungen des Geiſtes zu feiner Entfaltung keinen um überwindlichen Widerſtand entgegenſetzen, wie in der gemäßigten Zone, „die das Theater für das Schauſpiel der Weltgeſchichte bieten muß“, 7 beruht alle Tätigkeit und Lebendigkeit des Geiſtes auf Kampf und Überwindung. Die eigentlichen Widerſtände und Hinderniſſe, die der Geiſt zu überwinden hat, um zur Freiheit zu kommen, liegen nicht außerhalb ſeiner, ſondern in ihm ſelber, in ſeinem eigenen Weſen. Er ſelber entzweit ſich mit ſich und verſöhnt ſich mit ſich. Er iſt dialektiſch. Es gibt nicht bloß eine äußere, phyſiſche Natur. Es gibt auch eine innere Natur, die geiſtigen Cha⸗ rakter trägt, ohne damit ſchon Geiſt im Vollſinn des Wortes zu fein. Der Geiſt wird nur dadurch zum Geiſt und gelangt nur da= durch zur Freiheit, daß er ſich von dieſer ſeiner Naturgrundlage, die ſelbſt geiſtiger Art iſt, ſcheidet. Die natürliche Geiſtigkeit, die der Geiſt, um fortzuſchreiten und ſich zu entwickeln, negieren muß, iſt das, was Hegel feine „Un mittelbarkeit“ nennt. Unmittelbar iſt der Menſch wie das Tier L, Il, 12 B, 118f. IL, I, 12 = B, 119; L, I, 33. I, I, 180 ff. B, 126f. 7 A. a. O. 5 Der Begriff des Geiſtes 89 ein von ſinnlichen Bedürfniſſen und deren Befriedigung beherrſchtes Triebweſen. „Alles Lebendige hat Triebe. So ſind wir Naturweſen, und der Trieb iſt ein Sinnliches überhaupt.“ Das iſt nicht fo zu verſtehen, als ob der Menſch mit dem Tiere „einerlei“ ſei. „Tieriſche Menſchlichkeit iſt ganz etwas anderes als Tierheit. Den Anfang macht der Geiſt; dieſer aber iſt erſt an ſich, er iſt natürlicher Geiſt, dem jedoch der Charakter der Menſchlichkeit durchaus aufgeprägt iſt. Das Kind hat keine Vernünftigkeit, aber die Realmöglichkeit, ver⸗ nünftig zu fein. Das Tier dagegen hat keine Möglichkeit, feiner ſich bewußt zu werden.“ Das Selbſtbewußtſein ſchafft die große Kluft zwiſchen Menſchheit und Tierheit. Die nach Zwecken ſich beſtimmende Intelligenz des Menſchen läßt ihn eine andere Stellung zu ſeiner triebhaften Naturgrundlage gewinnen als die dem Tiere allein mög⸗ liche. „Das Tier kann zwiſchen ſeinen Trieb und deſſen Befriedigung nichts einſchieben; es hat keinen Willen, kann die Hemmung nicht vornehmen.“ Der Menſch kann ſeine Triebe hemmen, indem er den Gedanken zwiſchen das Drängen des Triebes und ſeine Befriedigung ſtellt. Es kommt Hegel alles auf die grundlegende Erkenntnis an, daß der Menſch kraft ſeines Geiſtes aufzuhören vermag, „ein bloßes Natürliches zu ſein, bloß ſeinen unmittelbaren Anſchauungen und Trieben, deren Befriedigung und Produktion hingegeben zu ſein“. Er vermag ſeine „Unmittelbarkeit“ und „Natürlichkeit“ zu „brechen“. Er muß und kann das Natürliche „abſchütteln“.“ Es iſt nun ſehr wichtig, zu beachten, daß in Hegels Begriff der Unmittelbarkeit noch ein anderer Sinn ſteckt. Der Menſch als ſinnlich⸗natürliches Trieb⸗ weſen iſt „unfrei“. Kann er aber dieſe feine unfreie Unmittelbarkeit brechen, ſo hat er die Möglichkeit des Anders⸗, des Freiwerdens. Und dies iſt die zweite Bedeutung, die Hegel mit dem Begriff der Unmittelbarkeit verbindet. „Der Menſch iſt, was er ſein ſoll, nur durch Bildung, durch Zucht; was er unmittelbar iſt, iſt nur die Möglichkeit, es zu ſein, d. h. vernünftig, frei zu ſein, nur die Be⸗ L, I, 33f. 35. 142. Sperrung vom Verf. I, I, 179. 60 Die geſchichtsphiloſophiſchen Grundbegriffe ſtimmung, das Sollen.“ 10 In dieſem zweiten Sinn gebraucht Hegel gleichbedeutend mit dem Wort Unmittelbarkeit auch die Ausdrücke: „An ſich“, „Natur“, „Möglichkeit“, „Beſtimmung“, „Subſtanz“, „Prinzip“, „Begriff“. 17 Es iſt alſo zu unterſcheiden zwiſchen dem Menſchen „in ſeiner nur natürlichen unmittelbaren Exiſtenz“ als einem unfreien, triebhaften „Naturweſen“ und der „Natur“ oder dem „An ſich“ des Geiſtes als der Möglichkeit der freien Selbſt— beſtimmung. Der Begriff der Unmittelbarkeit bezeichnet beides, jo= wohl die Exiſtenz der Unfreiheit wie auch die Möglichkeit der Frei— heit. Die Möglichkeit des dialektiſchen Prozeſſes — denn um deſſen Aufhellung handelt es ſich — beruht auf der latenten Gegenſätzlich— keit dieſer im unmittelbaren Geiſt noch friedſam ruhenden Beſtim— mungen. Der dialektiſche Prozeß ſelbſt iſt die Freiwerdung jenes latenten Gegenſatzes, indem das im Mutterſchoß des unmittelbaren Bewußtſeins ruhende Spannungsverhältnis ſich aktualiſiert. Der Geiſt verharrt nicht als ruhendes Sein. Er geht über ſeine eigene Unmittelbarkeit hinaus, indem er ſich mit ſich ſelbſt entzweiend der Unmittelbarkeit des tieriſch-naturhaften Bewußtſeins entgegentritt, dasſelbe negiert. Bei dieſem Widerſpruch kann er nicht verharren. Denn er iſt raſtloſe Tätigkeit. Er iſt dies, indem er ſich nach dem Widerſtreit mit ſich ſelbſt verſöhnt, ſeine Identität wiederherſtellt. Und dieſe Verſöhnung des eigenen Zwieſpaltes, durch den der Geiſt ſich mit ſich ſelbſt „vermittelt“, iſt Höherbildung, Läuterung, Ver: vollkommnung, Wachstum im Bewußtſein der Freiheit, Verwirk— lichung ſeiner Beſtimmung. Der Kampf, den der Geiſt ſo mit ſich ſelber führt, iſt ſein eigener Sieg, ſeine Überwindung iſt Selbſt— überwindung. Hegel ſagt ſtatt deſſen mit Vorliebe: der Geiſt iſt „Rückkehr in ſich“ und „Reſultat“. Auch der Geiſt als „Reſultat“ iſt nunmehr nicht Stillſtand, ſondern als Unmittelbarkeit höherer, geiſtigerer Ordnung Ausgangspunkt zu neuem Werden. Hegel hat dieſe Anſchauung vom Geiſt auf die abſtrakte Formel gebracht: „Der 0 % I, 35. 1 LM. I, 39. 95 B, 57. 79. Der Begriff des Geiflet 61 Menſch iſt als Geiſt nicht ein Unmittelbares, ſondern weſentlich ein Zurückgekehrtes. Dieſe Bewegung der Vermittelung iſt weſent⸗ liches Moment des Geiſtes. Seine Tatigkeit iſt das Hinausgehen über die Unmittelbarkeit, das Regieren derſelben und damit die Rück⸗ kehr in ſich; er iſt alſo das, wozu er ſich durch ſeine Tätigkeit macht. Erſt das in ſich Zurückgekehrte iſt das Subjekt, reelle Wirklichkeit. Der Geift iſt nur als fein Reſultat.“ 13 Die drei Momente des dialek⸗ tiſchen Prozeſſes ſind die Unmittelbarkeit (die unmittelbare Iden⸗ tität), das Negieren derſelben (der Widerſpruch) und die Rückkehr in ſich (die durch den Widerſpruch vermittelte Identität). Das Weſen des dialektiſchen Prozeſſes beſteht darin, daß ein latenter Zwieſpalt gegenſätzlicher Beſtimmungen zum offenen Ausbruch kommt, der ſich in einer höheren Einheit befriedigt, die nun ihrerſeits wieder Ausgangspunkt einer neuen Entzweiung und Verſöhnung wird. Dieſer Prozeß aber nicht als eine ſinnloſe, ewige Selbſtwiederholung gedacht, ſondern als zweckvolles und vernünf⸗ tiges Fortſchreiten des ſein Weſen, d. h. ſeine Freiheit aktualiſierenden und damit zu ſich ſelber kommenden Geiſtes. Wie die Belegſtellen zeigen, iſt es der große Vorzug der neuen Ausgabe, daß ſie geſtattet, das Problem der Hegelſchen Dialektik auf ſeine letzten Wurzeln zurückzuverfolgen. Sie erwächſt aus einer ganz beſtimmten Lebenshaltung und iſt ein Gebilde, in dem ſich verſchiedene Gedankenreihen komplizieren: eine logiſche, eine biolo⸗ giſche und eine ethiſche. Logiſch find die Kategorien der Identität und des Widerſpruchs. Sie bilden das eigentlich dialektiſche Schema. Aber dieſes Schema produziert keinen Gehalt. Der Wechſel von Identität und Widerſpruch iſt für ſich unvermögend, die fortſchrei⸗ tende Entwicklung, das Wachstum, das Reicher⸗ und Kon⸗ kreterwerden, den Aufſtieg und die Vervollkommnung des Geiſtes begreiflich zu machen. Daß der Geiſt ſich entwickelt, und daß weiter der Entwicklungsgedanke in den ethiſchen Dienſt der Frei⸗ * , 35. 32; L, I, 50 , 124. 62 Die geſchichtsphiloſophiſchen Grundbegriffe heitsidee geſtellt wird, iſt eine Konzeption, die alogiſch und vor⸗ dialektiſch iſt. Die dialektiſche Bewegung iſt nur die Art und Weiſe, der eigentümliche Rhythmus, in dem die Entwicklung des ſich zur Freiheit aufringenden Geiſtes vor ſich geht. Dieſe Sonderung läßt ſich aber nur abſtrakt vollziehen. Die Dialektik des Geiſtes, wie Hegel ſie faßt, beruht auf der gleichmäßigen Zuſammenſchau jener drei Momente. Im folgenden wird dieſe Zuſammenſchau noch ſehr viel deutlicher hervortreten. 13 8 — 2. Der Begriff der Entwicklung „Die Weltgeſchichte ſtellt, wie früher beſtimmt worden iſt, die Ent: wicklung des Bewußtſeins des Geiſtes von ſeiner Freiheit und der von ſolchem Bewußtſein hervorgebrachten Verwirklichung dar.“ 14 Damit tritt zu dem Begriff des Geiſtes der Begriff der Ent: wicklung. f Hegel hat den Entwicklungsgedanken nur innerhalb ganz beſtimmter Grenzen angewandt wiſſen wollen. Seine Auffaſſung von Natur und Geiſt erhält dadurch ihre nähere, für Hegel ſo charakteriſtiſche Eigenart. Wie erſcheint im Lichte des Entwicklungsgedankens Hegels Naturbegriff? „Die Natur iſt als ein Syſtem von Stufen zu betrachten, deren eine aus der anderen notwendig hervorgeht und die nächſte Wahrheit derjenigen iſt, aus welcher ſie reſultiert, aber nicht ſo, daß die eine aus der anderen natürlich erzeugt würde, ſondern in der inneren, den Grund der Natur ausmachenden Idee. Die Meta⸗ morphoſe kommt nur dem Begriffe als ſolchem zu, da deſſen Ver— 1 Wenn ich oben vom dialektiſchen „Schema“ ſpreche, fo bewege ich mich noch an der äußerſten Oberfläche. Der dialektiſche Prozeß, wie Hegel ihn faßt, iſt unend⸗ lich viel mehr als ein bloßes Schema. Ich frage nach dem letzten Sinn der Dialek⸗ tik, nach dem geiſtigen Gehalt, der ſich in ihr zum Ausdruck ringt. Aber dieſe Frage läßt ſich nur ſchrittweiſe beantworten. Man wende nicht ein, daß es eine Erſchleichung ſei, den Freiheitsbegriff Hegels von vornherein als ethiſche Kate: gorie in Anſpruch zu nehmen. Auch darüber erfolgen fpäter genauere Aufſchlüſſe. 1% LM, I, 148 B, 107, Der Begriff der Entwidlung 63 änderung allein Entwicklung ift. Der Begriff aber ift in der Natur teils nur Inneres, teils eriftierend nur als lebendiges Individuum; auf dieſes allein iſt daher exiſtierende Metamorphoſe beſchränkt. Es iſt eine ungeſchickte Vorſtellung älterer, auch neuerer Naturphilo⸗ ſophie geweſen, die Fortbildung und den Übergang einer Naturform und Sphäre in eine hoͤhere für eine äußerlich⸗wirkliche Produktion anzuſehen, die man jedoch, um ſie deutlicher zu machen, in das Dunkel der Vergangenheit zurückgelegt hat. Der Natur iſt gerade die Außſerlichkeit eigentümlich, die Unterſchiede auseinanderfallen und ſie als gleichgültige Exiſtenzen auftreten zu laſſen: der dialektiſche Begriff, der die Stufen fortleitet, iſt das Innere derſelben. Solcher nebuloſer, im Grunde ſinnlicher Vorſtellungen, wie insbeſondere das ſogenannte Hervorgehen z. B. der Pflanzen und Tiere aus dem Waſſer und dann das Hervorgehen der entwickelteren Tierorgani⸗ ſationen aus den niedrigeren uſw. iſt, muß ſich die denkende Be⸗ trachtung entſchlagen.“ 15 Der Stufengang der Natur iſt alſo ſelbſt in der Welt der Organismen kein zeitlicher Entwicklungsprozeß im Sinne eines Hervorgehens der höheren aus der niederen Organi⸗ ſation. Es gibt nur eine Metamorphoſe der Idee hinter der Natur. Die Metamorphoſe der Idee iſt weniger Entwicklung als vielmehr zeitlos⸗logiſche Entfaltung und Auseinanderlegung der in ihr enthal⸗ tenen Beſtimmungen. Wie die Natur die Idee in ihrer Außerlichkeit iſt, ſo ſind auch ihre Geſtalten und Formen ein Nebeneinander und Außereinander, aber keine zeitliche Aus⸗ und Aufeinanderfolge. Wenn dennoch die Natur ein Syſtem von Stufen iſt, ſo liegt das lediglich an der Idee, die, um Geiſt zu werden, durch die Natur hindurchſchreiten muß und die Stufen der Natur zu einer ſymbo⸗ liſchen Rangordnung erhebt. 1“ „Zwar bildet auch die Reihe der natürlichen Geſtalten eine Stufenleiter vom Lichte bis zum Men⸗ Enzyklopädie a. a. O. f 249, S. 209 f. gl. Laſſon in feiner Einleitung zur Enzyklopädie S. XIII ff. — Das Verhältnis des Zeitloſen zum Zeitlichen iſt bei Hegel überall ungeklärt. Zeitloſes und Zeitliches ſpielen bei ihm immer 64 Die geſchichtsphiloſophiſchen Grundbegriffe ſchen, ſo daß jede folgende Stufe Umbildung der vorigen iſt, ein höheres Prinzip, hervorgegangen durch das Aufheben und den Unter— gang des vorigen. In der Natur aber fällt dies auseinander und alle einzelnen Sproſſen bleiben nebeneinander exiſtierend; der Über— gang erſcheint nur dem denkenden Geiſt, der dieſen Zuſammenhang begreift.“ 17 Nur in einem Fall anerkennt Hegel einen zeitlichen Ent⸗ wicklungsprozeß in der Natur, im Falle des „lebendigen Indivi— duums.“ Einzig auf das organiſche Individuum bleibt die „exiſtie⸗ rende Metamorphoſe“ beſchränkt. Wenn das organiſche Individuum durch die Entwicklung ſeines Keimes ſich zu dem produziert, was es an ſich iſt, ſo handelt es ſich des Näheren um einen „Kreis— lauf“, in welchem ſich nur „eine und dieſelbe Beſtimmung, ein für immer ſtabiler Charakter kundgibt, in den alle Veränderung zurück— geht und innerhalb deſſen fie ſich als ein Untergeordnetes ein— ſchließt“. 18 „Der Baum perenniert, treibt Sproſſen, Blätter, Blü⸗ ten, bringt Früchte hervor und fängt ſo immer wieder von vorn an. Die einjährige Pflanze überlebt ihre Frucht nicht; der Baum läßt es jahrzehntelang an ſich vorübergehen, aber er ſtirbt doch auch. Die Wiederbelebung in der Natutr iſt nur die Wiederholung eines und desſelben; es iſt die langweilige Geſchichte mit immer dem⸗ ſelben Kreislauf. Unter der Sonne geſchieht nichts Neues.“ Die Gat— tungen beharren. Das Einzelne iſt dem Wechſel unterworfen. „Alles ſteht ſo in Kreiſen, und nur innerhalb dieſer, unter dem Einzelnen iſt Veränderung.“ 19 Anders verhält es ſich mit dem Geiſt und der Ge- ſchichte des Geiſtes. In den Veränderungen, die auf dieſem Boden vor ſich gehen, gibt ſich nicht ein „für immer ſtabiler Charakter“ kund wie in den Bildungen der Natur. In der Natur geſchieht nichts Neues unter der Sonne. „Aber mit der Sonne des Geiſtes iſt es ineinander über. So wenig wie ſich der Zufall aus dem Panlogismus deduzieren läßt, ſo wenig der zeitliche aus dem zeitloſen (logiſchen) Prozeß. . 18 L. I , 1290 5 88. DL. 13313. L 129 = B, 9s. Der Begriff der Entwidlung 65 anders. Deren Gang, Bewegung iſt nicht eine Selbſtwiederholung, ſondern das wechſelnde Anſehen, das der Geiſt ſich in immer andern Gebilden macht, iſt weſentlich Fortſchreiten.“ 20 Daß aus dem Tode neues Leben hervorgeht, gilt für beide, für die organiſche Natur und den Geiſt, nur für jede dieſer Offenbarungsweiſen der Idee in anderem Sinn. „Es iſt dies ein Gedanke, den die Orientalen erfaßt haben, vielleicht ihr größter Gedanke und wohl der höchite ihrer Metaphyſik. In der Vorſtellung von der Seelenwanderung iſt er in Beziehung auf das Individuelle enthalten: allgemeiner bekannt iſt aber auch das Bild des Phönix, des Naturlebens, das ewig ſich ſelbſt ſeinen Scheiterhaufen bereitet und ſich darauf verzehrt, ſo daß aus ſeiner Aſche ewig das neue, verjüngte, friſche Leben hervorgeht. Dies iſt aber nur ein morgenländiſches Bild; es paßt auf den Leib, nicht auf den Geiſt. Abendländiſch iſt, daß der Geiſt nicht bloß verjüngt hervortrete, ſondern erhöht, verklärt. Er tritt freilich gegen ſich ſelbſt auf, verzehrt die Form feiner Geſtaltung und erhebt ſich fo zu neuer Bildung. Aber indem er die Hülle ſeiner Exiſtenz abtut, wandert er nicht bloß in eine andere Hülle über, ſondern geht als ein reinerer Geiſt aus der Aſche ſeiner früheren Geſtalt hervor Die Verjüngung des Geiſtes iſt nicht ein bloßer Rückgang zu der⸗ ſelben Geſtalt: ſie iſt Läuterung, Verarbeitung ſeiner ſelbſt. Durch die Löſung ſeiner Aufgabe ſchafft er ſich neue Aufgaben, wobei er den Stoff ſeiner Arbeit vervielfältigt. So ſehen wir den Geiſt in der Geſchichte ſich nach einer unerſchöpflichen Menge von Seiten er⸗ gehen, ſich darin genießen und befriedigen.“ 21 Eine Entwicklung als zeitlicher Prozeß gibt es alſo innerhalb der Natur nur für das organiſche Individuum, aber ſie iſt ein Kreislauf und ewige Selbſt⸗ wiederholung. Sein verjüngtes Hervorgehen aus dem abgeſtorbenen Alten iſt ein „bloßer Rückgang zu derſelben Geſtalt“. Das eigent⸗ liche Feld der Entwicklungsidee iſt die Geſchichte. Hier bedeutet Ent⸗ wicklung die Läuterung, Erhöhung und Verklärung des Geiſtes, ., I, 48. 134. ., I, 17f. - B, 118. Sperrung vom Verf. eee ſe, Geſchictovbiloſodbie Pegel 5 z 66 Die geſchichtsphiloſophiſchen Grundbegriffe deſſen höhere Geſtaltung ſich durch Umarbeitung der niedrigeren hervorbringt. Er geht nicht als derſelbe, ſondern als reinerer Geiſt aus der Aſche ſeiner früheren Geſtalten hervor. Den Geiſt in der Geſchichte ſich entwickelnd, d. h. ſich läuternd, erhöhend und ver⸗ klärend „ſehen“, vermag nur das Auge der Vernunft, das die Oberfläche der bloßen Veränderung durchdringt. Die „Kategorie der Veränderung“ iſt die Auffaſſungsweiſe der Geſchichte, wie ſie in ihrer erſten Unmittelbarkeit erfcheint. 22 Die Kategorie der Entwicklung iſt bereits eine Kategorie des geſchichtsphiloſophiſchen Denkens. Denn nur bei der Anwendung der Kategorie der Vernunft erſcheint ja die Geſchichte als Entwicklungsgeſchichte des Geiſtes, näher des Bewußt⸗ ſeins von feiner Freiheit. 23 Und hier iſt nun der Punkt, wo es am deutlichſten ſichtbar wird, daß Hegel in ſeinem Begriff des Geiſtes die biologiſch-organiſche und die logiſch-dialektiſche Gedankenreihe zu einem unlösbaren Knoten ineinandergeſchlungen hat, den aufzu⸗ löſen die ſpezifiſche Eigenart ſeines philoſophiſchen Denkens zerſtören hieße. Der wichtige Abſchnitt lautet: „Jene Entwicklung (des natür⸗ lichen Organismus) macht ſich auf unmittelbare, gegenſatz⸗ loſe, ungehinderte Weiſe; zwiſchen den Begriff und deſſen Realiſierung, die an ſich beſtimmte Natur des Keimes und die An— 22 Pgl. oben S. 32 ff. 35. Daß L, I, 10ff. die drei Kategorien der Veränderung, der Entwicklung und der Vernunft nebeneinander abgehandelt werden, erklärt ſich, wenn die Nachſchrift richtig iſt, nur aus der loſen Form der Vorleſung. Statt Ent⸗ wicklung ſagt Hegel a. a. O. nur: „Dies iſt die zweite Kategorie des Geiſtes.“ Die drei Kategorien liegen nicht auf einer Ebene. Erſt von der Kategorie der Vernunft aus erhält die der Entwicklung ihre geſchichtsphiloſophiſche Bedeutung, während die Kategorie der Veränderung noch vor-philoſophiſch iſt. Es war daher notwendig — übrigens iſt das die Regel — den Kontext zu zerlegen und nach ſyſtematiſchen Geſichtspunkten zu verfahren. Bei B, 118 heißt es: „Der abſtrakte Gedanke bloßer Veränderung verwandelt ſich in den Gedanken des ſeine Kräfte nach allen Seiten ſeiner Fülle kundgebenden, entwickelnden und ausbildenden Geiſtes.“ Das iſt zweifellos Hegels Meinung. Aber dazwiſchen ſteht die ge: ſchichtsphiloſophiſche Denkart, die die Phänomene der bloßen Veränderung bereits in einem beſtimmten Sinne, nämlich dem der Entwicklung, deutet, Der Begriff der Entwicklung 67 gemeſſenheit der Exiſtenz zu derſelben kann fich nichts eindrängen. Im Geiſte aber ift es anders. Der Übergang feiner Beſlim⸗ mung in ihre Verwirklichung iſt vermittelt durch Bewußtſein und Willen: dieſe ſelbſt ſind zunächſt in ihr unmittelbares natürliches Leben verſenkt. Gegenſtand und Zweck iſt ihnen zu⸗ nächſt die natürliche Beſtimmung ſelbſt als ſolche, die dadurch, daß es der Geiſt iſt, der ſie beſeelt, ſelbſt von unendlichem Anſpruche, Stärke und Reichtum iſt. So ift der Geiſt in ihm ſelbſt ſich entgegen; er hat ſich ſelbſt als das wahrhafte feind⸗ ſelige Hindernis ſeines Zweckes zu überwinden: die Entwicklung, die als ſolche ein ruhiges Her- vorgehen iſt — denn ſie iſt ein in der Außerung zugleich ſich gleich und in ſich Bleiben —, iſt im Geiſte in Einem ein harter, unendlicher Kampf gegen Sich ſelbſt. Was der Geiſt will, iſt, ſeinen eigenen Begriff erreichen; aber er ſelbſt ver⸗ deckt ſich denſelben, iſt ſtolz und voll von Genuß in dieſer Entfrem⸗ dung ſeiner ſelbſt. Die Entwicklung ift auf dieſe Weiſe nicht das form- und kampfloſe bloße Her vorgehen, wie die des organiſchen Lebens, ſondern die harte, ünwillige Arbeit gegenſich ſelbſt.“ 2! Darin erkennen wir das Weſen der Dialektik wieder, jene Entzweiung und jene Verſöh⸗ nung, jenen Widerſpruch und jene Identität, durch die der Eine identiſche Geiſt ſich mit ſich ſelbſt vermittelt. Nur der ſich mit ſich ſelbſt entzweiende und verſöhnende, der hart und unwillig mit ſich ſelber ringende und ſeine eigene Feindſeligkeit überwindende, der ſich dialektiſch bewegende Geiſt iſt es, deſſen Entwicklung ſowohl organiſche Entfaltung als auch in und mit derſelben Läuterung, Er⸗ böhung und Verklärung iſt. Die lebendige Natur und der lebendige Geiſt, ſie ſind beide organiſche Gebilde, die ſich zu dem machen, was fie „an ſich“ find, indem fie ihre Keime, Anlagen und Mög: lichkeiten zur Entfaltung bringen. Aber das hat der lebendige Geiſt M, I, ı31f.= B, 96f. Sperrungen vom Verf. 55 68 Die geſchichtsphiloſophiſchen Grundbegriffe vor der lebendigen Natur voraus, daß ſeine organiſche Entfaltung zugleich dialektiſche Bewegung iſt. Und nur, inſofern er dies letztere iſt, kann er ſich läutern und erhöhen, d. h. ſein eigentliches Weſen, ſeine Beſtimmung realiſieren und im Bewußtſein der Freiheit fort: ſchreiten. Wenn Hegels Geiſtbegriff, wie wir ſagten, auf einer Zu: ſammenſchau dreier verſchiedener Momente beruht, ſo liegt doch auf dem dialektiſchen der volle Akzent. Die dialektiſche Faſſung des Geiſtes und des weltgeſchichtlichen Prozeſſes iſt das ſpezifiſch Hegelſche an Hegels Geſchichtsphiloſophie, während in manchem andern Betracht wie in der Konzipierung des Fortſchritts-, des Frei⸗ heits-, des Staatsgedankens Leſſing, Herder und Kant den Weg bereitet hatten. Mit der zuletzt zitierten Stelle heben ſich die letzten Schleier, die das Problem der Hegelſchen Dialektik verhüllen. E. von Hart: mann hat gegen Hegels Widerſpruchsdialektik eingewandt: „Bei keinem einzigen Schritt der Hegelſchen Logik iſt mehr geleiſtet als eine geſchickte oder ungeſchickte Sophiſtik. Nirgends wird ein Bei⸗ ſpiel von einem Begriffe gezeigt, der, wenn richtig gebildet, die Tendenz hätte, in einen anderen umzuſchlagen, und die Identität mit ſich ſelbſt zugunſten einer dialektiſchen Flüſſigkeit verleugnete. Nirgends wird aus dem Widerſpruch, der ſich bei ſolchem Um— ſchlagen ergibt, ein Fortſchritt zu begrifflich höherer Stufe wirklich abgeleitet. Überall wird der neue Begriff willkürlich aufgenommen und durch künſtliche Beziehungen angeknüpft, die zum Teil äußerſt loſe ſind; überall iſt das Ziel, auf welches der Philoſoph den Leſer hinführen will, nämlich die logiſche Idee mit dem Zweck des Be— wußtwerdens, das geheime Motiv, welches die Ausleſe der hervor— gezogenen Begriffe regelt, ſowohl beim Umſchlag als auch bei dem Fortgang zu höherer Stufe.“ ?” Es mag immerhin fein, daß dieſe 25 Geſchichte der Metaphyſik a. a. O. S. 236. Vgl. auch S. 233: „Tatſächlich find aber auch bei Hegel alle Beſtimmungen, die in der logiſchen Idee vorkommen, ſowohl inhaltlich aus ſeiner empiriſchen Kenntnis der Natur und des Geiſtes ge⸗ „ 1 . Der Begriff der Entwicklung 69 Kritik an Hegels Logik zu Recht beſteht. Eine Löfung des dialek⸗ tiſchen Problems iſt fie nicht, weil fie nur die rein logiſch⸗formale Frage der Richtigkeit oder Unrichtigkeit, aber nicht den Urſprung und den Gehalt der dialektiſchen Denkweiſe, des Textes der Philo⸗ ſophie Hegels, im Auge hat. Der dialektiſche Stil der Hegelſchen Logik erwächſt aus einem alogiſchen Untergrund. Er ift, um in der Sprache Spenglers zu reden, das Symbol einer Seele, der die höchſten Lebenswerte nur aus der ethiſchen Selbſtzucht, aus dem harten und auf: opferungsvollen Ringen und Kämpfen des Men: ſchen mit ſich ſelbſt erwachſen, des Menſchen, der aus den Niederungen dumpfer, unfreier Naturge⸗ bdbunden⸗ und verflochtenheit, aus dem trüben Duns kel ungezügelten Trieblebens zur Freiheit der Selbſtüberwindung und zum reinen Licht des feiner ſelbſt bewußten Gedankens emporſtrebt, um auf dieſer Höhe des Geiſtes erſt wahrhaft feines Men⸗ ſchentums gewiß und froh zu werden. Nun findet auch ein merkwürdiger Umſtand ſeine Aufklärung, deſſen Goethe in einem ſeiner von Hegel handelnden Briefe Erwähnung tut. 28 Goethe ſchreibt: „Aber über einen anderen Mann habe ich mich neulich betrübt, und ich wünſchte, Sie gäben mir einigen Auf⸗ ſchluß. Zufälligerweiſe kommt mir eine Stelle aus der Vorrede von Hegels Logik in die Hände. Sie lautet, wie folgt: „Die Knoſpe ver⸗ ſchöpft als auch beſtehen ſie formell in mehr oder minder abſtrakten Begriffen. Sein Vorgeben, daß in feiner Logik die Begriffe ſelbſt einander hervorbringen, odet daß der Begriff ſich ſelbſt vom leerſten unbeſtimmteſten Sein bis zur Fülle der logiſchen Idee entwickelt, iſt offenbare Selbſttäuſchung. Auch ſein Mühlwerk fordert genau nut ſo viel Mehl zutage, wie Korn aufgeſchüttet iſt, und wenn es leer ginge, jo würde es aus feinem Räderwerk niemals das kleinſte Stäubchen Mehl hervorbringen, und wenn es noch fo ſeht im Takte klappette. An T. J. Siebeck am 28. XI. 1812. Goethe- Briefe, mit Einleitungen und Ex: fäuterungen herausg. von Philipp Stein, Berlin 1902—05, VI, S. 227f. 70 Die geſchichtsphiloſophiſchen Grundbegriffe ſchwindet in dem Hervorbrechen der Blüte, und man könnte ſagen, daß jene von dieſer widerlegt wird; ebenſo wird durch die Frucht die Blüte für ein falſches Daſein der Pflanze erklärt, und als ihre Wahrheit tritt jene an die Stelle von dieſer. Dieſe Formen verdrängen ſich als unverträglich miteinander, aber ihre flüſſige Natur macht ſie zugleich zu Momenten der organiſchen Einheit, worin ſie ſich nicht nur nicht widerſtreiten, ſondern eines fo notwendig als das andere iſt, und dieſe gleiche Notwendige keit macht erſt das Leben des Ganzen aus. Es iſt wohl nicht mög⸗ lich, etwas Monſtroſeres zu ſagen. Die ewige Realität der Natur durch einen ſchlechten ſophiſtiſchen Spaß vernichten zu wollen, ſcheint mir eines vernünftigen Mannes ganz unwürdig.“ ?? Dieſer ſo⸗ phiſtiſche Spaß hatte recht ernſthafte Vorausſetzungen. Aber Goethe hatte auch nicht unrecht, wenn er gegen Hegel einwandte, daß er ein „ungeheures Naturverfahren“ ſophiſtiſch „verfratze“. Hegel ließ ſich verführen, den vom Widerſpruch zur Verſöhnung ſchreitenden dialektiſchen Prozeß, der nur auf dem Gebiet des Geiſtes einen wirklichen Sinn hat und der, wie er ſelber feſtſtellt, gerade das Auszeichnende des organiſchen Geiſtes vor der organiſchen Natur ausmacht, in die letztere hineinzuinterpretieren, was, wie Goethe mit vollem Rechte tadelt, zur Monſtroſität ausſchlägt. So wenig wie die Naturdinge ſich ethiſch verhalten können, ſo wenig können ſie N dialektiſch fein. Beruht ja die logiſch-dialektiſche Stiliſierung des Geiſtes letzten Endes ſelbſt nur auf dem Urphänomen jener ethiſchen Grundeinſtellung zum Lebensprozeß, von der oben bereits die Rede war, und den Hegel in ſeinen Panlogismus hineinzubeziehen das unabweisliche Bedürfnis hatte. Die Dialektik iſt ihm das Mittel, des Lebens logiſch Herr zu werden und das aller vernünftigen De— duktion ſich Entziehende dennoch in das Joch der Vernunft zu 125 Sperrungen vom Verf. Die von Goethe zitierte Stelle findet ſich nicht in Hegels Logik, ſondern in der Vorrede ſeiner Phänomenologie, Jubiläumsausgabe von G. Laſſon S. 4. Der Begriff der Entwicklung 71 ſpannen. Daß es hierbei ohne Gewaltſamkeiten nicht abgehen konnte, hat Goethe inſtinktiv empfunden, ohne freilich die hierbei obwalten⸗ den näheren Zuſammenhänge durchſchauen zu konnen.?“ — Die Entwicklung in der Geſchichte iſt Fortſchreiten, fie iſt „FJort⸗ gang zum Beſſern, Vollkommenern“. Die Erſcheinung am Geiſtigen läßt in dem Menſchen eine andere Beſtimmung überhaupt ſehen als in den bloß natürlichen Dingen, nämlich den „Trieb der Perfektibili⸗ tät“. 20 Hegel weiß, daß er damit nichts Neues ſagt. Aber er unter⸗ wirft den Fortſchrittsgedanken einer kritiſchen und ihn ver⸗ tiefenden Prüfung. „Die Frage über die Perfektibilität und Er⸗ ziehung des Menſchengeſchlechts fällt hierher. Diejenigen, welche dieſe Perfektibilität behauptet haben, haben etwas von der Natur des Geiſtes geahnet, feiner Natur, [rad oeavıöv zum Geſetze ſeines Seins zu haben, und indem er das erfaßt, was iſt, eine höhere Ge⸗ ſtalt als dieſe, die fein Sein ausmachte, zu ſein.“ 0 Die neue Aus⸗ gabe der Geſchichtsphiloſophie enthält darüber eine bemerkenswerte Erweiterung. „Die Vorſtellung von der Erziehung des Menſchen⸗ geſchlechts (Leſſing) iſt geiſtreich, berührt aber nur in der Ferne das, wovon hier die Rede iſt.“ 1 Hegel bemängelt an dem Fortſchritts⸗ gedanken, daß er beinahe ebenſo beſtimmungslos wie der der Ver⸗ änderlichkeit überhaupt ſei: „ohne Zweck und Ziel“. Das Beſſere und Vollkommenere, worauf er gehen ſoll, iſt ein ganz Unbeſtimm⸗ tes. 2 Das zeigt ſich darin, daß das Fortſchreiten fälſchlicherweiſe als ein „bloßes Mehrwerden“, aber nicht als eine qualitativ be⸗ ſtimmte und jeweils qualitatitv unterſcheidbare Anderung des Geiſtes verſtanden wird. 3 „Unbefriedigend iſt die Vorſtellung des Fort: Vgl. hierzu auch Ernſt Caſſirer, Freiheit und Form. Studien zur deutſchen Geiſtesgeſchichte 1918, S. 399. Nur darf auf Grund der Briefſtelle an Siebeck det Gegenſatz zwiſchen Goethe und Hegel nicht überſpannt und darüber die weit⸗ gehende Parallelität ihres beiderſeitigen Denkens nicht überſehen werden. Siehe unten den Abſchnitt über Goethe, Hegel und Spengler. L M, I, 129 = B, 98. ” Mechtöphilofophie a. a. O. f 343, S. 424. , I, 10. "LM I, 130 = B, 95f. , I, sıf. 72 Die geſchichtsphiloſophiſchen Grundbegriffe ſchreitens, weil ſie vornehmlich eben in der Form behauptet wird, daß der Menſch eine Perfektibilität habe, d. h. eine reale Möglichkeit und auch Notwendigkeit, immer vollkommener zu werden. Hier wird der Beſtand nicht als das Höchſte angeſehen, ſondern das Höchſie ſcheint das Verändern zu ſein. In dieſer Vorſtellung liegt keine andere Beſtimmung als die der Vervollkommnung, die ſehr unbe⸗ ſtimmt iſt und nichts zurückläßt als die Veränderlichkeit; es iſt kein Maßſtab vorhanden für die Veränderung, auch kein Maßſtab für das Vorhandene, inwiefern es das Rechte, das Subſtanzielle ſei. Kein Prinzip des Ausſchließens iſt darin, es iſt kein Ziel, kein be ſtimmter Endzweck geſetzt; es iſt mehr die Veränderung, die das Reſiduum darin iſt, was allein die Beſtimmtheit ausmacht ... Das Fortſchreiten hat überhaupt in dieſen Vorſtellungen die Form des Quantitativen. Immer mehr Kenntniſſe, feinere Bildung, — lauter ſolche Komparative; darin läßt ſich lange fortreden, ohne daß irgendeine Beſtimmtheit angegeben, etwas Qualitatives aus⸗ geſprochen wird. Die Sache, das Qualitative iſt ſchon vorhanden, aber es iſt kein Ziel ausgeſprochen, das erreicht werden ſoll; dies bleibt ganz unbeſtimmt. Das Quantitative aber, wenn wir beſtimmt vom Fortſchreiten ſprechen wollen, iſt eben das Gedankenloſe. Das Ziel muß gewußt werden, das erreicht werden ſoll. Der Geiſt iſt in ſeiner Tätigkeit überhaupt ſo, daß ſeine Produktionen, Ver⸗ änderungen als qualitative Anderungen vorgeſtellt und erkannt wer— den müſſen.“ 4 Der Nerv dieſer für Hegels Denkweiſe außerordent— lich charakteriſtiſchen Kritik liegt darin, daß der Fortſchritt des Menſchengeſchlechts als eine unmittelbar gradlinig anſteigende Be— wegung anſtatt als im dialektiſchen Rhythmus, dieſer wahrhaften Lebendigkeit des Geiſtes, erfolgend verſtanden wird. Der Fort⸗ ſchrittsgedanke muß dialektiſch gefaßt und vertieft werden, erſt dann gewinnt er ſeine geſchichtsphiloſophiſche Brauchbarkeit. „So erſcheint in der Exiſtenz der Fortgang als von dem Unvollkommenen zum 34 L, I, ı130f, Der Begriff der entwidlung 73 Vollkommenern fortſchreitend, wobei jenes nicht in der Abſtraktion nur als das Unvollkommene zu faſſen iſt, ſondern als ein ſolches, das zugleich das Gegenteil ſeiner ſelbſt, das ſogenannte Vollkommene, als Keim, als Trieb in ſich hat ... Das Unvollkommene fo als das Gegenteil ſeiner in ihm ſelbſt iſt der Widerſpruch, der wohl eriftiert, aber ebenſoſehr aufgehoben und gelöft werden muß, der Trieb, der Impuls des geiſtigen Lebens in ſich ſelbſt, das Band, die Rinde der Natürlichkeit, Sinnlichkeit, der Fremdheit ſeiner ſelbſt zu durchbrechen und zum Lichte des Bewußtſeins, d. i. zu ſich ſelbſt, zu kommen.“ s Und zweitens muß der Fortſchrittsgedanke einen be⸗ ftimmten Endzweck deutlich zur Geltung bringen, ſonſt iſt der Fort: ſchritt ein in die Unendlichkeit ſich verlaufender Progreß, „der ewig dem Ziele fern bleibt“. 8s So gedeutet iſt der Fortſchrittsgedanke identiſch mit dem Entwicklungsgedanken. Und auch für dieſen ſchärft Hegel noch einmal ein, daß er nicht formell bleiben dürfe, weil er alsdann geſchichtsphiloſophiſch vollkommen wertlos iſt. „Es gibt in der Weltgeſchichte mehrere große Perioden der Entwicklung, die vorübergegangen find, ohne daß fie ſich fortgeſetzt zu haben ſcheinen, nach welchen vielmehr der ganze ungeheure Gewinn der Bildung ver⸗ nichtet worden iſt und unglücklicherweiſe wieder von vorne ange⸗ fangen werden mußte, um mit einiger Beihilfe etwa von geretteten Trümmern jener Schätze, mit erneuertem unermeßlichen Aufwand von Kräften und Zeit, von Verbrechen und von Leiden, wieder eine der längſt gewonnen geweſenen Regionen jener Bildung zu erreichen. Ebenſo gibt es fortbeſtehende Entwicklungen, reiche, nach allen Seiten hin ausgebaute Gebäude und Syſteme von Bildung in eigentümlichen Elementen. Das formelle Prinzip der Entwicklung überhaupt kann weder der einen Geſtalt einen Vorzug vor der andern zuſprechen noch den Zweck jenes Unterganges älterer Entwicklungs⸗ perioden begreiflich machen, ſondern muß ſolche Vorgänge oder ins⸗ beſondere Rückgänge als äußerliche Zufälligkeiten betrachten und “LM I, ı37f.=B, 98f. „ L, I, 163. 74 Die geſchichtsphiloſophiſchen Grundbegriffe kann die Vorzüge nur nach unbeſtimmten Geſichtspunkten beurteilen, welche eben damit, daß die Entwicklung das letzte iſt, relativ und nicht abſolute Zwecke find.’ 37 Das leitende Prinzip der Entwicklung, wodurch dieſe ihren inhalt— lichen Sinn und Bedeutung erhält, der abſolute Endzweck der Geſchichte, iſt das Bewußtſein des Geiſtes von feiner Freiheit. 38 3. Der Begriff des Volksgeiſtes 25 Vollzieht ſich der Fortſchritt des Freiheitsbewußtſeins dialektiſch, ſo ſtellt ſich die Weltgeſchichte, bildlich geſprochen, nicht als all— mählich anſteigende gerade Linie, die als „bloßes Mehrwerden“ keine deutlichen Übergänge und Unterſchiede erkennen ließe, ſondern in der Gebrochenheit einer qualitativ beſtimmten Stufenfolge dar. Der Weltgeiſt ſchreitet im „Stufengang“ vorwärts und aufwärts. Und auf jeder Stufe wird er repräſentiert durch ein weltgeſchichtliches Volk. Der Weltgeiſt offenbart uno verwirklicht ſich als Volksgeiſt. Und jeder dieſer eine Epoche in der Weltgeſchichte bezeichnenden Volksgeiſter, in denen der Weltgeiſt zeitlich-ſichtbare Geſtalt ge⸗ winnt, bringt gegenüber den früheren ein anderes und neues Frei— heitsbewußtſein zum Ausdruck. „Dieſe Stufen zu realiſieren, iſt der unendliche Trieb des Weltgeiſtes, ſein unwiderſtehlicher Drang.“ 30 „Der Geiſt iſt frei; und ſich dies fein Weſen wirklich zu machen, dieſen Vorzug zu erreichen, iſt das Beſtreben des Welt— geiſtes in der Weltgeſchichte. Sich zu wiſſen und zu erkennen iſt ſeine Tat, die aber nicht mit einem Male, ſondern im Stufengange voll bracht wird. Jeder einzelne neue Volksgeiſt iſt eine neue Stufe in der Eroberung des Weltgeiſtes, zur Gewinnung ſeines Bewußtſeins, ſeiner Freiheit. Der Tod eines Volksgeiſtes iſt Übergang ins Leben, 7 L M, I, 132 f. B, 97f. * A. a. O. L, I, 52; L, I, 52 = B, ga; L, I, 134f.; LM, I, 135 f. B, 98; LM, I, 148 B, 107; L, IV, 787f. IE TR . DE: nnn Der Begriff des Vollägeifled 75 und zwar nicht ſo wie in der Natur, wo der Tod des einen ein anderes Gleiches ins Daſein ruft. Sondern der Weltgeiſt ſchreitet aus niedern Beſtimmungen zu höheren Prinzipien, Begriffen ſeiner ſelbſt, zu entwickelteren Darſtellungen feiner Idee vor.“ 40 Zeigt die Stufenfolge der Natur ein Nebeneinander und Außereinander, ſo ſieht die Vernunft in der Geſchichte einen Stufengang in zeitlicher Aus⸗ und Aufeinanderfolge. Denn dort iſt die Idee in ihrer Auſſer⸗ lichkeit und Entfremdung, hier, im Elemente des Geiſtes, iſt ſie in ihrer Rückkehr bei ſich ſelber. Das, was vom Begriff des Geiſtes geſagt war, gilt ja keineswegs bloß vom individuellen Geiſt. An ihm erläutert Hegel nur das Weſen des Geiſtes überhaupt, der für ſeine univerſaliſtiſche Denkweiſe der Weltgeiſt iſt. „Der Weltgeiſt iſt der Geiſt der Welt, wie er ſich im menſchlichen Bewußtſein expliziert; die Menſchen verhalten ſich zu dieſem als Einzelne zu dem Ganzen, das ihre Subſtanz iſt. Und dieſer Weltgeiſt iſt gemäß dem göttlichen Geiſte, welcher der abſolute Geiſt iſt. Inſofern Gott allgegenwärtig iſt, iſt er bei jedem Menſchen, erſcheint im Bewußt⸗ ſein eines jeden; und dies iſt der Weltgeiſt. Der beſondere Geiſt eines beſonderen Volkes kann untergehen; aber er iſt ein Glied in der Kette des Ganges des Weltgeiſtes, und dieſer allgemeine Geiſt kann nicht untergehen. Der Volksgeiſt iſt ſo der allgemeine Geiſt in einer beſonderen Geſtaltung, über die er an ſich erhaben iſt, die er aber hat, inſofern er exiſtiert: mit dem Daſein, mit der Exiſtenz tritt die Beſonderheit ein.“ 11 Das Subſtantielle des Volksgeiſtes iſt der Weltgeiſt. !? „Der beſtimmte Volksgeiſt iſt nur ein Individuum im Gange der Weltgeſchichte.“ #3 Und die Weltgeſchichte iſt „die Dar⸗ ſtellung des göttlichen, abſoluten Prozeſſes des Geiſtes“, wie er ſich in dem dialektiſchen Stufengang der „welthiſtoriſchen Volksgeiſter“ zum Selbſtbewußtſein erhebt. ““ Der Begriff des Volksgeiſtes iſt 1, I, 35. 0. „ L, I, 37. L, I, 37: „Der Vollsgeiſt iſt zugleich weſentlich ein beſonderer, zugleich nichts als der abſolute allgemeine Geiſt — denn der iſt Einer.“ 4% L, I, 30 = B, 94. [., I, 52 = B, 94. 76 Die geſchichtsphiloſophiſchen Grundbegriffe es daher, in dem die Gedankenreihen, die wir in den beiden vorigen Abſchnitten geſondert verfolgten, konvergieren, um einen neuen Aſpekt der Hegelſchen Geſchichtsphiloſophie zu erſchließen. a) Das Weſen der Kultur e. Unter dem „Volksgeiſt“ verſteht Hegel „die geiſtigen Mächte, die in einem Volk leben und es regieren“. Zu ſolchen Mächten rechnet er: Gebräuche, Sitten, Inſtitutionen, Geſetze, Verfaſſung, Rechts⸗ ſyſtem, Induſtrie, Gewerbeweſen, Handel, Künſte, Wiſſenſchaften, Religion, Philoſophie, Schickſale und Begebenheiten. !“ Worauf es Hegel aber ankommt, iſt der Umſtand, daß dieſe Außerungsweiſen eines Volkes nicht ihm ſelber „äußerliche Gegenſtände“ ſind, ſondern „in innigſtem Zuſammenhang“ ſtehen. „Alle Seiten, die ſich in der Geſchichte eines Volkes hervortun, ſtehen in der engſten Verbindung.“ 7 Dieſer Zuſammenhang iſt kein kauſaler, er iſt ein organiſcher. Der Volks—⸗ geiſt darf in der Totalität ſeiner Produktionen nicht als Aggregat, ſon⸗ dern muß als Organismus begriffen werden, der „in den Gliedern die eine lebendige Seele“ iſt. Das Organiſche des Geiſtes beſteht darin, daß er ſich zu dem macht, was er „an ſich“, keimhaft und der Anlage nach, iſt. Sein Weſen iſt, ſich als ſein „Reſultat“ hervorzubringen. In ſeinem Werden und Sich-Entfalten vollführt er feine Beſtimmung. So iſt es auch mit dem Geiſt eines Volkes. ““ Und den Inbegriff ſeiner ſchickſalhaften Möglichkeiten, um deren Realiſierung es zu tun iſt, nennt Hegel mit dem uns bereits be— kannten Ausdruck fein „Prinzip“. 9 „Der Geiſt eines Volkes iſt alſo zu betrachten als die Entwickelung des Prinzips, das in die Form eines dunkeln Triebes eingehüllt iſt, der ſich herausarbeitet, ſich objektiv zu machen ſtrebt.“ ? Man könnte daher im Sinne Hegels auch ſagen: Der Geiſt eines Volkes iſt ſeine Geſchichte. Nur darf Geſchichte dann nicht als Konglomerat beziehungsloſer Begebenheiten 4 L, I, 93. L, I, 36. 42. 44. 52. 93. 100. 104 f. 113. 115 = B, 94. 107, 119. 7 L, I, 38. 100. #L, I, 43f. 45. of. “ Pgl. oben S. 60. 0 L., I, 42, a der Begriff des Vollögeifiet 77 oder auch als pragmatiſcher Zuſammenhang von Urſache und Wir⸗ kung aufgefaßt werden, ſondern als die organiſche Entfaltung einer beſtimmten Volksſeele. „Die Geſchichte eines Volkes iſt nichts anderes, als daß es den Begriff, den der Geiſt von ſich hat, aus⸗ prägt in den verſchiedenen Sphären, in denen er ſich überhaupt er⸗ geht.“ 1 „Wie der Keim die ganze Natur des Baumes, den Ge⸗ ſchmack, die Form der Früchte in ſich trägt, ſo enthalten auch ſchon die erſten Spuren des Geiſtes virtualiter die ganze Geſchichte.“ 92 Der Volksgeiſt und damit die Geſchichte eines Volkes tragen für Hegel den Charakter eines unwiderruflich ſich erfüllenden Schickſals, einer Art göttlicher Vorbeſtimmung, die das Subſtantielle, den Tiefengehalt unter der Oberfläche der bunten Bewegtheit des ge: ſchichtlichen Lebens ausmacht. „Dieſer geiſtige Gehalt iſt ein Feſtes, Gediegenes, ganz entnommen der Willkür, den Partikularitäten, den Einfällen, der Individualität, der Zufälligkeit; das dieſen Preis⸗ gegebene macht zur Natur des Volkes nichts aus: es iſt wie der Staub, der über einer Stadt, einem Acker ſpielt und ſchwebt, ihn aber nicht weſentlich umgeſtaltet. Dieſer geiſtige Inhalt macht dann ebenſo das Weſen des Individuums aus, als er der Geiſt des Volkes iſt. Er iſt das Heilige, das die Menſchen, die Geiſter zuſammen⸗ bindet. Es iſt ein und dasſelbe Leben, ein großer Gegenſtand, ein großer Zweck, ein großer Inhalt, von dem alles Privatglück, alle Privatwillkür abhängt.“ 8 Der Geiſt eines Volkes iſt feine Ge⸗ ſchichte. Hegel kann auch ſagen: Der Geiſt eines Volkes iſt ſein „Werk“ oder ſeine „Tat“, zu der er ſich bildet. Dann liegt der Nachdruck nicht mehr auf dem lebendigen Geſtalten und Werden, ſondern auf dem Geſtalteten und Gewordenen, das wie eine Inſel dem Fluſſe des Werdens entſteigt. „Was ihre Taten ſind, das ſind die Völker. Die Taten find ihr Zweck.“ 1 Wie der Künſtler den Trieb hat, ſein Weſen vor ſich zu haben und in ſeinem Werke ſich * L, I, 100. Hier ift daran zu erinnern, daß Hegel ſtatt Prinzip auch Begriff fagt. Bgl. oben S. 60. ., I, 3% B, 82. ®L,1,93f. 1, J, 43. B, 110. — 78 Die geſchichtsphiloſophiſchen Grundbegriffe ſelbſt zu genießen, jo auch der Geiſt eines Volkes.“? „Der Geiſt handelt weſentlich, er macht ſich zu dem, was er an ſich iſt, zu ſeiner Tat, zu ſeinem Werk: ſo wird er ſich Gegenſtand, ſo hat er ſich als ein Daſein vor ſich. So der Geiſt eines Volkes: ſein Tun iſt, ſich zu einer vorhandenen Welt zu machen, die auch im Raum beſteht; ſeine Religion, Kultus, Sitten, Gebräuche, Kunſt, Ver⸗ faſſung, politiſche Geſetze, der ganze Umfang ſeiner Einrichtungen, ſeine Begebenheiten und Taten, das iſt ſein Werk, — das iſt dies Volk. Dieſe Empfindung hat jedes Volk.“ % Das in der geſamten Kultur eines Volkes jeweils ſich auswirkende Prinzip erfaſſen und in ihm die „innere leitende Seele“ aller ſeiner Handlungen, Be⸗ gebenheiten, Taten, Schickſale und Leidenſchaften ſehen, das heißt den „Volksgeiſt“ zum Gegenſtand der geſchichtsphiloſophiſchen Denk— art machen. Das geiſtige Prinzip eines Volkes darf aber nicht aus der Fülle vieler allgemeiner Geſichtspunkte unter Abſehung von anderen abſtrakt herausgehoben werden. Es muß ſo allgemein und zugleich ſo beſtimmt, es muß ſo elaſtiſch ſein, daß es „die Totalität aller Geſichtspunkte“ umſpannt. „Das Allgemeine, das die philo⸗ ſophiſche Weltgeſchichte zum Gegenſtande hat, iſt demnach nicht als eine Seite, ſie ſei noch ſo wichtig, zu faſſen, neben der auf der andern Seite andere Beſtimmungen vorhanden wären. Sondern dies Allgemeine iſt das unendlich Konkrete, das alles in ſich faßt.“ Das gilt wie vom Weltgeiſt jo vom Volksgeiſt, der ja nur des erſteren Geſtaltung iſt. Wie es die Aufgabe des Geſchichtphiloſophen iſt, in der Weltgeſchichte die Idee zu entdecken, ſo nicht minder, in der Geſchichte jedes weltgeſchichtlich bedeutſamen Volkes deſſen Prinz zip aufzufinden.? Bei der Löſung dieſer Aufgabe muß ſich die 5 L, I, 100. 5 L, I, 44 = B, 119. L, I, 9. 177; B, 41: „Gleich dem Seelen⸗ führer Merkur iſt die Idee in Wahrheit der Völker- und Weltführer, und der Geiſt, ſein vernünftiger und notwendiger Wille iſt es, der die Weltbegebenheiten geführt hat und führt“; L, I, 159 = B, 121: „Ein Volk iſt überhaupt nur welt: hiſtoriſch, inſofern in ſeinem Grundelemente, in ſeinem Grundzweck ein allge⸗ meines Prinzip gelegen hat.“ Der Begriff des Voltögeiftes 79 Kraft und Weite feiner Intuition bewaͤhren, die rezeptiv und ſchöpfe⸗ riſch zugleich iſt. Induktion und Deduktion, die genaueſte Vertraut⸗ heit mit den Einzelheiten des geſchichtlichen Stoffs und die Fähigkeit geübten Abſtrahierens wirken zuſammen, jenes Prinzip zu erkennen. „Hier haben wir ... aufzunehmen, daß jede Stufe als verſchieden von der andern ihr beſtimmtes eigentümliches Prinzip hat. Solches Prinzip iſt in der Geſchichte Beſtimmtheit des Geiſtes eines Volkes. In dieſer drückt er als konkret alle Seiten ſeines Bewußtſeins und Wollens, ſeiner ganzen Wirklichkeit aus; ſie iſt das gemeinſchaft⸗ liche Gepräge ſeiner Religion, ſeiner politiſchen Verfaſſung, ſeiner Sittlichkeit, ſeines Rechtsſyſtems, ſeiner Sitten, auch ſeiner Wiſſen⸗ ſchaft, Kunſt und techniſchen Geſchicklichkeit, der Richtung ſeiner Gewerbstätigkeit. Dieſe ſpeziellen Eigentümlichkeiten ſind aus jener allgemeinen Eigentümlichkeit, dem beſondern Prinzip eines Volkes zu verſtehen, ſo wie umgekehrt aus dem in der Geſchichte vorliegen⸗ den faktiſchen Detail jenes Allgemeine der Beſonderheit heraus⸗ zufinden iſt. Daß eine beſtimmte Beſonderheit in der Tat das eigentümliche Prinzip eines Volkes ausmacht, iſt die Seite, welche empiriſch aufgenommen und auf geſchichtliche Weiſe erwieſen werden muß. Dies zu leiſten, ſetzt nicht nur eine geübte Abſtraktion, ſondern auch ſchon eine vertraute Bekanntſchaft mit den Ideen voraus; man muß mit dem Kreiſe deſſen, worein die Prinzipien fallen, wenn man es jo nennen will, a priori vertraut ſein.“ “s An eine unerläß⸗ liche Vorausſetzung iſt die Anwendung dieſer methodiſchen Geſichts⸗ punkte allerdings gebunden. Nicht jedes beliebige Volk iſt tauglich, auf den organiſchen Zuſammenhang ſeiner Hervorbringungen und das dieſen immanente Prinzip unterſucht zu werden. Es gibt Völker, die in ihrer Entwicklung zurückgeblieben oder noch nicht weit genug vorangeſchritten find, um die Beſtimmtheit eines Prinzips erkennen zu laſſen. Nur bei ausgebildeten und reifen Kulturvölkern tritt ein ſolches greifbar zutage. „Man muß nicht das nächſte Beſte, was LM, I, 1% - B, ı07. 80 Die geſchichtsphiloſophiſchen Grundbegriffe man ein Volk nennt, vornehmen, um zu ſehen, ob in ihm dieſer Zu— ſammenhang zu finden ſei. Sondern es müſſen Staaten werden, die ſich zur Reife gebracht haben, und Völker, die zur vollſtändigen Ausbildung gediehen ſind.“ 9 Sr Wenn wir nun die Sphären, in die ſich der Geiſt eines Volkes be— ſondert, näher ins Auge faſſen, ſo gehört es zu den Überraſchungen der neuen Ausgabe, daß Hegel auch das Wirtſchaftsleben prinzipiell dem poſtulierten Zuſammenhange eingeordnet hat. Nicht ſo, als ob er zwiſchen den materiellen und geiſtigen Faktoren ein Verhältnis von Urſache und Wirkung hat ſtiften wollen. Das liegt ſeiner organiſchen Betrachtungsweiſe völlig fern. Auch ſind Religion, Kunſt, Wiſſenſchaft und Staatsverfaſſung für ihn zur Erfaſſung des Volksgeiſtes weit weſentlicher als „das praktiſche Verhalten des Menſchen in Beziehung auf die Natur und in Rückſicht der Befrie— digung ſeiner endlichen Bedürfniſſe“. „Aber das allgemeine Prinzip des Geiſtes iſt doch auch weſentlich wirkſam nach der Art und Weiſe, wie der Sinn des Volkes ſich zum Gewerbefleiß, Induſtrie und Handel verhält ... Nun iſt es ein großer Unterſchied, ob der Gewerbefleiß beſchränkt, kaſtenmäßig gebunden iſt, keine Erwei— terung ſtattfinden kann, oder ob das Individuum ganz unbeſchränkt iſt und ſich maßlos erweitern kann. Dieſer Zuſtand ſetzt einen ganz andern Geiſt eines Volkes, alſo auch eine ganz andere Religion und Verfaſſung voraus, als ein Zuſtand, wo zwar auch Fleiß nötig, aber das Feld feiner Betätigung ein für allemal abgeſchloſſen iſt.“ 0 Die Philoſophie der Wirtſchaftsgeſchichte iſt ſicherlich der ſchwächſte Punkt in Hegels Geſchichtsphiloſophie. Kaum klingt das Thema ſpäter noch an. Aber es iſt immerhin eine beachtenswerte Korrektur s L, I, 109 f. % L, I, ı15f, — Geſetzt den Fall, daß Hegel die Theorie Marxens von dem ideologiſchen Überbau der geiſtigen Kultur bekannt geweſen wäre, ſo hätte er Marx mit der erſtaunten Frage widerlegt, ob denn nicht bereits der angeblich materielle Mechanismus des Wirtſchaftslebens einen geiftigen Unterbau zur Vorausſetzung habe?! Der Begriff des Vollsgeiſtes 81 an dem üblichen Hegelbild, daß Hegel das Statthaben einer funk⸗ tionellen Beziehung zwiſchen Weltanſchauung und Wirtſchaftsleben erkannt und zu deutlicher Formulierung gebracht hat. Zu hoͤchſt und am unmittelbarſten offenbart ſich der ſchöpferiſche Drang des Volksgeiſtes in Religion, Kunſt und Philoſophie. Der beſtimmte Geiſt eines Volkes iſt „eine Individualität, die in ihrer Weſentlichkeit, als das Weſen, als der Gott, vorgeſtellt, verehrt und genoſſen wird, — in der Religion, — als Bild und Anſchauung dargeſtellt wird, in der Kunſt, — und im Gedanken erkannt und begriffen wird, in der Philoſophie“. “ In ihnen gelangt der Geiſt eines Volkes, der anfänglich als dunkler Trieb vorhanden iſt, zum klaren Bewußtſein über ſich ſelbſt. „Die Beſonderheit des Volksgeiſtes beſteht in der Art und Weiſe ſeines Bewußtſeins, das er ſich über den Geiſt macht.“ Das beſtimmte Volksbewußtſein iſt das Bewußtſein über fein Wefen. 62 Religion, Kunſt und Philoſophie ſind Modalitäten dieſes Bewußtſeins, während der ſubſtantielle Ge⸗ halt derſelbe iſt. “s Beſonders in der Religion hat Hegel den Herzſchlag eines Volkes zu ſpüren vermeint. Die Weltgeſchichte iſt für ihn in hohem Maße Religionogeſchichte, weil ihm die Religion das „Grundgepräge der beſondern Sphären“ iſt. “1 „Die Religion iſt das Bewußtſein eines Volkes von dem, was es iſt, von dem Weſen des Höchſten. Dies Wiſſen iſt das allgemeine Weſen. So wie ein Volk ſich Gott vor⸗ ſtellt, ſo ſtellt es ſich auch ſeine Beziehung zu Gott oder ſo ſtellt es ſich ſelber vor; ſo iſt die Religion auch Begriff des Volkes von ſich.“ s „Die Religion, die Vorſtellung von Gott, macht inſofern die allgemeine Grenze, die Grundlage des Volkes aus. Die Religion iſt der Ort, wo ein Volk ſich die Definition deſſen gibt, was es für das Wahre hält.“ s „In der Religion alſo ſpricht ſich das Prinzip eines Volkes auf das Einfachſte aus, wie auf der Religion die *I. NM. I, 102 B, 94. [, I, f. L M, I, 102. 121 B, 85. 94, it. I, I, 105 1, „ 6 „8. Leefe, Geſchichtophllo ſophle Hegels 6 82 Die geſchichtsphiloſophiſchen Grundbegriffe ganze Exiſtenz des Volkes beruht.“ 57 Die der Religion eigentüm⸗ lichen Bewußtſeinsformen find Gefühl und (ſinnliche) Wa lung. 68 Nächſt der Religion iſt es die Kunſt, in der ſich der Volksgeiſt zu gegenſtändlichem Bewußtſein erhebt. „Sie tritt mehr in die Wirk⸗ lichkeit und Sinnlichkeit als die Religion; in ihrer würdigſten Hal tung hat ſie darzuſtellen, zwar nicht den Geiſt Gottes, aber die Geſtalt des Gottes, dann Göttliches und Geiſtiges überhaupt. Das Göttliche ſoll durch ſie anſchaulich werden, ſie je es der Phantaſie und der Anſchauung dar.“ 69 Die dritte Bewußtſeinsform iſt der Gedanke. Im Elemente des Denkens und Erkennens bewegen ſich die Wiſſenſchaften, wenn ſie ſich über das Niveau einer Sammlung von Kenntniſſen erheben. Sie ſind nicht unter dem Geſichtspunkt der Nützlichkeit zu betrachten. „Sie ſind wie die Religion Zweck an und für ſich, für ſich ſelbſt ein letzter Zweck.“ Der Gedanke iſt die ſublimſte Form, in der der Volksgeiſt ſich ſeiner bewußt wird. „Die Wiſſenſchaften machen inſofern den höchſten Kulminationspunkt in einem Volke aus.“ Die Verſchiedenartigkeit des Inhalts ſcheidet die „Wiſſenſchaft des End— lichen“ (Mathematik, Naturgeſchichte, Phyſik) von der Philoſo— phie, der „Wiſſenſchaft xar' 2£oyip*, die es wie Religion und Kunſt mit dem Göttlichen zu tun hat.7“ „Das Wahre gelangt ... nicht nur zur Vorſtellung und zum Gefühl wie in der Religion, und zur Anſchauung wie in der Kunſt, ſondern auch zum denkenden Geiſt; dadurch erhalten wir die... Philoſophie.“ 71 Der Volksgeiſt, der ja ſeinerſeits nur eine Modifikation des abſoluten Geiſtes iſt, ſpricht ſich in der Religion „auf das Einfachſte“ aus. Sie iſt ſeine „erſte Innerlichkeit“. 7? Die Philoſophie aber, die es mit demſelben abſoluten Inhalt zu tun hat, wie die Religion, iſt „die höchſte Weiſe, 7 L, I, 107. L, I, 104. 114 = B, 89. ®L, I, 104. 106/07, 112 f. B, 90 70 L, I, 42. 107. 113, 116. 1 L, I, ig g 9, , , 10% 109, LN 39 = B, 83. Der Begriff des Vollsgeifted 83 wie ein Volk zum Bewußtſein der Wahrheit kommt“. In ihr ges winnt der Volksgeiſt feine „hoͤchſte“ und „lebendigſte“, „freieſte“, „weiſeſte“ und „würdigſte“ Geftaltung. 7° Die Philoſophie iſt aber wie die höchite Reife eines Kulturvolkes fo auch deſſen kritiſchſter Moment. Wie der weisheitsvolle Ausſpruch eines Sehers klingt es, wenn Hegel, aus der Tiefe ſeiner hiſtoriſchen Erkenntnis das tra⸗ giſche Geſchick feines eigenen Philoſophierens voraus ſchauend, der Philoſophie es verwehrt, die Welt darüber zu belehren, wie fie fein ſoll. „Das, was iſt zu begreifen, iſt die Aufgabe der Philoſophie, denn das, was iſt, iſt die Vernunft. Was das Individuum betrifft, iſt ohnehin jedes ein Sohn ſeiner Zeit; ſo iſt auch die Philoſophie ihre Zeit in Gedanken erfaßt. Es iſt ebenſo töricht zu wähnen, irgend⸗ eine Philoſophie gehe über ihre gegenwärtige Welt hinaus, als, ein Individuum überſpringe feine Zeit ... Als der Gedanke der Welt erſcheint ſie erſt in der Zeit, nachdem die Wirklichkeit ihren Bil⸗ dungsprozeß vollendet und ſich fertig gemacht hat. Dies, was der Begriff lehrt, zeigt notwendig ebenſo die Geſchichte, daß erſt in der Reife der Wirklichkeit das Ideale dem Realen gegenüber er⸗ ſcheint und jenes ſich dieſelbe Welt, in ihrer Subſtanz erfaßt, in Geſtalt eines intellektuellen Reichs erbaut. Wenn die Philoſophie ihr Grau in Grau malt, dann iſt eine Geſtalt des Lebens alt ges worden, und mit Grau in Grau läßt ſie ſich nicht verjüngen, ſondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erſt mit der einbrechen⸗ den Dämmerung ihren Flug.“ 74 b) Organiſche Entfaltung und dialektiſche Bewegung Hegels ganzes Philoſophieren beruht, wie näher gezeigt worden iſt s, auf einer Ur⸗Intuition. Dieſe Ur⸗Intuition iſt ſein Verſtändnis des Geiſtes als organiſcher Entfaltung und dialektiſcher Bewegung. ”L,1, 104 = B, 90; L, I, 114. “ Rechtsphiloſophie a. a. O. Vorrede S. 18. 20; L, I, . 160 = B, 121. “ Bol. oben S. 61 f. 6* 84 | Die geſchichtsphiloſophiſchen Grundbegriffe Wer das nicht ſtets im Auge behält, verbaut ſich den Zugang zu Hegels Gedankenwelt. Dieſe eigentümliche Doppeldeutigkeit des Hegelſchen Denkens muß auch und gerade in ſeiner Lehre vom Volks⸗ geiſt zutage treten. Es wird ſich zeigen, daß die biologiſch⸗organiſche Betrachtungsweiſe in ſo markanten Zügen vorſchlagen kann, daß die logiſch⸗dialektiſche ſo gut wie ausgeſchaltet erſcheint. Der Fortſchritt in der Weltgeſchichte iſt eine „Stufenfolge des Be⸗ wußtſeins“. Solcher Bewußtſeinsſtufen — es handelt ſich im weſentlichen um das Freiheitsbewußtſein — unterſcheidet Hegel vier: die orientaliſche, die griechiſche, die römiſche und die chriſtlich-germa⸗ niſche Welt. Jede dieſer Stufen repräſentiert als organiſche Einheit geſehen ein weltgeſchichtliches Volk, bzw. ein weltgeſchichtliches Prinzip. Es lag nahe, jede dieſer qualitativ verſchiedenen Bewußt⸗ ſtufen mit den Entwicklungsphaſen zu vergleichen, die der einzelne Menſch durchläuft. Das Kind lebt dahin im dumpfen Bewußtſein der Welt, mit vorwaltend ſinnlichen Empfindungen, im Zutrauen zu der es leitenden Umgebung. Im Jüngling erwacht der bewußte Drang nach Selbſtändigkeit und Freiheit. Das Jünglingsalter bietet den „heitern Anblick der Jugendfriſche des geiſtigen Lebens“. Der Mann lebt in der Arbeit eines objektiven Zwecks. Das Greiſenalter iſt Schwäche und Verfall. Schon Leſſing hatte, auf „gewiſſe Schwärmer des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts“ zurück ſehend, ein „dreifaches Alter der Welt“, nämlich ein Kindes-, Knaben: und Mannesalter des Menſchengeſchlechts unterſchieden. ““ Damit war der Vergleich erſchöpft. Das Greiſenalter fehlt bei Leſſing. Einen Schritt über Leſſing hinaus tat Herder. Bei ihm zeigt ſich nicht nur, er empfand auch ſelber das Mißliche der Vor: ſtellung. „Nun iſt es gewiß nicht mehr als ein Einfall, wenn Her⸗ der die Völker mit den Lebensaltern vergleicht. Kindheit, Knaben⸗ e Die Erziehung des Menſchengeſchlechts a. a. O. 65 55. 71. 83. 88. 89. Dazu in der Enzyklopädie „Die Religion in Geſchichte und Gegenwart“ Artikel: Joachim von Floris (III, Sp. 579) und: Evangelium aeternum (II, Sp. 766). a Der Begriff des Vollsgeiſtes 85 alter, Jünglings⸗ und Manneszeit entſprechen den Patriarchen⸗ zuftänden, Agypten und Phönizien, Griechenland, Rom. Hiernach bliebe fürs chriſtliche Weltatlter mur das Greiſenalter, wenn nicht etwa eine neue Kindheit beginnt. Herder ſelbſt gibt die Vergleichung auf.“ 77 Hegel ordnet die orientaliſche Welt dem Kindesalter, die griechiſche Welt dem Jünglingsalter, die roͤmiſche Welt dem Mannes⸗ alter zu. Beim Greiſenalter verſagt der Vergleich. „Wenn man auch hier (gemeint iſt die chriſtlich⸗germaniſche Welt) den Geiſt mit dem Individuum vergleichen könnte, ſo würde dieſes Zeitalter das Greiſenalter des Geiſtes heißen müſſen. Es iſt das Eigentümliche des Greiſenalters, daß es nur in der Erinnerung, der Vergangen⸗ heit, nicht in der Gegenwart lebt; und ſo iſt hier der Vergleich un⸗ möglich.“ Ferner: „Das natürliche Greiſenalter iſt Schwäche; das Greiſenalter des Geiſtes aber iſt feine vollkommene Reife.“ 's Die Einſchränkungen, zu denen Hegel ſich gezwungen ſieht, zeigen, daß die Anwendung biologiſcher Kategorien auf die geſamte Menſchheits⸗ geſchichte eine vermutlich durch das Beiſpiel Leſſings und Herders veranlaßte, für ſeine Geſchichtsphiloſophie letztlich belangloſe Spie⸗ lerei iſt. a Anders dagegen ſteht es mit dem einzelnen weltgeſchichtlichen Volk. Beſſer ſagen wir ſtatt Volk Kultur. Hegel ſelber verſteht ja unter dem „Volksgeiſt“ den Geiſt oder die Seele einer Kultur, die, wie das Beiſpiel der orientaliſchen und chriſtlichen Welt zum Unterſchied von der griechiſchen und römiſchen zeigt, nicht mit dem geſchicht⸗ lichen Daſein eines einzigen Volkes identiſch zu ſein braucht. Mehrere Völker bezw. Nationen, jo hat es Hegel aufgefaßt, können demſelben Kulturkreiſe angehören oder, wie er ſtatt deſſen ſagt, dasſelbe geiſtige „Prinzip“ haben. Und hier ſetzt nun die biologiſch⸗ organiſche Betrachtungsweiſe in ihrem vollen Ernſte ein. Kulturen ſind für Hegel Organismen, die aufblühen, reifen und welken. Jede "Eugen Kühnemann, Herder 1912, S. 224. "*L, I, 135. 135 f. 234243 B, 155—160; L, III, 528 = B, 296. 86 Die geſchichtsphiloſophiſchen Grundbegriffe Kultur iſt ein organiſches Individuum und durchläuft die Phaſen der Kindheit, der Jugend, der männlichen Reife und des greiſen— haften Verfalls. „Der Volksgeiſt iſt ein natürliches Individuum; als ein ſolches blüht er auf, iſt ſtark, nimmt ab und ſtirbt. Es liegt in der Natur der Endlichkeit, daß der beſchränkte Geiſt ver— gänglich iſt.“ „So ſterben Individuen, ſo ſterben Völker eines natür⸗ lichen Todes.“ Das Volk kann trotzdem noch weiter exiſtieren, es kann noch viel tun in Krieg und Frieden, im Innern und Außern. Es kann ſich bei ſeinem Tode ſogar „recht gut befinden“. Aber ſeine Exiſtenz iſt alsdann nur ein bloßes gewohnheitsmäßiges „Fort⸗ vegetieren“. Seine Fortdauer iſt eine „intereſſeloſe, unlebendige Exiſtenz“. Sein Daſein iſt „aus dem Leben der Idee heraus: getreten“. Seine weltgeſchichtliche Miſſion iſt erloſchen.7? „Es iſt gleichſam die lebendige ſubſtantielle Seele ſelbſt nicht mehr in Tätigkeit.“ 80 — Damit droht die Weltgeſchichte zur Fauna aufſchießender und ab⸗ ſterbender Kulturen zu werden, die untereinander nichts mehr zu ſchaffen haben. Und die Geſchichtsphiloſophie wäre zu reduzieren auf eine Pſychologie und Phänomenologie zufälliger Kulturen, die in ſich ſelber höchſt planvoll, aber in der Geſamtheit ihres Daſeins ganz zwecklos wären. An dieſem kritiſchen Punkt offenbart ſich die Über— legenheit des Geiſtes über die Natur. Der Geiſt iſt zwar organiſches Individuum, aber er iſt geiſtiger, nicht natürlicher Organismus. Der Geiſt iſt ja überhaupt der Weltgeiſt. Und der Weltgeiſt iſt Einer. Dieſer all-eine, unendliche Weltgeiſt iſt ewige, lebendige Ge⸗ genwart in ſeiner eigenen zeitlichen Endlichkeit und Vergänglichkeit. Er iſt in ſich ſelbſt der Widerſpruch feiner ſelbſt. Er iſt auch die Auf: hebung dieſes Widerſpruchs. Er iſt dialektiſch. Die Weltvernunft iſt der Organismus ar Foy, der in feiner Entfaltung dialektiſch und in ſeiner Dialektik ſich entfaltend iſt. So finden die weltgeſchichtlichen Kulturen als Offenbarungen der Weltvernunft L, I, 45 ff. B, 120, % , 120. Der Begriff des Volksgeiſtes 87 in dieſer die ſie verknüpfende Einheit, indem ſie zu Momenten des ‚göttlichen Weltprozeſſes werden. „Die Prinzipien der Volksgeiſter in einer notwendigen Stufenfolge ſind ſelbſt nur Momente des einen allgemeinen Geiſtes, der durch ſie in der Geſchichte ſich zu einer ſich erfaſſenden Totalität erhebt und abſchließt.“ 1 In der dialektiſchen Stufenfolge der weltgeſchichtlichen Volksgeiſter er⸗ ſteht der Geiſt ftändig zu neuem Leben aus dem Untergang feiner vorigen Geſtalt. Inſofern er Organismus iſt in Zeit und Raum, wird ihm wie der lebendigen Natur das Recht und das Schickſal ſeines Vergehens. Aber unſterbliche Jugend in ſeinem zeitloſen Weſen durchbricht er die Hülle der Vergänglichkeit, um erhöht und geläutert ſeiner ewigen Beſtimmung entgegenzuſchreiten und in ihr ſich zu vollenden. Dieſe unvergleichliche Erhabenheit des organiſch⸗ dialektiſchen Geiſtes über die nur organiſche Natur iſt der tiefſte und letzte Sinn jener feierlichen Schlußakkorde, mit denen Hegels Allgemeine Einleitung zur Philoſophie der Weltgeſchichte ausklingt: „Indem wir die Weltgeſchichte begreifen, ſo haben wir es mit der Geſchichte zunächſt als mit einer Vergangenheit zu tun. Aber ebenſo ſchlechterdings haben wir es mit der Gegenwart zu tun. Was wahr iſt, iſt ewig an und für ſich, nicht geſtern und nicht morgen, ſondern ſchlechthin gegenwärtig, „Itzt' im Sinne der abſoluten Gegenwart. In der Idee iſt, was auch vergangen ſcheint, ewig unverloren. Die Idee iſt präſent, der Geiſt unſterb⸗ lichzes gibt kein Einſt, wo er nicht geweſen wäre oder nicht ſein würde, er iſt nicht vorbei und iſt nicht noch nicht, ſondern er iſt ſchlechterdings itzt. So iſt hier⸗ mit ſchon geſagt, daß die gegenwärtige Welt, Geſtalt des Geiſtes, ſein Selbſtbewußtſein, alle in der Geſchichte als früher erſcheinen⸗ den Stufen in ſich begreift. Dieſe haben ſich zwar als ſelbſtändig nacheinander ausgebildet; was aber der Geiſt iſt, iſt er an ſich immer geweſen, der Unterſchied iſt nur die Entwicklung dieſes Anſich * I, I, 5 = B, 124, a 88 Die geſchichtsphiloſophiſchen Grundbegriffe Der Geiſt hat alle Stufen der Vergangenheit noch an ihm, und das Leben des Geiſtes in der Geſchichte iſt, ein Kreislauf von ver⸗ ſchiedenen Stufen zu ſein, die teils gegenwärtig, teils in vergangener Geſtaltung erſchienen ſind. Indem wir es mit der Idee des Geiſtes zu tun haben und in der Weltgeſchichte alles nur als ſeine Erſchei⸗ nung betrachten, ſo beſchäftigen wir uns, wenn wir Vergangenheit, wie groß ſie auch immer ſei, durchlaufen, nur mit Gegenwärtigem. Die Philoſophie hat es mit dem Gegenwärtigen, Wirklichen zu tun. Die Momente, die der Geiſt hinter ſich zu haben ſcheint, hat er auch in ſeiner gegenwärtigen Tiefe. Wie er in der Geſchichte ſeine Momente durchlaufen hat, fo hat er fie in der Gegenwart zu durch⸗ laufen — in dem Begriff von ſich.“ “s? Wir glaubten das Geheimnis der Hegelſchen Dialektik verſtanden zu haben, indem wir ſie als Symbol einer Seele deuteten, die von einem ganz beſtimmten ethiſchen Pathos gegenüber dem Leben erfüllt iſt.ss Diefe Deutung ſagt noch nicht alles. Der endliche Geiſt mag in ſolcher Lebenshaltung dem Chaos ungehemmter Leidenſchaften und blinder Triebe entſteigen und eine anſehnliche Höhe gebildeten Menſchentums erreichen. Vollenden kann ſich dies Menſchentum erſt, wenn der Geiſt die Schranken der Endlichkeit durchbrechend ſeiner Unendlichkeit inne und gewiß geworden iſt. In jedem Moment des Endlichen und Vergänglichen das Gegenteil ſeiner ſelbſt: un— endlich und ewig zu ſein, das iſt nicht mehr Ethos, ſondern Re— ligion: „Das Wiſſen des Menſchen von Gott, das fortgeht zum Sichwiſſen des Menſchen in Gott.“ 84 „Das Endliche, von dem hier ausgegangen wird, iſt das reelle ſittliche Selbſtbewußtſein; die Negation, durch welche es ſeinen Geiſt zu ſeiner Wahrheit er— hebt, iſt die in der ſittlichen Welt wirklich vollbrachte Reinigung ſeines Wiſſens von der ſubjektiven Meinung und Befreiung ſeines Willens von der Selbſtſucht der Begierde. Die wahrhafte Religion 82 L, I, 165f. = B, 124f. Sperrung vom Verf. “ Vgl. oben S. 69. Enzyklopädie a. a. O. $ 564, S. 481. N a Der Begriff des Voltögeiftet 89 und wahrhafte Religioſität geht nur aus der Sittlichkeit hervor Nur aus ihr und von ihr aus wird die Idee von Gott als freier Geiſt gewußt; außerhalb des ſittlichen Geiſtes iſt es daher vergebens, wahrhafte Religion und Religioſität zu ſuchen.“ ?“ So hängen für Hegel Ethik und Religion untrennbar miteinander zuſammen. Die Dialektik Hegels iſt das Symbol einer Seele, die ſich als ethiſche und religiöfe jedem Naturalismus, damit auch dem Schickſal der organiſchen Natur ſchlechthin überlegen und dadurch erſt in ihrer wahren Freiheit geſichert weiß. Die Dialektik iſt die logiſche Kategorie, durch die ſich eine ſo ge— ſtimmte und geartete Seele in den als ſinnvoll und vernünftig gedachten Weltzuſammenhang hinein⸗ bezieht. ss Dieſe Symbolik iſt „das Geheimnis der Hegelſchen Dialektik“, deſſen Enträtſelung Eugen Heinrich Schmitt ge⸗ ſucht und nicht gefunden hat. So iſt denn alſo die geſchichtliche „Entwicklung“ jedes welthiſto⸗ riſchen Volkes nicht nur organiſche Entfaltung aller ſeiner keimhaft ver⸗ borgenen Möglichkeiten, ſondern dialektiſche Bewegung im Wechſel von Identität und Widerſpruch. Die Phaſe der Identität iſt die der höchiten Kraft und Reife, zu der der Volksgeiſt ſich hervorbringt. Der Widerſpruch, in den die Identität übergeht, iſt die Phaſe des Zerfalls und Untergangs. Die Verſöhnung des Widerſpruchs, durch den die Identität ſich mit ſich ſelbſt vermittelt, iſt das Empor⸗ kommen eines neuen weltgeſchichtlichen Prinzips, das aus dem im Dienſte der Idee verbrauchten alten Volke zwar hervorgeht, aber erſt durch das folgende, neue weltgeſchichtliche Volk realiſiert wird und ſo fort. Dialektiſch iſt die Entwicklung innerhalb des Volkes ſelbſt, dialektiſch iſt der Übergang von einem Volk zum andern. In A. a. O. f 582, S. 463. “ Folgerichtig ſieht Hegel in der Erſcheinung det chriſtlichen Religion den Höhepunkt in der Dialektik des welt: geſchichtlichen Prozeſſet. 90 Die geſchichtsphiloſophiſchen Grundbegriffe dem Erfaſſen dieſes Fortgangs und dieſer Übergänge hat der Ge⸗ ſchichtsphiloſoph ſeine Meiſterſchaft zu bewähren, ſeine Intuition zu verifizieren. „Es iſt das Wichtigſte, die Seele und das Ausgezeich⸗ nete im philoſophiſchen Auffaſſen und Begreifen der Geſchichte, den Gedanken dieſes Übergangs zu haben und zu kennen.“ 87 In der Phaſe der Identität ſind alle Individuen in der Einheit des ſubſtantiellen Volksgeiſtes gebunden, der in feinem Werk ſich hervor— gebracht und den Zwieſpalt zwiſchen dem Anſich, was er in ſeinem Weſen iſt, und der Wirklichkeit aufgehoben hat. In dieſer Periode, in der die Abſonderung der Individuen von dem Ganzen noch nicht ftattfindet, nennen wir das Volk ſittlich, tugendhaft und kräftig.“ Aber die Identität birgt in ſich das Gegenteil ihrer ſelbſt, den Widerſpruch. Tritt der Volksgeiſt in die Periode des Widerſpruchs, ſo bereitet er ſich ſelbſt den Untergang. Biologiſch-organiſch be— trachtet iſt dieſe Phaſe ſein „natürlicher Tod“, dialektiſch betrachtet iſt fie die „Tötung feiner ſelbſt“. 89 Der Volksgeiſt tritt aus feiner Unmittelbarkeit heraus, indem die Reflexion die Trennung des ſubjektiven Geiſtes von dem Allgemeinen bewirkt. Die Individuen treten in ſich zurück, ſtreben in ihrer Eitelkeit nach eigenſüchtigen Zwecken und ſuchen auf Koſten des Ganzen den eigenen Vorteil in der Befriedigung ihrer Leidenſchaften. Der Widerſpruch iſt das „Verderben“. Der Volksorganismus wird zerſetzt, indem die ein— zelnen Glieder ſich eigenmächtig aus ihm herauslöſen. Er zerfällt in anorganiſche Teile. Das Individuum, ſich iſolierend von dem Zuſammenhang des lebendigen Ganzen, flüchtet in eine ideale Welt, die der realen nunmehr entgegenſteht. „So ſind Wiſſenſchaften und das Verderben, der Untergang eines Volkes immer miteinander ver— paart.“ 90 Mit ſcharfen Strichen zeichnet Hegel das Bild des ver— derblichen Widerſpruchs: „Die Erſcheinung des Vergehens hat ihre verſchiedenen Geſtalten, daß von innen das Verderben herausbricht, r e . 0e BT 9% L, I, 48 f.; L, I, 160. 5 122 Der Begriff des Volksgeiſtes 91 die Begierden loswerden, daß die Einzelheit ihre Befriedigung ſucht und ſo der ſubſtantielle Geiſt zu kurz kommt und zertrümmert wird. Die einzelnen Intereſſen reißen die Kräfte, Vermögen an ſich, die vorher dem Ganzen gewidmet waren. So erſcheint das Negative als Verderben von innen, ſich zu beſondern. Es pflegt äußere Ge⸗ walt verbunden zu ſein, die das Volk außer den Beſitz der Herr⸗ ſchaft ſetzt und bewirkt, daß es das erſte zu fein aufhört. Diefe äufiere Gewalt aber gehort nur zur Erſcheinung; keine Macht kann ſich gegen den Volksgeiſt oder in ihm zerftörend geltend machen, wenn er nicht in ihm ſelbſt leblos, erſtorben iſt.“ 91 Aber der Wider⸗ ſpruch iſt wie das Verderben ſo auch „die Quelle und Geburtsſtätte einer neuen Geſtalt“. 92 „Die Entzweiung enthält, führt mit ſich das Bedürfnis der Vereinigung, weil der Geiſt einer iſt. Er iſt lebendig und ſtark genug, die Einheit hervorzubringen. Der Gegenſatz, worein der Geiſt mit dem niedern Prinzip tritt, der Wi⸗ derſpruch, führt zum böhbern... In dem Gegenſatze kann. .. der Geiſt nicht bleiben, er ſucht eine Ver⸗ einigung, und in der Vereinigung liegt das höhere Prinzip... Die Entzweiungenthältalſo das Höhere des Bewußtſeins.“ 93 „Hiermit hat ſich die ſubſtantielle Bes ſtimmtheit dieſes Volksgeiſtes geändert, d. i. ſein Prinzip iſt in ein anderes, und zwar höheres Prinzip aufgegangen.“ Die Vernich⸗ tung des alten iſt zugleich das Aufgehen des neuen Prinzips. Nicht ſowohl in ihrer ausſchließlichen Geltung für den individuellen Geiſt, in eminentem Maße für den Prozeß der Weltgeſchichte hat Hegel jene dialektiſche Grund formel geprägt: „Der Geiſt iſt 1 L, I, 47; der letzte Satz dem Sinne nach auch B, 121. L., I, 48 B, 123; L, I, 163. * ., I, 49. 161 f. Sperrung vom Verf. Dieſer außerorbent: lich wichtige Satz, der ſich nur in der neuen Ausgabe findet, bringt den prin⸗ ipiell entſcheidenden Aufſchluß über den dialektiſchen Charakter der Hegelſchen Geſchichtsphiloſophie. 92 Die geſchichtsphiloſophiſchen Grundbegriffe weſentlich Reſultat feiner Tätigkeit: feine Tätigkeit iſt Hinaus⸗ gehen über die Unmittelbarkeit, das Negieren derſelben und Rück⸗ kehr in ſich.“ 94 c) Goethe, Hegel und Spengler Daß hiermit Hegels Lehre vom Volksgeiſt mit ſeiner eigentümlichen Verſchlungenheit einer biologiſch-organiſchen und einer logiſch⸗dialek⸗ tiſchen Gedankenreihe richtig interpretiert iſt, kann durch einen lehr⸗ reichen Vergleich erhärtet werden, der den Geiſtbegriff Hegels noch einmal in die hellſte Beleuchtung rückt. Es wird dem mit dem Werke Oswald Spenglers® ver⸗ trauten Leſer nicht verborgen geblieben ſein, daß Hegels Begriff des Volksgeiſtes zuſammen mit ſeinem Geiſt- und Entwicklungs⸗ begriff Konzeptionen vorweggenommen hat, die, bei Hegel teils durchgeführt teils auch nur programmatiſch bleibend, bei Spengler mit dem Pathos der erſten Entdeckerfreude und dem ungeahnten Reiz der Neuheit auftreten. Längſt hätte Spenglers großgedachtes Buch nicht die faſzinierende und berauſchende Wirkung gehabt, wäre Hegels Geſchichtsphiloſophie dem gebildeten Publikum, wie es ſcheint, nicht nahezu unbekannt geblieben. Bedenkt man, welche immenſe Arbeit eines Jahrhunderts hiſtoriſcher Forſchung Spenglern zur Verfügung ſtand, um ſie mit ſeiner Intuition zu durchdringen und den Verſuch einer Syntheſe zu wagen, und erinnert man ſich des Umſtandes, daß Hegel kein ausgebildetes und methodiſch ge— ſichertes geſchichtswiſſenſchaftliches Denkmaterial vorfand, daß er ſelber erſt die Grundlage der hiſtoriſchen Forſchungsmethode mit⸗ legen half, “s daß er bereits ein Jahr, bevor Rankes erſtes Werk % L, I, 49f. B, 124. Vgl. oben S. 60f. s Der Untergang des Abendlandes a. a. O. s B, 577f. (Anmerkung 18 des Herausgebers); E. von Hartmann a. a. O. II, S. 229: „In der Geiſtesphiloſophie allein iſt alſo die Stätte des Entwicklungsbegriffes bei Hegel, in ihr hat er ihn aber auch in ſo glänzender Weiſe durchgeführt und zur Anerkennung gebracht, daß ſeitdem die ganze Kulturwelt direkt oder indirekt von dieſen Leiſtungen des Hegelſchen Genius gezehrt hat.“ Der Begriff des Volkigeifiet 93 über die romanischen und germaniſchen Völker (1824) erſchien, mit feinen Vorleſungen über die Philoſophie der Weltgeſchichte begonnen hatte (1822/23), — ſo erſcheint Hegel der ſtaunenden Bewunderung würdiger als Spengler. Spenglers Geſchichtophiloſophie — wenn man ſie überhaupt ſo nennen darf — enthält letzten Endes in methodiſcher Hinſicht keinen Gedanken, der nicht bereits von ſeiten Hegels wohl erwogen oder doch in Betracht gezogen ware. Eine Seite der Hegelſchen Geſchichtsphiloſophie, die biologiſch⸗ organiſche, zur ausſchließlichen gemacht, Hegel auf dieſen Aſpekt reduziert und eben dieſen Aſpekt zur alles erleuchtenden Grund⸗ anſicht erhoben zu haben, das iſt der Geſichtspunkt, aus dem an Hegel gemeſſen Spenglers „Umriſſe einer Morphologie der Welt⸗ geſchichte“ der hiſtoriſch⸗ſyſtematiſchen Betrachtung erſcheinen müſſen. Um ſo merkwürdiger iſt es, daß Spengler für Hegel nur einige Worte der Nichtachtung hat, daß in einem Buch von 615 Seiten, das die tiefſten Probleme geſchichtsphiloſophiſchen Denkens durch⸗ leuchten will, Hegels geſchichtsphiloſophiſcher Leiſtung nicht einmal mit wenigen Zeilen gedacht worden iſt. Gewiß verdankt man es Laſſons neuer Ausgabe, daß Hegels Lehre vom Volksgeiſt mit einer Ausführlichkeit erſcheint, die die zerſtückelten und vergleichs⸗ weiſe knappen Notizen der bisherigen Ausgaben dürftig erſcheinen läßt. Aber auch ohnedies hätte Hegel Beſſeres verdient, als von Spengler der „Naivität“ und der „Abſtruſitäten“ geziehen zu werben. 97 „Alle Geſchichtſchreibung iſt bisher eine durchaus anorganische Kombination objektiver Tatſachen und Beobachtungen geweſen, die ſich beſtenfalls aus einem Erkenntnisprinzip von ſozialer oder poli⸗ tiſcher, jedenfalls kauſaler Formulierung ergab, das man in Wirk⸗ lichkeit der Naturforſchung und zwar der materialiſtiſchen abgelauſcht hatte.“ „Die Welt als Geſchichte, aus ihrem Gegenſatz, Hartmann überfieht nur gänzlich, welche Bedeutung der dialektiſche Gedanke für den Entwicklungs begriff Hegels hat. Spengler a. a. O. S. 30. 152. N. a. O. S. 181 f. 94 Die geſchichtsphiloſophiſchen Grundbegriffe der Welt als Natur, begriffen, geſchaut, geſtaltet — das iſt ein neuer Aſpekt des Daſeins, der bis heute nie (!) angewandt, vielleicht dunkel gefühlt, oft geahnt, nie () mit allen feinen Kon⸗ ſequenzen gewagt worden iſt.“ s Dieſer als Poſition jener Negation entgegengeſtellte, immer wieder variierte und gleichſam als Axiom der neuen Geſchichtsbetrachtung auftretende Satz 100 iſt grundfalſch, denn Hegels Philoſophie widerlegt ihn auf Schritt und Tritt. Die Welt als Natur begreifen, darunter verſteht Spengler, die Welt als kauſal⸗-geſetzlichen Mechanismus im Objektſinne des Phyſikers „erkennen“. Die Welt als Natur iſt Raumgeſtaltung, iſt Gewordenes und Beſtändig-Mögliches, daher der Zahl unterworfen und dem Experiment. Die Welt als Geſchichte begreifen, heißt, ſie als Wer⸗ den „erleben“, als zeitlich- einmalige, nicht umkehr- und wieder⸗ holbare Richtung, als Schickſal. Die Welt geſchichtlich anſchauen, heißt, fie organiſch-lebendig, die Welt naturgeſetzlich erkennen, heißt, fie mechaniſch-entſeelt betrachten. Doch, wie es kein reines Gewor⸗ denes ohne den Einſchlag des Werdens gibt, ſo auch kein reines Werden ohne Beimiſchung von Gewordenem. „Eine Wirklichkeit iſt Natur, inſofern fie alles Werden dem Gewordenen, fie iſt Ges ſchichte, inſofern ſie alles Gewordene dem Werden einordnet.“ Auf dem Gehalt an Gewordenem beruht die Möglichkeit, der Geſchichte wiſſenſchaftlich etwas abzugewinnen, beruht die Möglichkeit einer Faufalspragmatifch verfahrenden „Wiſſenſchaft“ der Hiſtorie. Aber: „Je tiefer jemand Geſchichte erlebt, deſto ſeltener wird er ſtreng kauſale Eindrücke haben und deſto gewiſſer wird er ſie als gänzlich bedeutungslos empfinden.“ Denn die Geſchichte iſt diejenige Art der Welterfaſſung, welche das Gewordene dem Werden einordnet. Welche Art der Geſchichtsforſchung iſt alsdann dem Lebendig-Werdenden an⸗ gemeſſen, wenn die naturtwiſſenſchaftliche Denkungsart, die Ges ſchichte kauſal und geſetzlich zu erkennen, verſagt? Hier beruft ſich s A. a. O. S. 7. % A. a. O. S. 9. 35. 68 f. 79ff. 83. 137 ff. 143 ff. 145 f. 148, 167, 210f. 216f, Der Begriff des Vollsgeifles 95 Spengler auf Goethe, der mit feiner morphologiſch⸗phyſiogno⸗ miſchen Betrachtungsweiſe „die Darſtellung einer lebendigen Natur ohne Formeln, ohne Geſetze, faſt ohne Spuren von Kauſalem“ ge⸗ geben hat. Denn er betrachtete die Natur als Werden, nicht als Ge⸗ wordenes, als Geſchichte in der Zeit, nicht als Ausdehnung im Raum. Fa ſt ohne Spuren von Kauſalem! „Auch Goethes, lebendige Natur“, ein vollig unmathematiſches Weltbild, hatte noch ſo viel Gehalt an Totem und Starrem, daß er ſie wiſſenſchaftlich behandeln konnte.“ Morphologie iſt Geſtaltenlehre. „Alle Arten, die Welt zu begreifen, dürfen letzten Endes als Morphologie bezeichnet werden.“ Es gibt eine Morphologie des Mechaniſchen und Ausgedehnten, eine Wiſſenſchaft, die ſich in Naturgeſetzen und Kauſalbeziehungen be⸗ friedigt. Spengler nennt ſie „Syſtematik“. Und es gibt eine Morpho⸗ logie des Organiſchen, der Geſchichte und des Lebens, der Zeit und dem Schickſal zugeordnet. Spengler nennt fie „Phyſiognomik“. Die Morphologie der Weltgeſchichte muß im Sinn und Geiſte Goethes Phyſiognomik ſein. Das heißt, ſie muß in jeder Weltkultur das Seelentum entdecken, deſſen geſtaltgewordener Ausdruck ſie iſt. Nicht naturgeſetzliche und kauſale, ſondern phyſiognomiſche und ſym⸗ boliſche Beziehungen muß ſie ermitteln. Sie fragt nicht nach der Urſache, ſondern der ſymptomatologiſchen Bedeutung der Kultur⸗ eteigniſſe. Denn fie betrachtet die Kultur als einen Organismus, in deſſen Gliedern ein und dasſelbe Leben pulſiert, ein und dieſelbe Seele ſich ſpiegelt. Alle Geſchichte iſt das Bekenntnis einer Seele. „Alles, was überhaupt geworden iſt, alles, was erſcheint, iſt Symbol, iſt Ausdruck einer Seele. Es will mit dem Auge des Menſchenkenners betrachtet, es will nicht in Geſetze gebracht, es will in ſeiner Bedeutung gefühlt werden.“ Und ſo kommt Spengler zur Definition deſſen, was er noch als den einzig möglichen Sinn einer Geſchichtsphiloſophie gelten laſſen will: „Die ſichtbare Außen⸗ ſeite aller Hiſtorie hat demnach dieſelbe Bedeutung wie die äußere Erſcheinung des einzelnen Menſchen, Wuchs, Miene, Haltung, Gang, 96 Die geſchichtsphiloſophiſchen Grundbegriffe Sprache, Tätigkeit. Das alles iſt für den Menſchenkenner da. Der Leib, das Begrenzte, Gewordene, Vergängliche iſt Ausdruck der Seele. Aber Menſchenkenner ſein bedeutet auch jene menſchlichen Organismen größten Stils, die ich Kulturen nenne, kennen, ihre Miene, ihre Sprache, ihre Handlungen begreifen, wie man die eines einzelnen Menſchen begreift. Geſchichte als Philoſoph ſchreiben heißt das tun, was Shakeſpeare tat, als er ſeine Tragödien einzelner Menſchen ſchrieb.“ 101 Es iſt die Anwendung der Naturbetrachtung Goethes auf die Geſchichte, der Spengler das Wort redet. Genau das, was Goethe unter „lebendiger Natur“ verſtand, will Spengler als „Weltgeſchichte“, d. h. „Welt als Geſchichte“ verſtanden wiſſen. „Und ſo wie er (Goethe) die Entwicklung der Pflanzenform aus dem Blatt, die Entſtehung des Wirbeltiertypus, das Werden der geologischen Schichten verfolgte — das Schickſal der Natur, nicht ihre Kauſalität — ſoll hier die Formenſprache der menſchlichen Hiſtorie, ihre periodiſche Struktur, der Atem der Ge— ſchichte aus der Fülle aller ſinnfälligen Einzelheiten entwickelt wer: den.“ Der Philoſophie Goethes fühlt ſich Spengler in erſter Linie verpflichtet und zitiert gleichſam als deren Grundprinzip Goethes Wort zu Eckermann (13. II. 1829): „Die Gottheit aber iſt wirkſam im Lebendigen, aber nicht im Toten; fie iſt im Werdenden und ſich Verwandelnden, aber nicht im Gewordenen und Erſtarrten. Deshalb hat auch die Vernunft in ihrer Tendenz zum Göttlichen es nur mit dem Werdenden, Lebendigen zu tun, der Verſtand mit dem Gewordenen, Erſtarrten, daß er es nutze.“ 102 101 A. a. O. 92 Spengler a. a. O. S. 35. 59. 69. 77. 81. 89. 96. 139. 158 f. 166. 211. 215f. — Über Goethe vgl. H. St. Chamberlain, Goethe, München 1912, S. 241— 367 (der Naturerforfcher) und Georg Simmel, Goethe, Leipzig 1913, S. 69 ff. 123. 166 (Organismus); S. 56 ff. (Urphänomen); S. 81 f. 12 1ff. (Geſtalt und Werden); S. 12 ff. 253f, (Symbol). Ferner Ernſt Caſſirer a. a. O. S. 271—417. Der Begriff des Vollsgeiſtes 97 Nicht nur, daß Hegels Philoſophie des Geiſtes eine einzigartig großartige Durchführung dieſes Themas iſt — nur zum Unterſchied von Goethe nicht auf dem Gebiet der Natur, ſondern eben auf dem des Geiſtes —, bereits 28 Jahre früher hatte Hegel in ganz ähnlicher Weiſe in feiner Schrift »Differenz des Fichteſchen und Schellingſchen Syſtems der Philofophie« (1801) das Thema ſeines Philoſophierens formuliert. Das Bedürfnis der nach Einheit ſtrebenden Philoſophie reſultiert für Hegel aus der Entzweiung des Verſtandes. „Entzweiung iſt der Quell des Bedürfniſſes der Philos ſophie und als Bildung des Zeitalters die unfreie, gegebene Seite der Geſtalt. In der Bildung hat ſich das, was Erſcheinung des Abſoluten iſt, vom Abſoluten iſoliert und als ein Selbſtändiges fixiert.“ Der Verſtand, die Reflexionsphiloſophie, ergeht ſich in der Fixierung von Unterſchieden und Gegenſätzen. Das in lebendigem Fluß Befindliche läßt er erſtarren und auseinandertreten. „Solche feſtgewordene Gegenſätze aufzuheben, iſt das einzige Intereſſe der Vernunft.“ Die Philoſophie iſt der „notwendige Ver⸗ ſuch, die Entgegenſetzung der feſtgewordenen Sub⸗ jektivität und Objektivität aufzuheben und das Gewordenſein der intellektuellen und der reellen Welt als ein Werden, ihr Sein (als Produkte) als ein Produzieren zu begreifen. In der unendlichen Tätigkeit des Werdens und Produzierens hat die Vernunft das, was getrennt war, vereinigt, und die abſolute Entzweiung zu einer relativen her⸗ untergeſetzt, welche durch die urſprüngliche Iden⸗ tität bedingt iſt“. 103 Spengler ahnt nichts davon, daß Hegel als Philoſoph des Lebendigen Goethe durchaus ebenbürtig iſt und daß er Goethes Philoſophie der lebendigen Natur eine gleichwertige, wenn nicht überlegene Philoſophie des lebendigen, werdenden Geiſtes zur Seite ſtellte. Dieſe tiefe Verwandtſchaft der Goetheſchen und ee Hegel, Sämtliche Werke I, S. 172. 174. beef, efcigtephilefopdie ele a 98 Die geſchichtsphiloſophiſchen Grundbegriffe Hegelſchen Denkart haben beide Männer wohl erkannt und ſind darüber zu Freunden geworden. In demſelben Briefe, in dem Goethe ſeine Verwunderung über eine Stelle der Hegelſchen Logik ausdrückt, nennt er ihn einen „vorzüg⸗ lichen Denker, der eine Idee penetriert und recht wohl weiß, was ſie an und für ſich wert iſt“. 104 In einem Brief an Hegel weiſt er auf die Dieſelbigkeit ihrer Methode hin, die ſie verbindet. „Fahren Sie fort, an meiner Art, die Natur⸗ gegenſtände zu behandeln, kräftigen Teil zu nehmen, wie Sie bisher getan! Es iſt hier die Rede nicht von einer durchzuſetzenden Mei— nung, ſondern von einer mitzuteilenden Methode, deren ſich ein jeder als eines Werkzeugs nach ſeiner Art bedienen möge.“ 105 Goethe dankt es einem Brief von Hegel, daß er, Hegel, ihn zu größerer Klarheit über ſich ſelbſt bringe. „Dieſer merkwürdige, geiſtreiche Mann hat, wie meine Chroageneſie überhaupt, ſo auch dieſes Kapitel derſelben dergeſtalt penetriert, daß meine Arbeit mir nun ſelbſt erſt recht durchſichtig geworden.“ 106 Vier Wochen ſpäter antwortet er Hegel ſelber: „Daß Sie mein Wollen und Leiſten, wie es auch ſei, ſo innig durchdringen und ihm einen vollkommenen, motivierten Beifall geben, iſt mir zu großer Ermunterung und Fördernis.“ 107 Drei Jahre ſpäter ſchreibt Goethe an Hegel: „Da Ew. Wohl⸗ geboren die Hauptrichtung meiner Denkart billigen, ſo beſtätigt mich dies in derſelben nur um deſto mehr und ich glaube nach einigen 10% Mol, oben S. 69f. 1% Am 7. X. 1820. Goethe⸗Briefe a. a. O. VII, S. 257. 106 An C. F. L. Schultz 10. I. 1821, Goethe⸗Briefe a. a. O. VII, S. 269, 1% Am 13. IV. 1821. Goethe:Briefe a. a. O. VII, S. 270. Vgl. Kuno Fiſcher a. a. O. 1, S. 159: „In dem einzigen uns erhaltenen Briefe Hegels an Goethe vom 24. Februar 1821 hatte er den großen geiſtigen Naturſinn gerühmt, womit Goethe das Weſen der Erſcheinung in ihrer einfachſten Form als „‚Urphänomen“ zu erfaffen wiſſe in Farben, Wolken, Steinen, Pflanzen und Knochen; er hatte das Urphänomen nach Goethe mit dem Urprinzip oder dem Abſoluten nach ſeiner eigenen Lehre verglichen.“ Der Begriff des Volltgeifed 99 Seiten hin bedeutend gewonnen zu haben, wo nicht fürs Ganze, doch für mich und mein Inneres. Möge alles, was ich noch zu leiſten fähig bin, ſich immer an dasjenige anſchließen, was Sie gegründet haben und auferbauen. Erhalten Sie mir eine fo ſchöne, laͤngſt herkömmliche Neigung und bleiben überzeugt, daß ich mich derſelben als einer der fchönften Blüten meines immer mehr und mehr ſich entwickelnden Seelenfrühlings zu erfreuen durchaus Ur⸗ ſache finde.“ 108 f Und endlich ſchrieb Goethe über Hegel: „Hegels Gegenwart war mir von großer Bedeutung und Erquickung ... Die Unterhal⸗ tung... mußte den Wunſch erregen, längere Zeit mit ihm zus ſammen zu bleiben: denn was bei gedruckten Mitteilungen eines ſolchen Mannes uns unklar und abſtrus erſcheint, weil wir ſolches nicht unmittelbar unſerem Bedürfnis aneignen können, das wird im lebendigen Geſpräch alſobald unſer Eigentum, weil wir gewahr werden, daß wir in den Grundgedanken und Geſinnungen mit ihm übereinftimmen, und man alſo in beiderſeitigem Entwickeln und Aufſchließen ſich gar wohl annähern und vereinigen könnte.“ 109 In der Tat, Hegel ſah, wie Goethe die Welt der Natur, ſo die Welt des Geiſtes und der Geſchichte als beftändige Metamorphoſe, als Werden und Leben. Die kauſal⸗mechaniſche Weltanſicht iſt Hegel ebenſo fremd wie Goethe. Und es gehört zu den Übertreibungen und Nachläſſigkeiten Spenglers, die den großzügigen Wurf ſeines Buches ſo peinlich entſtellen, wenn er als „völlig neue Philoſophie“, als „Philoſophie der Zukunft“ fordert: die „Idee einer Morphologie der Weltgeſchichte, der Welt als Geſchichte, die im Gegenſatz zur Morphologie der Natur, bisher (1) dem einzigen () Thema der Philoſophie, alle Geſtalten und Bewegungen der Welt in ihrer tiefſten und letzten Bedeutung noch einmal, aber in einer ganz andern Ordnung, nicht zum Geſamtbilde alles Erkannten, ſondern % Am 3. v. 1824, Goethe⸗Briefe a. a. O. VIII, S. 60. % An Knebel 14. XI. 1827, Goethe⸗Briefe a. a. O. VIII, S. 201, 7* 100 Die geſchichtsphiloſophiſchen Grundbegriffe zu einem Bilde des Lebens, nicht des Gewordenen, ſondern des Werdens zuſammenfaßt“. 110 Was Spengler als völlig neue . Philoſophie der Zukunft poſtuliert, das war bereits hundert Jahre früher von Hegels Geſchichtsphiloſophie, wenn nicht vollkommen erfüllt, ſo doch in nachdrücklichſter Weiſe begründet worden. 111 Hegels unverhohlene Abneigung gegen die pragmatiſch⸗ kauſale Geſchichtsauffaſſung; ſein dynamiſches, nicht ſtatiſches, dem lebendigen Werden, nicht dem ſtarren Sein zugekehrtes Weltbild; ſeine Lehre vom Geiſt als eines niemals Fertigen und Ruhenden, ſondern eines raſtlos Werdenden, Tätigen und Strebenden, dem jede Geſtaltung zum Material neuer Bildung wird, dem nicht ſein gewordenes Produkt, vielmehr fein Sich-Produzieren Geſchäft ift; ſeine Auffaſſung ausgebildeter und reifer Kulturen als Organismen, die wie alle lebendigen Individuen aufblühen, erſtarken, abnehmen und eines „natürlichen Todes“ ſterben; ſein Aufſpüren der „inneren leitenden Seele“, die alle Kulturſchöpfungen als Glieder eines Kör— pers, als Ausgeſtaltungen eines Prinzips, als Symbole eines Ge⸗ halts, als Erſcheinungen eines Urphänomens zu deuten geſtattet; ja, ein ſo ſelbſtverſtändlich und beiläufig auftretender Satz wie dieſer: „Die Weltgeſchichte iſt alſo überhaupt die Auslegung des Geiſtes in der Zeit, wie ſich im Raume die Idee als Natur aus⸗ legt,“ 112 — alle dieſe bereits eingehend erläuterten Momente laſſen erkennen, daß Hegel ſchon längſt in voller Deutlichkeit das geſehen hatte, was Spengler nach Goethe als erſter wieder zu ſehen und ſagen zu müſſen glaubte. Spenglers Programm einer allumfaſſen⸗ den Phänomenologie und Phyſiognomik der Kulturen, ſeine For⸗ derung, die unter der lauten Oberfläche der Vielgeſtaltig- und Ge⸗ 10 Spengler a. a. O. S. 6f. 1 Herder hatte hier ſchon mächtig vorgearbeitet, Vgl. E. Kühnemann, Herder a. a. O. S. 223 ff. 35 1f. 366. 376. 1 L, I, 134 =B, 117. Sperrung vom Verf. Spengler nimmt die Zuordnung der Zeit zur Geſchichte und des Raumes zur Natur als ſein beſonderes Verdienſt in An⸗ ſpruch. A. a. O. S. 172 ff. 178f. - * Der Begriff des Vollageiſtes 101 ſchäftigkeit der Geſchichte ſtill verborgenen „morphologiſchen Der: wandtſchaften“ 119 zu erforſchen, hätte Hegel nicht nur gebilligt, er hat ſie ſelber erhoben und, ſo gut er bei dem damaligen Quellen⸗ material vermochte, auch durchgeführt. 11“ Daß nach einem Jahr⸗ hundert hiſtoriſcher Forſchung Spengler dieſe Aufgabe mit ver⸗ ſtärkter Energie — nicht von vorne — in Angriff genommen, ſie in noch umfaſſenderem Sinne als Hegel aufgerollt und ſie in einem glänzend geſchriebenen, wenn auch in Einzelheiten ſicherlich vielfach verfehlten Werke eindrucksvoll hingeſtellt hat, vermag Hegels Ver⸗ dienſt nicht in den Schatten zu ſtellen, ſo wenig Spenglers Verdienſt durch den Hinweis auf Hegel beſtritten werden kann. Über dieſer Einſtimmigkeit zwiſchen Hegel und Spengler darf aber die tiefliegende Differenz nicht unausgeſprochen bleiben, die gleich⸗ zeitig beide in unverſöhnlicher Schärfe einander gegenübertreten läßt. Was bei Hegel als ein freilich weſentlicher und ſehr ernſthafter, aber doch nur als einer unter mehreren Zügen ſeiner Geſchichtsphiloſophie erſcheint, wird von Spengler mit radikaler Ausſchließlichkeit zu dem ſchlechthin entſcheidenden Grundprinzip gemacht. Dieſe Frage be⸗ trifft den Zuſammenhang der weltgeſchichtlichen Kulturen unter⸗ einander. Aus der Auffaſſung der Kulturen als Organismen, alſo aus der biologiſchen Betrachtungsweiſe, folgert Spengler ihre Zu⸗ ſammenhangsloſigkeit inſofern, als ſie nicht, wie Hegel dies tut, einer Entwicklungsreihe eingeordnet werden dürften. Es iſt die pluraliſtiſche Denkart Spenglers im Gegenſatz zur moniſtiſchen Hegels. Dieſer Gegenſatz wurzelt in der verſchiedenen Faſſung des Geiſtbegriffs. Gegen den Einheitsgedanken iſt es gerichtet, wenn Spengler ſagt: „Man ſehe in den Worten Jugend, Aufſtieg, Blüte⸗ 113 Spengler a. a. O. S. 3. 1 Bol, Hegels wichtigen Satz LM, I, 156 B, 114: „Es gibt alſo freilich in allen welthiſtoriſchen Völkern Dichtkunſt, bildende Kunſt, Wiſſenſchaft, auch Philoſophie aber nicht nut iſt Ton, Stil und Richtung überhaupt, ſondern noch vielmehr der Gehalt verſchieden, und biefer Gehalt betrifft den höchſten Unterſchied, den der Vernünftigkeit.“ Sperrung vom Verf. 102 Die geſchichtsphiloſophiſchen Grundbegriffe zeit, Verfall, die bis jetzt regelmäßig und heute mehr denn je der Ausdruck ſubjektiver Wertſchätzungen und allerperſönlichſter In⸗ tereſſen ſozialer, moraliſcher, äſthetiſcher Art waren, endlich ob⸗ jektive Bezeichnungen organiſcher Zuſtände; man ſtelle die antike Kultur als in ſich abgeſchloſſenes Phänomen, als Körper und Aus⸗ druck der antiken Seele, neben die ägyptiſche, indiſche, babyloniſche, chineſiſche, abendländiſche und ſuche das Typiſche in den wechſelnden Geſchicken dieſer großen Individuen, das Notwendige in der unbän⸗ digen Fülle des Zufälligen und man wird endlich das Bild der Weltgeſchichte ſich entfalten ſehen, das uns, den Menſchen des Abendlandes, und uns allein natürlich iſt.“ 115 Die Weltgeſchichte iſt für Spengler das Nebeneinander und Außereinander von Kultur⸗ typen, die es auf ihre Struktur zu erforſchen gilt. Einen Plan, eine Einheit, einen Zuſammenhang der Entwicklung, ein Aus- und Nach⸗ einander in der Weltgeſchichte zu ſehen, wie Hegel, erſcheint abſurd. „Die „Menſchheit“ hat kein Ziel, keine Idee, keinen Plan, fo wenig die Gattung der Schmetterlinge oder der Orchideen ein Ziel hat.“ 116 Nur einen Zuſammenhang läßt Spengler gelten, da das Denken eine einheitſtiftende Funktion iſt und ſich als ſolche ſelbſt da geltend macht, wo man ſie am entſchiedenſten verbannt zu haben glaubt. Es iſt Spenglers undeutlicher und nur ganz gelegentlich auftretender Begriff des „Urſeelentums“. „Eine Kultur wird in dem Augenblick geboren, wo eine große Seele aus dem urſeelenhaften Zuſtande ewig⸗kindlichen Menſchentums erwacht, ſich ablöſt, eine Geſtalt aus dem Geſtaltloſen, ein Begrenztes und Vergängliches aus dem Gren— zenloſen und Verharrenden. Sie erblüht auf dem Boden einer genau abgrenzbaren Landſchaft, an die ſie pflanzenhaft gebunden bleibt. Eine Kultur ſtirbt, wenn dieſe Seele die volle Summe ihrer Mög— lichkeiten in der Geſtalt von Völkern, Sprachen, Glaubenslehren, Künſten, Staaten, Wiſſenſchaften verwirklicht hat und damit wieder 115 Spengler a. a. O. S. 28 f. 36. 11 A. a. O. S. 28. 2 BZ Tr Der Begriff des Volksgeiſtes 103 ins Urſeelentum zurückkehrt.“ 117 Damit widerlegt Spengler ſich ſelbſt. Denn mit dieſer vorausgeſetzten Identitat des Urſeelentums iſt auch ein Zuſammenhang, eine Verwandtſchaft, eine Befruch⸗ tungs⸗ und Beeinfluffungsmöglichkeit ihrer Erſcheinungen, der ein⸗ zelnen Kulturſeelen untereinander poſtuliert und damit die Aufgabe aller Geſchichtophiloſophie in ihr unverlierbares Recht wieder ein⸗ geſetzt. Spengler redet vom grenzenloſen und verharrenden „Ur⸗ feelentum” zum Unterſchied von den ſich aus ihm ablöſenden be⸗ grenzten und vergänglichen „Kulturſeelen“. Hegel ſpricht von dem unendlichen, ewigen, all⸗einen „Weltgeiſt“ zum Unterſchied von den endlichen und vergänglichen „Volksgeiſtern“. Aber die „Seele“ Spenglers iſt nicht der „Geiſt“ Hegels. Spengler ſtellt die Welt als Geſchichte der Welt als Natur gegenüber und umgekehrt. Wohl⸗ verſtanden, die gewordene, tote Natur der werdenden, lebendigen Geſchichte, aber die letztere immer im Sinne der wer⸗ denden Natur gefaßt! Aus dieſem Geſichtspunkt baut er ſein Weltbild auf. Er hat den Geiſt und damit auch die Geſchichte der werdenden Natur ſchranken⸗ und bedingungslos unterworfen. Er hat die werdende Natur zur Ausſchließlichkeit gemacht und einen werdenden Geiſt neben ihr geleugnet. Werdende (organiſche) und gewordene (mechaniſche) Natur ſind für Spengler die Urgegen⸗ ſätze, während der Geiſt für ihn günſtigſten Falls auf derſelben Ebene liegt wie die organiſche Natur. „Man hat ſonſt den Menſchen den Organismen der Erdoberfläche zugerechnet und mit Grund. Sein Körperbau, ſeine natürlichen Funktionen, ſeine ganze ſinnliche Erſcheinung, alles gehört einer umfaſſenderen Einheit an. Nur hier macht man eine Ausnahme, trotz der tiefgefühlten Verwandtſchaft des Pflanzenſchickſals mit dem Menſchenſchickſal — einem ewigen Thema aller Lyrik — trotz der Ahnlichkeit aller menſchlichen Ge⸗ ſchichte mit der jeder andern Gruppe höherer Lebeweſen — einem 1 A. a. O. S. 153. Statt „Urſeelentum“ oder „Urſeele“ jagt Spengler auch das „Ewig⸗Seeliſche. A. a. O. S. 282 f. 104 Die geſchichtsphiloſophiſchen Grundbegriffe Thema unzähliger Märchen, Sagen und Fabeln.“ 118 „Ku (turen find Pflanzen.“ 119 Mit diefen drei Worten iſt alles gejagt. Mit ihnen ſteht und fällt die Konſtruktion Spenglers. Spengler hätte ebenſogut und mit demſelben Rechte ſagen können: Geiſt iſt Pflanze. Für Hegel iſt Geiſt nicht Pflanze, wie ſein Entwick⸗ lungsbegriff beweiſt. In ſeiner Dialektik des individuellen Geiſtes, des Volksgeiſtes, des Weltgeiſtes hat Hegel nicht eine dualiſtiſche Gegenſätzlichkeit, wohl aber eine prinzipielle Höhergeartetheit des lebendigen Geiſtes gegenüber der lebendigen Natur zum ſtärkſten Ausdruck gebracht. In der Dialektik hat er den Weg, das Mittel, die Methode gefunden, in aller eigenartigen Vielgeſtaltigkeit der Volksgeiſter dennoch den einen Geiſt und in ihm den Zuſammen⸗ hang der Weltgeſchichte zu ſehen, die für ihn durchaus nicht „mo⸗ noton“ und „linienförmig“ iſt. 120 Daß Hegels Einheitsbild trotz aller dialektiſchen Bewegtheit von ernſthaften Schwierigkeiten ge⸗ drückt iſt und daß er dieſe Schwierigkeiten ſelber empfunden hat, werden wir ſehen, wenn wir mit ihm die orientaliſche Welt be- treten. Aber fein organiſcher Geiſtbegriff, den er, im Gegenſatz zu Spengler, von ſeinem organiſchen Naturbegriff ſorgfältig abgegrenzt und unterſchieden hat, gab ihm das Recht, in der Weltgeſchichte mehr zu ſehen als ein Neben- und Außereinander völlig beziehungs⸗ loſer und reſtlos biologiſch determinierter Kulturen. Hegels Dialektik und damit ſein Geiſtbegriff iſt aber, wie wir ſahen, zu tiefſt der ſymboliſche Ausdruck eines alogiſchen Lebensgefühls, das wir als ethiſches und religiöſes bezeichnet und näher beſtimmt haben. 121 Darin fühlte er ſich nicht mehr als gleichgültiges Glied im Kreis: lauf der organiſchen Natur, ſondern dieſem Kreislauf entnommen und überlegen als Glied einer höheren Weltwirklichkeit. Spengler dagegen fühlt das Menſchenſchickſal als Pflanzenſchickſal. Spengler fühlt naturaliſtiſch, um nicht zu ſagen materialiſtiſch, während 118 A. a. O. S. 35f. 11e A. a. O. S. 199. Sperrung vom Verf. 1e Spengler a. a. O. S. 29. 11 Vol, oben S. 69. 88f. * Der Begriff der Freiheit 105 Hegels Denken in religisſen Tiefen verwurzelt iſt. Der Gegen⸗ ſatz von Hegel und Spengler läuft daher im allerletzten Grunde auf den Antagonismus zweier Urgefühle hinaus, die jenſeits aller rationalen Verſtändigungsmöglichkeiten belegen find, Nur inſofern kann man vor dem Forum des Denkens noch urteilen, daß Hegel „mehr Recht“ hat als Spengler, als nämlich Hegel der umfaſſendere Denker iſt, indem er Spenglers methodiſche Grundfäge feinem Syſtem ein⸗ und ſeinem abſchließenden Gedanken unterzuordnen vermag. z 4. Der Begriff der Freiheit Die Weltgeſchichte ift der Fortſchritt des Geiftes im Bewußtſein der Freiheit. Und die Freiheit iſt die Subſtanz des Geiſtes. Es war daher bei der Erörterung des Hegelſchen Geiſt- und Entwicklungs⸗ begriffs nicht zu vermeiden, auch den der Freiheit gleich mitzuberück⸗ ſichtigen. Mit der genaueren Analyſe des Freiheitsbegriffs wenden wir uns inſonderheit dem dritten, ethiſchen Momente zu, das Hegel mit dem logiſch⸗dialektiſchen und biologiſch⸗organiſchen zu einer untrennbaren Einheit verknüpft hat. 122 Um die ſittliche Geneſis des Freiheitsbegriffes aufzuhellen, bietet Hegels Auseinanderſetzung mit der Naturrechtstheorie des Auf⸗ klärungszeitalters den willkommenen Einſatzpunkt. 123 Nach dieſer Theorie iſt der Menſch „von Natur frei“, d. h. der urſprüngliche, hiſtoriſche „Naturzuſtand“ der Menſchheit wird ſo vorgeſtellt, daß in ihm der Menſch ſeine „natürlichen Rechte“ beſeſſen und ſeine „natürliche Freiheit“ unbeſchränkt ausgeübt und genoſſen habe. Der ſpätere Kulturzuſtand der Geſellſchaft und des Staates, worein 1 Mol, oben S. 61 f. * Hegel denkt an die Locke⸗Rouſſeauſche Theorie des idealen Naturzuſtandes, die über Grotius, Althuſius, Cicero auf die Stoa zurück⸗ geht. Von dem ſtoiſchen Begriff des Naturrechts als eines idealen Rechts iſt det Naturbegriff Hobbes ſtreng zu unterſcheiden, für den der Naturzuſtand der Krieg aller gegen alle it. Paul Barth, Die Stoa 1908, S. 190 ff. 283ff. 106 Die geſchichtsphiloſophiſchen Grundbegriffe der Menſch notwendig trete, habe ſein Recht und ſeine Freiheit zu ſeinem Nachteil beſchränkt. Eine dieſer verwandte iſt die Theorie Schellings und Schlegels, wonach der Geſchichte des Menſchen— geſchlechts ein „Urvolk“ vorausgehe, das im Beſitze der vollkommen⸗ ſten, unmittelbar von Gott geoffenbarter Wahrheiten und Erkennt⸗ niſſe geweſen ſei. Der Zuſtand der früheſten geſchichtlichen Völker beruhe auf der Entartung und Verſchlechterung, einem Zurückſinken aus jenem Zuſtand hoher Kultur, von der ſich alsdann nur noch entſtellte Reſte in den Mythologien und Sagen der älteſten Völker erhalten haben. Dieſe als hiſtoriſches Faktum vorgebrachte Hypotheſe ſetzt nach Hegel voraus, was erſt geſchichtlich zu begründen und zu bewähren wäre. Insbeſondere ſagt er von der Naturrechtstheorie: „Jene Annahme iſt eines von ſolchen nebuloſen Gebilden, wie die Theorie ſie hervorbringt, eine aus ihr fließende notwendige Vor— ſtellung, welcher ſie dann auch eine Exiſtenz unterſchiebt, ohne ſich jedoch hierüber auf geſchichtliche Art zu rechtfertigen.“ Der Satz: „Der Menſch iſt von Natur frei“ iſt richtig und falſch, je nachdem, was man unter Natur verſteht. Verſteht man unter „Natur“ das, was der Menſch an ſich, ſeiner Anlage und ſeinen Möglichkeiten nach iſt, fo iſt jener Satz richtig. Dann iſt der Menſch feiner Beſtim— mung nach frei, aber in ſeiner unmittelbaren natürlichen Exi— ſtenz iſt er unfrei. „Nach unſerm Begriffe von Geiſt iſt dieſer erſte Zuſtand des Geiſtes ein Zuſtand der Unfreiheit, worin der Geiſt als ſolcher nicht wirklich iſt.“ Verſteht man aber wie die Naturrechtstheorie umgekehrt unter „Natur“ die hiſtoriſche Ur— exiſtenz der Menſchheit, jo iſt der Satz falſch. „Es würde .. wenn man Ernſt mit dieſer Annahme machen wollte, ſchwer ſein, ſolchen Zuſtand nachzuweiſen, daß er in gegenwärtiger Zeit exiſtiere oder in der Vergangenheit irgendwo exiſtiert habe.“ Dagegen kann man Zuſtände der Wildheit nachweiſen, die ſich mit Leidenſchaften der Roheit und Gewalttaten der Willkür verknüpft zeigen. „Daher iſt der Naturzuſtand vielmehr der Zuſtand des Unrechts, der Gewalt, Der Begriff der Freiheit 107 des ungebändigten Naturtriebs, unmenſchlicher Taten und Empfin⸗ dungen.“ Die Freiheit iſt als Möglichkeit Anfang, als Wirklichkeit Reſultat. „Die Freiheit iſt nicht als ein Unmittelbares und Natür⸗ liches, ſondern muß vielmehr erworben, erſt gewonnen werden und dies durch eine unendliche Vermittelung der Zucht des Wiſſens und Wollens.“ Von Anbeginn geſellſchaftlichen Zuſammenlebens der Menſchen, nicht erſt mit der Ausbildung des Staates find „be⸗ ſchränkende Einrichtungen“ vorhanden. Aber fie beſchränken nicht die Freiheit, die noch gar nicht da iſt, ſondern die zerſtörenden Mächte der Willkür. Jene Beſchränkungen ſind die beginnende Ver⸗ mittelung der Zucht und ſchlechthin die Bedingung, aus welcher erſt das Bewußtſein und das Wollen der Freiheit hervorgehen. Es iſt der „ewige Mißverſtand“, daß der Trieb, die Begierde, die Leidenſchaft, die Willkür und das Belieben des partikulären In⸗ dividuums für die Freiheit und die Beſchränkung jener für eine Beſchränkung der Freiheit genommen werden. Der ſinnliche Trieb und die ſittliche Freiheit ſtehen zueinander im Verhältnis dialek⸗ tiſcher Spannung, indem die Freiheit aus der Negation des Triebes reſultiert. „Nach ihrem Begriffe gehört ihr das Recht und die Sittlichkeit an, und dieſe find an und für ſich all: gemeine Weſenheiten, Gegenſtände und Zwecke, welche nur von der Tätigkeit des von der Sinnlichkeit ſich unterſcheidenden und ihr gegenüber ſich entwickelnden Denkens gefunden und wieder dem zunächſt ſinnlichen Willen, und zwar gegen ihn ſelbſt ein⸗ gebildet und einverleibt werden müſſen.“ Exeundum est e statu naturae! Dieſes Wort Spinozas wendet Hegel auf den unfreien Zuſtand „menſchlicher Dumpfheit“ an. 124 Die Dialektik des Frei⸗ % LM, I, 94 ff. 138 ff. B, 29ff. 99 ff.; L, I, 96. 142. Sperrung vom Verf. Bol. Rechtsphiloſophie a. a. O. f, S. 45: „Der nur erſt an ſich freie Wille iſt der unmittelbare oder natürliche Wille, — es ſind die Triebe, Begierden, Nei⸗ gungen, durch die ſich der Wille von Natur beſtimmt findet; $ 18, S. 82: „Als Geiſt iſt der Menſch ein freies Weſen, das die Stellung hat, ſich nicht durch Natur: impulſe beſtimmen zu laſſen. Der Menſch, als im unmittelbaren und ungebilde: 108 Die geſchichtsphiloſophiſchen Grundbegriffe heitsbegriffs iſt alſo dieſelbe wie die Dialektik des Geiſtbegriffs. Nur zeigt jene dieſe noch ſchärfer und ausſchließlicher von der ſitt⸗ lichen Seite her. So kommt Hegel zunächſt zur negativen Definition des Freiheits⸗ begriffs: „Das Belieben des Einzelnen iſt eben nicht Freiheit. Die Freiheit, welche beſchränkt wird, iſt die Willkür, die ſich auf das Beſondere der Bedürfniſſe bezieht.“ Seine poſitive und inhaltliche Erfüllung hat Hegel ſchon angedeutet. Zum Begriff der Freiheit gehören Recht und Sittlichkeit. Und dieſe ſind „allgemeine Weſen⸗ heiten“. Freiheit iſt alſo nur da, wo das Individuum ſeiner will⸗ kürlichen Vereinzelung entnommen und einem allgemeinen Zu— ſammenhange eingegliedert iſt. Und nur die Anerkennung einer all⸗ gemeinen Beſtimmung macht aus dem naturhaften Trieb- und In⸗ ſtinktweſen den freien und ſittlichen Menſchen. „Vielmehr ſind Recht, Sittlichkeit ..., und nur fie, die poſitive Wirklichkeit und Befrie⸗ digung der Freiheit.“ 125 Die Freiheit, jo können wir im Sinne He gels ſagen, iſt der Wille, der ſeine Willkür überwindend ſich ſelbſt allgemein wird. „Die Hauptſache iſt, daß die Freiheit, wie ſie durch den Begriff beſtimmt wird, nicht den ſubjektiven Willen und die Willkür zum Prinzip hat, ſondern die Einſicht des allgemeinen Willens.“ 126 Das Individuum muß wiſſen, daß es in der „Einheit mit dem Subſtanziellen“ feine Freiheit, Selbſtändigkeit und Weſen⸗ haftigkeit hat. 127 ten Zuſtande, iſt daher in einer Lage, in der er nicht ſein ſoll und von der er ſich befreien muß“; $ 187, S. 247 f.: Die Befreiung des Subjekts von der bloßen Subjektivität des Benehmens, der Unmittelbarkeit der Begierde, der ſubjektiven Eitelkeit der Empfindung und der Willkür des Beliebens iſt „harte Arbeit“. In dieſer Arbeit beſteht das Weſen der „Bildung“. 125 L, I, 90 = BB, 77. Vgl. Rechtsphiloſophie a. a. O. $ 15, S. 49: „Die gewöhnlichſte Vorſtellung, die man bei der Freiheit hat, iſt die der Willkür ... Wenn man fagen hört, die Freiheit überhaupt ſei dies, daß man tun könne, was man wolle, ſo kann ſolche Vorſtellung nur für gänzlichen Mangel an Bildung des Gedankens genommen werden, in welcher ſich von dem, was der an und für ſich freie Wille, Recht, Sittlichkeit uff. iſt, noch keine Ahnung findet.“ 128 L, I, 124 = B, 88. 1 L, J, 124. Der Begriff der Freiheit 109 Damit entfteht das Problem, wie ſich der beſondere zum allgemeinen Willen, die „ſubjektive Freiheit“ mit dem Überwiegen der Beſonder⸗ heit über die Allgemeinheit 128 zur „ſubſtantiellen Freiheit“ mit dem Überwiegen der Allgemeinheit über die Beſonderheit verhält und umgekehrt. An der Auflöfung dieſes Problems arbeitet die Welt⸗ geſchichte. „Es handelt ſich in der Weltgeſchichte um nichts als um das Verhaltnis hervorzubringen, worin dieſe beiden Seiten in ab⸗ ſoluter Einigkeit, wahrhafter Verſöhnung find, einer Verſoͤhnung, in der das freie Subjekt nicht untergeht in der objektiven Weiſe des Geiſtes, ſondern zu ſeinem ſelbſtändigen Rechte kommt, wo aber ebenſoſehr der abſolute Geiſt, die objektiv gediegene Einheit ihr ab⸗ ſolutes Recht erlangt hat.“ 129 Die orientaliſche, griechiſche, römische und chriſtlich⸗germaniſche Welt find verſchiedene Geſtaltungen jenes problematiſchen Verhältniſſes in der Wirklichkeit, aber Geſtaltungen, die ihre Beziehung gewinnen durch den ſinnvollen Plan des Welt⸗ geiſtes, die „wahrhafte Verſöhnung“ hervorzubringen: „Die Welt⸗ geſchichte iſt die Zucht von der Unbändigkeit des natürlichen Willens zum Allgemeinen und zur ſubjektiven Freiheit.“ 190 Daß die Freiheit einmal als die Subſtanz des Geiſtes überhaupt, ein andermal als die Subſtanz des Willens bezeichnet wird, 131 läßt erkennen, daß Hegel in ſeinem Geiſtbegriff Denken und Wollen zuſammenfaßt. „Was aber den Zuſammenhang des Willens mit dem Denken betrifft, ſo iſt darüber folgendes zu bemerken. Der Geiſt iſt das Denken überhaupt, nur der Menſch unterſcheidet ſich vom Tier durch das Denken. Aber man muß ſich nicht vorſtellen, daß der Menſch einerſeits denkend, andererſeits wollend ſei, und daß er in der einen Taſche das Denken, in der anderen das Wollen Subjektive Freiheit iſt alſo nicht gleichbedeutend mit „Willkür“, da jene bereits das Moment der Allgemeinheit enthält, während dieſe ſchlechthin ſingu⸗ lar if. L., I, 234. % L, I, 233 = B, 154. „ Rechtsphiloſophie a. a. O. 64, S. 33: „Das Freie iſt der Wille. Wille ohne Freiheit iſt ein leeres Wort, fo wie die Freiheit nur als Wille, als Subjekt wirklich iſt.“ 110 Die geſchichtsphiloſophiſchen Grundbegriffe habe, denn dies wäre eine leere Vorſtellung. Der Unterſchied zwiſchen Denken und Willen iſt nur der zwiſchen dem theoretiſchen und prak— tiſchen Verhalten, aber es ſind nicht etwa zwei Vermögen, ſondern der Wille iſt eine beſondere Weiſe des Denkens: Das Denken als ſich überſetzend ins Daſein, als Trieb ſich Daſein zu geben.“ „Das Theoretiſche iſt weſentlich im Praktiſchen enthalten: es geht gegen die Vorſtellung, daß beide getrennt ſind, denn man kann keinen Willen haben ohne Intelligenz. Im Gegenteil, der Wille hält das Theoretiſche in ſich: der Wille beſtimmt ſich; dieſe Beſtimmung iſt zunächſt ein Inneres: was ich will, ſtelle ich mir vor, iſt Ge— genftand für mich ... Ebenſowenig kann man ſich aber ohne Willen theoretiſch verhalten, oder denken, denn indem wir denken, find wir eben tätig. Der Inhalt des Gedachten erhält wohl die Form des Seienden, aber dies Seiende iſt ein Vermitteltes, durch unſere Tätig— keit Geſetztes. Dieſe Unterſchiede ſind alſo untrennbar: ſie ſind Eines und Dasſelbe, und in jeder Tätigkeit, ſowohl des Denkens als Wollens, finden ſich beide Momente.“ 132 Es hat alſo keinen Sinn, an Hegel von Kant her mit der Frage nach dem Primat des Denkens oder Wollens heranzutreten. Und man darf ſeinen Panlogismus jedenfalls nicht ſo verſtehen, als ob der Wille in ſeinem Weltbild vernachläſſigt wäre. Zwiſchen Kant und Hegel ſteht die Identitätsphiloſophie Schelling. Und wie Hegels „Idee“ die Einheit des Ideellen und Reellen iſt, ſo iſt ſie auch die Einheit von Vernunft und Wille. Die Verhältnisbeſtimmung, die er von Denken und Wollen gibt, iſt nur die Bewährung der Ur-Vorausſetzung ſeiner Philoſophie. ve Das vernünftige Denken und das freie Wollen erheben den Ein— fall und die Willkür in die Sphäre der Allgemeinheit. Dieſe All⸗ gemeinheit iſt aber bei Hegel nie abſtrakte Allgemeinheit, d. h. eine ſolche, die beſtimmten Unterſchieden entgegengeſetzt wäre, ſon— dern ſtets konkrete Allgemeinheit, d. h. eine Allgemeinheit, die 102 A. a. O. $4, S. 33ff.; 9 8, S. 36. Der Begriff des Staates 111 in der Fülle der Beſonderheiten als die eine Seele lebendig iſt. Mit andern Worten: ſie iſt Organismus. Nur als Glied eines Organismus kann der Menſch frei ſein. Iſt er nicht lebendiges Glied eines Organismus, fo befindet ſich fein Geiſt in der „unorganiſchen Exiſtenz“ wilder oder weicher Stumpfheit. 133 Der Organismus, um den es ſich handelt und durch den der Menſch ſeine Freiheit gewinnt, iſt der Staat. 2 5. Der Begriff des Staates Vom Staate ſagt Hegel, daß er „die Grundlage und der Mittel⸗ punkt“ aller konkreten Seiten des Volkslebens iſt wie der Kunſt, des Rechts, der Sitten, der Religion, der Wiſſenſchaft, die in ihrer Geſamtheit die eine Individualität des Volksgeiſtes bilden, 13* Was das Volk zum Staate macht, iſt die politiſche Verfaſſung, die die Beziehungen zwiſchen Volk und Regierung, zwiſchen den ein⸗ zelnen und dem allgemeinen Willen regelt. „Die Staatsverfaſſung iſt es erſt, wodurch das Abſtraktum des Staats zu Leben und Wirk⸗ lichkeit kommt; aber damit tritt auch der Unterſchied von Befehlen⸗ den und Gehorchenden, Regierenden und Regierten ein.“ 135 Der Staat iſt nicht eine politiſche Inſtitution, die ſich gegen die übrigen Außerungen des Volksgeiſtes gleichgültig verhielte. Die Staats⸗ verfaſſung ſteht vielmehr ſelber in engſtem Zuſammenhang mit jenen andern geiſtigen Mächten und bildet mit dieſen eine „individuelle Totalität“. 136 Der Staat iſt für Hegel Kulturſtaat. Er iſt die durch den Geiſt des Volkes bedingte Form, in der der Volks⸗ geiſt „objektive Exiſtenz“ gewinnt. 197 „Das geiſtige Individuum, das Volk, inſofern es in ſich gegliedert, ein organiſches Ganze iſt, nennen wir Staat. Dieſe Benennung iſt dadurch der Zweideutigkeit ausgeſetzt, daß man mit Staat und Staatsrecht im Unterſchiede von LM, I, 13 = B, 102. 1% L, I, 104 B, 89. 18 LM, I, 118 = B, 83. L M, I, 121 B, sf. * L, I, 104 B, 89. 112 Die geſchichtsphiloſophiſchen Grundbegriffe Religion, Wiſſenſchaft und Kunſt gewöhnlich nur die politiſche Seite bezeichnet. Hier aber iſt Staat in einem umfaſſenderen Sinne ges nommen, ſowie wir auch den Ausdruck Reich gebrauchen, wo wir die Erſcheinung des Geiſtigen meinen.“ 138 In der Religion hat nun Hegel das Grundgepräge der beſonderen Sphären des Volksgeiſtes geſehen. In der Religion ſpricht ein Volk ſein Weſen am innerlichſten und einfachſten aus. Iſt die Staats⸗ verfaſſung ſelber eine Außerung des Volksgeiſtes, ſo müſſen auch zwiſchen Religion und Staat beſtimmte Beziehungen ob» walten, in denen der Religion als der unmittelbarſten Außerung des Volksgeiſtes das Prius zukommt. Daher ſagt Hegel, daß der Staat auf Religion beruht und in dieſer ſeine Wurzeln hat. „Wie daher die Religion beſchaffen iſt, ſo der Staat und ſeine Verfaſſung; er iſt wirklich aus der Religion hervorgegangen, und zwar ſo, daß der atheniſche, der römiſche Staat nur in dem ſpezifiſchen Heidentum dieſer Völker möglich war, wie eben ein katholiſcher Staat einen andern Geiſt und andere Verfaſſung hat als ein proteſtantiſcher.“ Es iſt darum eine Torheit, Staatsverfaſſungen unabhängig und losgeriſſen „von der Innerlichkeit, von dem letzten Heiligtum des Gewiſſens, dem ſtillen Orte, wo die Religion ihren Sitz hat“, er: finden und ausführen zu wollen. Dagegen lehnt Hegel vollkommen jene Auffaſſung ab, die in der Religion nur die Sicherung und Sanktionierung des Staates erblickt. „Daß der Staat auf Religion beruhe, hören wir in unſern Zeiten oft wiederholen, und es wird meiſt nichts weiter damit gemeint, als daß die Individuen, als gottesfürchtige, um fo geneigter und bereitwilliger ſeien, ihre Pflicht zu tun, weil Gehorſam gegen Fürſt und Geſetz ſich fo leicht an— knüpfen läßt an die Gottesfurcht.“ Danach wäre alſo der Staat vorhanden, und die Religion käme von außen hinzu, „um das Ge⸗ bäude des Staates und das Betragen der Individuen, ihr Verhältnis zu ihm von innen heraus zu regulieren“. Nun iſt hieran zwar ſoviel 138 25 I, 93, Der Begriff des Staates 113 richtig, als die Menſchen, wie zur Wiſſenſchaft und Kunſt, ſo auch zur Religion erzogen werden müſſen. „Aber man muß ſich dies Verhältnis nicht in der Weiſe vorſtellen, als ob die Religion erſt hinzukommen ſolle, ſondern der Sinn iſt, wie geſagt, der, daß der Staat bereits aus einer beſtimmten Religion hervorgegangen iſt, daß er mit der Religion dasſelbe gemeinſchaftliche Prinzip hat und daß er das politiſche, künſtleriſche und wiſſenſchaftliche Leben darum hat, weil er die Religion hat.“ Der Menſch wird alſo auch hinſicht⸗ lich der Religion zu dem erzogen, was iſt, und nicht zu dem, was nicht iſt. Verſteht man die Erziehung zur Religion aber in dem Sinn, daß die Religion „in Eimern und Scheffeln“ in den Staat hineinzutragen ſei, um fie den Gemütern einzuprägen, ja, erhebt ſich ein foͤrmliches Angſt⸗ und Notgeſchrei, ein Treiben und Drängen danach, die Religion einzupflanzen, ſo iſt die Gefahr vorhanden, daß die Religion bereits aus dem Staate verſchwunden ſei oder vollends zu verſchwinden im Begriffe ſtehe. Hegel bemerkt hierzu, das wäre ſchlimmer, als jener Angſtruf meint. „Denn dieſer glaubt noch an ſeinem Einpflanzen und Inkulkieren ein Mittel gegen das Übel zu haben; aber ein fo zu Machendes iſt die Religion überhaupt nicht, ihr ſich Machen ſteckt viel tiefer.“ 1 Hegel ſagt nicht, warum das Schwinden der Religion aus dem Staate ein ſchlimmes Übel iſt, dem man durch Einpflanzen und Inkulkieren nicht beikommen kann. Wer aber feine Lehre vom Volksgeiſt verſtanden hat, der kann mit ziemlicher Gewißheit dieſe offene Frage dahin beantworten, daß das Schwinden der Religion aus dem Staat das untrügliche Sym⸗ ptom für das Abſterben der innerſten Seele des Volkes und damit auch das Anzeichen für den unaufhaltſamen Untergang des Staates iſt. Wie er den Volksgeiſt als ein organiſches Ganze verſtanden hat, ſo bat Hegel den Organismusgedanken auch auf den Staat % LM, I, 103 = B, gaf.; L, I, 10 ff. = B, gif. teeſe, Seſchichtopdltoſopdie Hegele 8 114 Die geſchichtsphiloſophiſchen Grundbegriffe angewandt. Es gehört zur „Idee des Staates“, daß er „in der Teilung konkret ſei, ein Geiſtiges, Lebendiges, in ſich Unterſchie⸗ denes, deſſen Unterſchiede ſich als organiſche Glieder ſetzen“. 149 Die Definition des Organismus lautet: „Zu einem organiſchen Leben gehört die Einheit des Organismus, die eine Seele; dazu aber, daß er ein organiſches Leben ſei, gehört auch das Ausgebreitetſein in die Unterſchiede, daß ſich die Beſonderheit unterſchiedener Teile, oder richtiger Glieder entfalte, die ſich in ihrer Partikularität zu ganzen Syſtemen ausbilden, ſo aber, daß ihre Tätigkeit die Einheit rekonſtruiere.“ 141 Der Staat iſt ein Organismus, als er unbe: ſchadet ſeiner Einheit ſich in mehrere „Beſchäftigungen“ beſondert, die feine „organischen Glieder“ ausmachen. „Das Leben eines Vol⸗ kes iſt ein großes Werk, das ſich in verſchiedene Geſchäfte und Syſteme teilt. In jedem vernünftigen Staate muß der Unterſchied von Beſchäftigungen hervortreten; Stände, aber noch mehr In⸗ dividuen müſſen ſich herausgeſtalten.“ 142 Recht und Freiheit des In⸗ dividuums find integrierende Beſtandteile dieſes organiſchen Staats⸗ begriffs. „Der Staat reſultiert aus dem Syſtem der beſonderen nn Beſchäftigungen, die ſich als große Maſſen verſammeln, aber jo, daß die Individuen darin ihre ſubjektive Freiheit behalten.“ Der „wahre Staat“ muß getragen und zuſammengehalten ſein von der „ſubjektiven Freiheit, Moralität, inneren Sittlichkeit der Indivi⸗ duen“. Er muß zu Staatsbürgern „moraliſche Subjekte“ haben. 143 In dieſem Sinne ſagt Hegel, der „eigentümliche Boden des Staa⸗ tes“ ſei „das Prinzip der Freiheit“. 144 Nur in einem organiſchen Staatsweſen iſt alſo wahre Freiheit des Individuums als ſelbſt⸗ gewollter, freier Gehorſam möglich und nur, wo die Freiheit des Individuums Raum gewinnt, kann ſich der Staat als Organismus entfalten. Staat und Freiheit beruhen auf der organiſchen Identität des Einen und Vielen, des Allgemeinen und des Beſonderen. Dieſe 4% L, II, 387. 1 L, II, 368 B, 201/02, e ee. , L, Em: 1 J., II, 30. . , II, 8 = Bi 202 aaa Der Begriff des Staates 115 Identitat zu ſchaffen, iſt das Gefchäft des Weltgeiſtes, zu dem jedes welthiſtoriſche Volk mitzuwirken berufen iſt. Im Begriffe des Staats iſt daher auch der Gegenſatz zwiſchen Volk und Regie⸗ rung, zwiſchen dem ſubjektiven und objektiven Willen aufgehoben. „Es liegt etwas Boshaftes in der Entgegenſetzung von Volk und Re⸗ gierung, ein Kunſtgriff des böfen Willens, als ob das Volk, ge⸗ trennt von der Regierung, das Ganze wäre.“ Die organiſche Einheit des allgemeinen und beſondern Willens iſt Grundlage, Sein und Subſtanz des Staates. 145 Wenn Hegel ſagte, daß das Individuum in der Einheit mit dem Subſtantiellen ſeine Freiheit, Selbſtändigkeit und Weſenhaftigkeit hat, 146 fo denkt er dabei in erſter Linie an den Staat. „Er iſt die Wirklichkeit, in der das Individuum ſeine Freiheit hat und genießt, aber indem es das Wiſſen, Glauben und Wollen des Allgemeinen iſt.“ Der Staat iſt das wirklich vorhandene ſitt⸗ liche Leben. „Denn er iſt die Einheit des allgemeinen, weſent⸗ lichen Wollens und des ſubjektiven, und das iſt die Sittlichkeit. Day Individuum, das in dieſer Einheit lebt, hat ein ſittliches Leben, hat einen Wert, der allein in dieſer Subſtantialität beſteht.“ Im Staat und durch den Staat wird das unfreie Triebweſen überhaupt erſt zum freien und ſittlichen Menſchen. Ja, es gibt ſchlechterdings keinen Wert, der dem Menſchen nicht durch den Staat, die organi⸗ ſierte Geſellſchaft vermittelt iſt. Es iſt eine der wichtigſten Stellen in Hegels Geſchichtsphiloſophie, in der ſeine univerſaliſtiſche Denk⸗ art der uneingeſchränkten Wertſchätzung des im Gegenſatz zu allen naturrechtlich⸗individualiſtiſchen Konſtruktionen (mit ihrer Atomiſie⸗ rung und Mechaniſierung des einzelnen) geſehenen Staates Aus⸗ druck verleiht: „Im Staat allein hat der Menſch vernünftige Exiſtenz. Alle Erziehung geht dahin, daß das Individuum nicht ein Subjektives bleibe, ſondern ſich im Staate objektiv werde. Wohl % L, I, 122 B, 88, % Bol, oben S. 108, gr 116 Die geſchichtsphiloſophiſchen Grundbegriffe kann ein Individuum den Staat zu ſeinem Mittel machen, um dies und jenes zu erreichen. Das Wahrhafte aber iſt, daß jeder die Sache ſelbſt wolle und das Unweſentliche abgeſtreift habe. Alles, was der Menſch iſt, verdankt er dem Staat; er hat nur darin ſein Weſen. Allen Wert, den der Menſch hat, alle geiſtige Wirklichkeit, hat er allein durch den Staat. Denn ſeine geiſtige Wirklichkeit iſt, daß ihm als Wiſſenden ſein Weſen, das Vernünftige gegenſtändlich ſei, daß es objektives, unmittelbares Daſein für ihn habe; ſo nur iſt er Bewußtſein, ſo nur iſt er in der Sitte, dem rechtlichen und ſitt⸗ lichen Staatsleben. Denn das Wahre iſt die Einheit des Allgemeinen und ſubjektiven Willens; und das Allgemeine iſt im Staate in den Geſetzen, in allgemeinen und vernünftigen Beſtimmungen.“ Es ift + ebenſo verkehrt zu ſagen, daß der Staat um der Bürger willen da ſei, wie, daß die Bürger um des Staates willen da ſind. Im erſten Falle meint man wohl, daß der Staat nur den Wert einer „ge— meinſamen Beſchränkung“ habe, um dem einzelnen einen Platz zu laffen, worin er ſich frei ergehen könne. Gerade das Gegenteil iſt der Fall. Erſt durch die Hingabe an den allgemeinen Staatswillen gewinnt die Freiheit poſitive Wirklichkeit. „Nur der Wille, der dem Geſetze gehorcht, iſt frei: denn er gehorcht ſich ſelbſt und iſt bei ſich ſelbſt und alſo frei.“ Was der Staat beſchränkt, iſt nicht die Freiheit, ſondern ihr Widerſpiel: die Willkür. Im zweiten Fall bes trachtet man die einzelnen als „Werkzeuge“ für den Staatszweck. „Indes iſt dies Verhältnis von Zweck und Mittel überhaupt hier nicht paſſend. Denn der Staat iſt nicht das Abſtrakte, das den Bürgern gegenüberſteht; ſondern ſie ſind Momente wie im organi— ſchen Leben, wo kein Glied Zweck, keines Mittel iſt.“ Der einzige Zweck des Staates iſt, daß das „Subſtanzielle“ im wirklichen Tun der Menſchen und in ihrer Geſinnung gelte, vorhanden ſei und ſich ſelbſt erhalte. Der Staat iſt wie jeder Organismus Selbſtzweck. Und da er ein vernünftiger Organismus iſt, der den abſoluten Endzweck der Freiheit in der Erſcheinung realiſiert, ſo iſt der Staat „die gött— Der Begriff des Staates 117 liche Idee, wie fie auf Erden vorhanden iſt“. 167 Iſt aber die Welt⸗ geſchichte die Entwicklung des Geiſtes im Bewußftſein der Freiheit, fo kann in der Weltgeſchichte nur von ſolchen Voͤlkern die Rede ſein, welche einen Staat bilden. „In denſelben faͤllt daher überhaupt weſentlich die Veranderung der Geſchichte.“ Weltgeſchichte iſt Staatengeſchichte. 143 Hegel war auf den Einwand gefaßt, daß der empiriſche Staat oft genug ſeinem Staatsidealismus widerſpreche. Er hat dieſen Ein⸗ wand zum voraus widerlegt, und zwar ganz im Einklang mit der programmatiſchen Geſamthaltung ſeiner Philoſophie, daß es ein Zeichen beginnender Bildung ſei, durch Tadeln und Räſonnieren ſich aufzuſpreizen und gewaltig groß zu tun, vollendeter Bildung aber, auch im Schlechten und Mangelhaften den affirmativen, poſitiv⸗wertvollen Gehalt zu erkennen. 149 Und fo ſagt er denn auch 1% L, I, Soff. 94 = B, 778. — Vgl. zum Ganzen Rechtsphiloſophie a. a. O. 1258, S. 306: „Dieſe fubftantielle Einheit ift abſoluter unbewegter Selbſtzweck, in welchem die Freiheit zu ihrem höchſten Recht kommt, ſo wie dieſer Endzweck das höchſte Recht gegen die Einzelnen hat, deren höchſte Pflicht es iſt, Mitglieder des Staats zu fein”; f 268, S. 323f.: „Durch die Gewalt, meint die Vorſtellung oft, hänge der Staat zuſammen, aber das Haltende iſt allein das Grundgefühl der Ordnung, das alle haben“; f 270, S. 327: „Der Staat iſt göttlicher Wille, als gegenwärtiger, ſich zur wirklichen Geſtalt und Organiſation einer Welt ent⸗ faltender Geiſt“; f 272, S. 346: „Man muß daher den Staat wie ein Irdiſch⸗ Göttliches verehren“; $ 272, S. 345: Die Staats⸗Organiſation iſt ein „Abbild der ewigen Vernunft“; 5260, S. 315 f.: „In den Staaten des klaſſiſchen Alter: tums findet ſich allerdings ſchon die Allgemeinheit vor, aber die Partikularität war noch nicht los gebunden und freigelaſſen, und zur Allgemeinheit zurückgeführt. Das Weſen des neuen Staates iſt, daß das Allgemeine verbunden ſei mit der vollen Freiheit der Beſonderheit .. Das Allgemeine muß alſo betätigt fein, abet die Subjektivität auf der anderen Seite ganz und lebendig entwickelt werden. Nur dadurch, daß beide Momente in ihrer Stärke beſtehen, iſt der Staat als ein gegliederter und wahrhaft organifierter anzuſehen“; $ 260, S. 315: „Das Prin⸗ zip der modernen Staaten hat dieſe ungeheuere Stärke und Tiefe, das Prinzip der Subjektivität ſich zum ſelbſtändigen Extreme der perſonlichen Beſonderheit vollenden zu ſaſſen, und zugleich es in die ſubſtantielle Einheit zurückzuführen und fo in ihm felbft dieſe zu erhalten.“ % L, I, 92. 123 B, 77.87. % L, , s4 =B, 74; Rechtsphiloſophie a. a. O. f 268, S. 323. 118 Die geſchichtsphiloſophiſchen Grundbegriffe vom Staat: „Jeder Staat, man mag ihn auch nach den Grund⸗ ſätzen, die man hat, für ſchlecht erklären, man mag dieſe oder jene Mangelhaftigkeit daran erkennen, hat immer, wenn er namentlich zu den ausgebildeten unſerer Zeit gehört, die weſentlichen Momente ſeiner Exiſtenz in ſich. Weil es aber leichter iſt, Mängel aufzufinden, als das Affirmative zu begreifen, verfällt man leicht in den Fehler, über einzelne Seiten den inwendigen Organismus des Staates ſelbſt zu vergeſſen. Der Staat iſt kein Kunſtwerk, er ſteht in der Welt, ſomit in der Sphäre der Willkür, des Zufalls und des Irrtums, übles Benehmen kann ihn nach vielen Seiten defigurieren. Aber der häßlichſte Menſch, der Verbrecher, ein Kranker und Krüppel iſt immer noch ein lebender Menſch: das Affirmative, das Leben, be⸗ ſteht trotz des Mangels, und um dieſes Affirmative iſt es hier zu tun.“ 150 150 Rechtsphiloſophie a. a. O. $ 258, S. 313. — Mit vollem Recht hat Heinrich 2 Scholz, Die Bedeutung der Hegelſchen Philoſophie für das philoſophiſche Denken der Gegenwart 1921, S. 16ff., darauf hingewieſen, daß Hegels Freiheitsbegriff mit dem Selbſtbewußtſein oder der „Helligkeit des Geiſtes“ ſich deckt, daher die intellektuelle Reife bedeutet, die die „Dumpfheit“ als einen Zuſtand intellektueller Unvollkommenheit als Widerſpiel hat. Vgl. auch meine Ausführungen oben S. 54f. 56f. Ich vermag aber Scholz nicht zuzuſtimmen, wenn er verallgemei⸗ nernd fagt, daß Freiheit für Hegel „ein grundlegend und überwiegend intellek⸗ tueller und erſt nachträglich auch ein ſittlich bedeutſamer Tatbeſtand“ iſt. Die Be⸗ lege, die ich in den Abſchnitten über den Begriff der Freiheit und den des Staates angeführt habe, reden eine andere Sprache. Was Scholz ſagt, iſt ein wichtiges und vielleicht zu wenig beachtetes Moment im Hegelſchen Freiheitsbegriff. Es fragt ſich nur, ob dieſes Moment in der Geſchichtsphiloſophie Hegels die Führung hat. Und dieſe Frage iſt entſchieden zu verneinen. Nichts iſt ſo häufig und eindruds: voll von Hegel feftgeftellt, als, daß die Willkür der ſich vom Ganzen iſolierenden Partikularitäten das Widerſpiel der Freiheit iſt, die ihrem wahren Weſen nach gehorfame Unterordnung unter die ſubſtantiellen Mächte des in einem Volle: weſen lebendigen Geiſtes und dienende Eingliederung in den alle tragenden und erhaltenden Organismus der Geſellſchaft bedeutet. Freiheit iſt demnach für Hegel in allererſter Linie ein ſittlich bedeutſamer Tatbeſtand. Auch unterſchätzt Scholz den in Hegels Freiheitsbegriff lebendigen Autonomiegedanken Kants. Gewiß iſt dieſer Gedanke für Hegels Freiheitsbegriff nicht weiter charakteriſtiſch. Aber er iſt die conditio sine qua non. Nur wenn die geiſtige und ſittliche Autonomie S > Rn er 4 IV. Die Lehre von der Rangordnung der Individuen 1. Das erhaltende Individuum Wenn die Idee der abſolute Endzweck iſt, der ſich in der Welt⸗ geſchichte verwirklicht, und der im Staate organifierte Volksgeiſt die beſondere Geſtalt, in der die Idee in räumliche und zeitliche Er: ſcheinung tritt, ſo iſt die letzte Frage die, welche Rolle die In⸗ dividuen im weltgeſchichtlichen Prozeſſe ſpielen und welcher Wert ihnen im Zuſammenhang des Ganzen eigentlich zukommt. Der ab⸗ ſolute Endzweck verlangt, daß alle partikulären Zwecke ſich ihm unterordnen. Wie für den Geiſt jede erreichte Bildung zum Material wird, an dem ſeine Arbeit ihn zu neuer Bildung erhebt, ſo könnte man im Sinne Hegels auch von einer Stufenleiter der Zwecke ſprechen, die jeder für ſich betrachtet Selbſtzweck ſind, aber vom jeweils höheren Zweck aus als Material, d. h. als Mittel zum Zweck betrachtet werden dürfen. So verſtanden hat Hegel die Individuen überhaupt unter der „Kategorie der Mittel“ betrachtet.! Hier tritt zur Autarkie, d. h. zur Verabſolutierung des Einzelnen führt, muß Hegels univer⸗ ſaliſtiſche Denkweiſe, der das Ganze über dem Einzelnen ſteht, fie ablehnen. He: gels Freiheits begriff enthält alſo drei Momente, durch die er ſich konſtituiert: 1. Die Helligkeit des Geiſtes im Sinne intellektueller Reife. Gegenſatz: Dumpfheit. 2. Die Autonomie. Gegenſatz: Knechtung. 3. Die gewollte Eingliederung in den übergreifenden Zuſammenhang eines organiſchen Ganzen. Gegenſatz: Willkür. ı und 3 find die für Hegel ſpeziſiſch charakteriſtiſchen Momente. Das letztere über: nimmt im weiteren Fortgang die Führung. Vgl. den Zweiten Teil dieſes Buches. Es erſcheint nicht überflüffig, noch einmal zu betonen, daß für Hegel die Freiheit keine fertige, ſondern immer nur eine werdende il. L M, I, 84 = 8, 50. MT 120 Die Lehre von der Rangordnung der Individuen in der Geſchichtsphiloſophie Hegels wiederum eine gewiſſe Doppel⸗ deutigkeit zutage. Er hat die organiſche und teleologiſche Betrach— tungsweiſe nebeneinander angewandt. Für die organiſche Betrach- tungsweiſe Hegels iſt der Staat Selbſtzweck. Das Verhältnis des Einzelnen zum Ganzen will er nicht mit den Kategorien Zweck und Mittel beſtimmen. Kein Glied iſt Zweck, keines iſt Mittel. Jedes iſt ein Moment im organiſchen Leben. Dasſelbe gilt alsdann auch von der Idee, dem göttlichen Urbild des irdiſchen Staates. Denn die Idee iſt die ſich in ihren unterſchiedlichen Beſtimmungen organiſch entfaltende Weltvernunft. Kein Glied in dieſem Organis— mus dürfte Zweck und keines Mittel ſein! Die Prinzipien der Volks— geiſter ſind Momente in der Totalität der Idee. Und gleichzeitig betrachtet Hegel die Individuen — auch der Volksgeiſt iſt ja nur ein Individuum im Gange der Weltgeſchichte — unter dem Ge— ſichtspunkt der Mittel, durch die ſich der abſolute Endzweck ſtufen⸗ weiſe realiſiert. Ein Ausgleich iſt nur ſo möglich — dies iſt wohl die eigentliche Meinung Hegels —, daß jedes Individuum Zweck und Mittel, Organismus und Werkzeug in Einem iſt. Der Geiſt iſt organiſche Entfaltung und dialektiſche Bewegung. Als dialektiſcher geht der Geiſt aus der Aſche ſeiner früheren Geſtalten geläutert und verklärt hervor. Jede Geſtalt kann daher als Mittel betrachtet werden, das der Geiſt zum Zweck ſeiner Erhöhung verbraucht. Die Zweckbetraͤchtung konnte Hegel mühelos mit dem dialektiſchen Geſichtspunkt in Einklang bringen. Die Frage nach der Bedeutung und dem Wert des Individuums führt uns zu dem induktiven Ausgangspunkt der geſchichtsphilo⸗ ſophiſchen Frageſtellung zurück. Es war die nächſte Anſicht der Geſchichte, die uns den handelnden Menſchen mit ſeinen Bedürf— niſſen, Neigungen, Intereſſen, Trieben, Leidenſchaften, Vorſtellun⸗ gen und Zwecken zeigte. Keine innere Möglichkeit, kein „Prinzip“ kommt zu wirklicher Exiſtenz ohne den Willen des tätigen Menſchen. Nichts, was in der Geſchichte geſchieht, geſchieht, ohne daß ſich die Das erhaltende Individuum 121 Individuen in ihren Intereſſen, in ihrer Tätigkeit und Arbeit bes friedigen. Für keine Sache find fie tätig, wenn fie nicht mit ihrem Vorteil oder mit Zutrauen, Einſicht und Überzeugung dabei ſein konnen. Kein Staat iſt wohlbeſtellt und kraftvoll in ſich ſelbſt, der nicht mit ſeinem allgemeinen Zweck das „Privatintereſſe“ der Bürger vereinigt. Das Weſen alles organiſchen Gemeinſchafts⸗ lebens beſteht darin, daß der Beſonderheit ihr wirkliches Recht ungefchmälert zuteil wird. Dies iſt das „unendliche Recht des Subjekts“ in der Geſchichte, das ſubjektive Moment der Freiheit, das für dieſe ebenſo konſtitutiv iſt wie das objektive der über⸗ greifenden Allgemeinheit.“ Die Idee, der abſolute Endzweck der Geſchichte, und ihre Modalität, das Prinzip eines weltgeſchichtlichen Volkes, ſind „zunächſt ein Inneres, Untätiges, ein nicht Wirkliches, Gedachtes, Vorgeſtelltes“.“ Sie ruht in dem „inneren Schachte des Geiſtes“. Sie bliebe für ſich ein „Totes“, ein „Abſtraktes“, ein „Schlummerndes“, ein „ewig Unbewegtes“, würde ſie nicht durch die Tätigkeit der Individualität zum wirklichen Daſein gebracht.“ Das Allgemeine tritt nur durch das Beſondere, das Unendliche nur durch das Endliche in die Wirklichkeit.) Die Leidenſchaften und das Vernünftige, das unendliche Recht des Individuums und die Idee ſind die Ingredienzien der Weltordnung. „Beide bilden den Ein⸗ ſchlag und den Faden des Teppichs der Weltgeſchichte. Die Idee als ſolche iſt die Wirklichkeit; die Leidenſchaften ſind der Arm, womit ſie ſich erſtreckt.“ Die ſie „bindende Mitte“, worin die beiden Extreme der allgemeinen Idee und der beſonderen Einzelheit kon⸗ kurrieren, iſt die ſittliche Freiheit, der Staat. Nur, was völlig ideenlos iſt, die bloſſe Begierde, die Wildheit und Roheit des Wollens, der Standpunkt der Willkür, „fällt außerhalb des Thea⸗ ters und der Sphäre der Weltgeſchichte“.7 Aber, indem die Indivi⸗ duen ihr wirkliches endliches Wollen vollführen und ſich den Genuß LM, I, söf. 59 f. 64 B, 55. 57f. 60. L, I, 68. , I, 68f.; L, I, 21 B, 63. , I, 62. 71. , I, 61f. - B, 9, , I, 72. 73 B, 65. 122 Die Lehre von der Rangordnung der Individuen ihrer Beſonderheit zu verſchaffen ſtreben, ſind ſie ſogleich als Glie— der eines umfaſſenderen Ganzen für allgemeine Zwecke tätig. Dieſes Ganze, in das das Individuum ſich eingeordnet findet, iſt der Volks⸗ geiſt, der jenem ſeine Schranken zieht und ſeine Möglichkeiten be— grenzt. In der „Atmoſphäre“ des Volksgeiſtes wird das Individuum . erzogen. „Doch aber iſt es nicht bloß Erziehung und Folge von Er⸗ ziehung; ſondern dies Bewußtſein wird aus dem Individuum ſelbſt entwickelt, nicht ihm angelehrt: Das Individuum iſt in dieſer Subſtanz ... Kein Individuum kann über dieſe Subſtanz hinaus; es kann ſich wohl von andern einzelnen Individuen unterſcheiden, aber nicht von dem Volksgeiſt. Es kann geiſtreicher ſein als viele andere, nicht aber kann es den Volksgeiſt übertreffen.“? „Jedes Individuum iſt der Sohn ſeines Volkes auf einer beſtimmten Stufe der Entwickelung dieſes Volkes. Niemand kann den Geiſt ſeines Volkes überſpringen, ſo wenig er die Erde überſpringen kann. Die Erde iſt das Zentrum der Schwere; wenn ein Körper vorgeſtellt wird als ſein Zentrum verlaſſend, ſo iſt er vorgeſtellt als in der Luft zerſtäubend. So verhält es ſich mit dem Individuum. Aber daß es ſeiner Subſtanz gemäß iſt, dies iſt es durch ſich ſelbſt; es muß den Willen, den dies Volk fordert, in ſich zum Bewußtſein, zum Ausſprechen bringen. Das Individuum erfindet ſeinen Inhalt nicht, ſondern es iſt nur dies, daß es den ſubſtantiellen Inhalt in ſich betätigt.“? Sich dem ſubſtantiellen Willen feines Volkes gemäß zu machen, darin liegt recht eigentlich die ſittliche Aufgabe des In: dividuums. „Die Verallgemeinerung des einzelnen iſt es, worin die Erziehung des Subjekts liegt zu dem, was ſittlich iſt, und eben da⸗ durch kommt die Sittlichkeit zum Gelten. Dies Allgemeine in den Beſonderheiten iſt das beſondere Gute überhaupt; das, was als Sittliches vorhanden iſt.“ 10 Es iſt die ſchroffſte Abſage an den ethiſchen Formalismus und atomiſierenden Individualismus Kants, wenn Hegel fortfährt: „Denn ſo etwas Leeres, wie das Gute um s L, I, 37. , I, 73f.; LM, I, 102 = B, 93. "L, I, 72. Das erhaltende Indieibuum 123 des Guten willen, hat überhaupt in der lebendigen Wirklichkeit nicht Platz. Wenn man handeln will, muß man nicht nur das Gute wollen, ſondern man muß wiſſen, ob dieſes oder jenes das Gute iſt. Welcher Inhalt aber gut oder nicht gut, recht oder unrecht ſei, dies iſt für die gewöhnlichen Fälle des Privatlebens in den Geſetzen und Sitten eines Staates gegeben.“ Die Moralität der Individuen be⸗ ſteht in der Erfüllung ihrer ſtaatsbürgerlichen Pflichten. Hierin liegt die Richtſchnur für ihr ſittliches Handeln. 11 „Den Boden der Pflicht büldet das bürgerliche Leben: die Individuen haben ihren angewie⸗ ſenen Beruf, und alſo auch ihre angewieſene Pflicht; und ihre Moralität beſteht darin, ſich dieſer gemäß zu betragen.“ 12 Worin der Wert des Individuums beſteht, faßt ein Abſchnitt der neuen Ausgabe lichtvoll zuſammen: „Der Wert der Individuen alſo be⸗ ruht darauf, daß ſie gemäß ſeien dem Geiſte des Volks, daß ſie Repräſentanten desſelben ſeien und ſich einem Stande der Gefchäfte des Ganzen zugeteilt haben. Und es gehört zur Freiheit im Staate, daß dies von der Willkür des Individuums abhängt und daß nicht kaſtenweiſe Verteilung beſtimmt, welchem Geſchäfte es ſich widmen will. Die Moralität des Individuums beſteht dann darin, daß es die Pflichten ſeines Standes erfüllt; und dies iſt etwas leicht zu Wiſſendes: welches die Pflichten ſeien, iſt durch den Stand beſtimmt. das Subſtanzielle ſolchen Verhältniſſes, das Vernünftige iſt bekannt; es iſt in dem ausgeſprochen, was eben die Pflicht genannt wird. Das, was Pflicht ſei, zu unterſuchen, iſt unnütze Grübelei; in dem Hange, das Moraliſche als etwas Schweres anzuſehen, iſt eher die Sucht zu erkennen, ſich von feinen Pflichten loszumachen.“ 13 Die ſittliche Aufgabe, die das Individuum dem Ganzen der Ge⸗ ſellſchaft gegenüber hat, iſt alſo eine vorwiegend erhaltende. „Im Ganzen der Geſchichte iſt das eine weſentliche Moment die Er⸗ haltung eines Volkes, Staates, und die Erhaltung der geordneten Sphären ſeines Lebens. Und das iſt die Tätigkeit der Individuen, 1 U. 1,44. 72. — B, 19. 65 LM, I, 101 B, 93. L I, 7 WL, 1,72. 124 Die Lehre von der Rangordnung der Individuen daß ſie an dem gemeinſamen Werke teilnehmen und es in ſeinen beſonderen Arten hervorzubringen helfen; das iſt die Erhaltung des ſittlichen Lebens.“ 14 Der Zeitpunkt ſolcher Vereinigung des ſtaatlichen und des privaten Intereſſes bildet in der Geſchichte eines Volkes die Periode ſeiner Blüte, ſeiner Tugend, ſeiner Kraft und ſeines Glücks. 15 2. Die weltgeſchichtliche Perſönlichkeit = Von dem erhaltenden Individuum unterſcheidet ſich die weltgeſchicht— liche Perſönlichkeit als ein Individuum höherer Ordnung. Von ihr gilt zunächſt genau das gleiche wie von dem erhaltenden Indivi— duum, nämlich das Beſtreben, den eigenen Intereſſen, Bedürfniſſen, Zwecken und Leidenſchaften genugzutun. Jedoch erſcheinen die Leiden: ſchaften des welthiſtoriſchen Individuums in bedeutenderem Muß: ſtabe. Was verſteht Hegel unter Leidenſchaft? Leidenſchaft iſt nicht ganz das paſſende Wort für das, was er ausdrücken will. „Ich verſtehe hier nämlich überhaupt die Tätigkeit des Menſchen aus partikulären Intereſſen, aus ſpeziellen Zwecken, oder, wenn man will, ſelbſtſüchtigen Abſichten, und zwar ſo, daß ſie in dieſe Zwecke die ganze Energie ihres Wollens und Charakters legen, ihnen anderes, das auch Zweck ſein kann, oder vielmehr alles andere aufopfern. Dieſer partikuläre Inhalt iſt ſo eins mit dem Willen des Menſchen, daß er die ganze Beſtimmtheit desſelben ausmacht und untrennbar von ihm iſt; er iſt dadurch das, was er iſt.“ Leidenſchaft iſt die Konzentration aller Bedürfniſſe und Kräfte der Individualität auf einen Zweck mit Hintanſetzung aller übrigen Intereſſen und Zwecke. Nur darf dieſe Beſtimmtheit des Wollens nicht bloß einen „privaten Inhalt“ haben, ſondern ſie muß das „Treibende und Wirkende allgemeiner Taten“ ſein. Hegel bemerkt hierzu, daß „nichts Großes in der Welt ohne Leidenſchaft vollbracht worden iſt“. 16 14 J, 1,74. 1 LM, I, 64 = B, 60. 16 L, I, 62 f. B, 58 ff. Ber“ 125 Welches iſt aber das Allgemeine, auf das die Leidenſchaft des großen Individuums gerichtet iſt? Es iſt nicht das Allgemeine, mit dem es unter normalen Verhäͤltniſſen die ſtaatsbürgerliche Aufgabe des erhaltenden Individuums zu tun hat. Dieſes Allgemeine iſt das ruhige Beſtehen eines Volkes oder Staates. Es iſt ein Allgemeines anderer und hoherer Art, das mit der welthiſtoriſchen Perſon ſelber dann hervortritt, wenn der Beſtand eines Volksgeiſtes ſich erfchöpft hat und durch das Weiterſchreiten der Idee zertrümmert wird. Die weltgeſchichtlichen Perſoͤnlichkeiten find nicht einzelne Anomalien innerhalb des beſtehenden Staatsweſens, ſie ſtellen vielmehr als Bahnbrecher einer neuen, kommenden Ordnung der Dinge das Ganze der bisherigen Weltgeſtaltung in Frage. „Hier iſt es gerade, wo die großen Kolliſionen zwiſchen den beſtehenden, anerkannten Pflich⸗ ten, Geſetzen und Rechten und zwiſchen Möglichkeiten entſtehen, welche dieſem Syſtem entgegengeſetzt ſind, es verletzen, ja ſeine Grundlage und Wirklichkeit zerſtören und zugleich einen Inhalt haben, der auch gut, im großen vorteilhaft, weſentlich und notwendig ſcheinen kann.“ Die großen Heroen der Geſchichte „nehmen ihre Zwecke und ihren Beruf nicht aus dem ruhigen, eingeordneten Syſtem, dem geheiligten Lauf der Dinge. Ihre Berechtigung liegt nicht in dem vorhandenen Zuſtande, ſondern es iſt eine andere Quelle, aus der fie fchöpfen“. Dieſe Quelle iſt der verborgene Geiſt einer neuen Weltgeſtaltung, der an die Gegenwart pocht und aus verbor⸗ genen Tiefen empordrängt. 17 Was die weltgeſchichtlich bedeutſame Perſon von dem Enthuſiaſten unterſcheidet, iſt die „klare Be ſonnenheit“, die man den Enthuſiaſten gewöhnlich nicht zuſchreibt.!“ Was ſie vom Abenteurer trennt, iſt der Umſtand, daß ſie nicht irgendwelche vom Beſtehenden abweichende Meinungen, ja ſelbſt wohlgemeinte Ideale verfolgt, ſondern die Notwendigkeiten, die an der Zeit ſind. Scheinbar bringen die welthiſtoriſchen Menſchen die neuen Weltverhältniſſe aus ſich ſelbſt hervor. Und jedenfalls ſind * L 1, 74f.=B, 6sff. L. I, 80. 126 Die Lehre von der Rangordnung der Individuen ihre Hervorbringungen ihr Intereſſe und ihr Werk, mit dem ſie nicht andere, ſondern ſich ſelbſt befriedigen wollen. !? Aber darin ſind ſie zugleich die Exponenten des Weltgeiſtes. Iſt die Sache an 7 und für ſich notwendig und der Geiſt in ſich fertig, ſo werden die großen Individuen durch die Zeit ſelbſt erzeugt.?“ Der Held und die Sache kommen zur Deckung. 21 „Jene großen Männer ſcheinen zwar nur ihrer Leidenſchaft, ihrer Willkür zu folgen; aber, was ſie wollen, iſt das Allgemeine, dies iſt ihr Pathos. Die Leidenſchaft iſt eben die Energie ihres Ich geweſen; ohne dieſe hätten ſie gar nichts hervorbringen können. Der Zweck der Leidenſchaft und der Idee iſt auf dieſe Weiſe ein und derſelbe; die Leidenſchaft iſt abſolute Einheit des Charakters und des Allgemeinen. Es iſt gleichſam etwas Ties riſches, wie der Geiſt in ſeiner ſubjektiven Beſonderheit hier mit der Idee identiſch iſt.“?? Die prägnanteſte Definition, die Hegel gibt, lautet: „Dies ſind die großen Menſchen in der Geſchichte, deren eigene partikuläre Zwecke das Subſtanzielle enthalten, welches der Wille des Weltgeiſtes iſt.“?s Cäſar bekämpfte feine Gegner, die auf der Seite ihrer perſönlichen Zwecke zugleich die formelle Staatsverfaſſung und damit die Macht des rechtlichen Scheins für ſich hatten, aus dem ebenſo perſönlichen Intereſſe, ſeine Stellung, Ehre und Sicherheit zu erhalten. Was ihn zur weltgeſchichtlichen Perſönlichkeit macht, iſt der Umſtand, daß ſein Streben nach der Alleinherrſchaft nicht nur das Streben nach partikulärem Gewinn, ſondern die Vollbringung deſſen iſt, „was an und für ſich an der Zeit war“. 24 Die neue Ausgabe ergänzt hierzu: „Cäſar hatte die richtigſte Vorſtellung von dem, was die römiſche Republik hieß, daß nämlich die ſeinſollenden Geſetze von der auctoritas und dignitas erdrückt waren, und daß es ſich gehörte, dieſer als der partikulären Willkür ein Ende zu machen. Dies hat er vollführen können, weil es richtig war. Hätte er ſich an den Cicero gehalten, ſo wäre er 1 1, I, 75ff. = B, 7. ®L, IV, 87. u L, I, 80, L, I, 79. ®LM, I, 68 B, 66. # L M, I, 6 f. = B, 66. 127 nichts geworden. Cäfar wußte, daß die Republik die Lüge war, daß Cicero Leeres rede und daß eine andere Geſtalt an die Stelle dieſer hohlen geſetzt werden müſſe, daß die Geſtalt, die er hervorbrachte, die notwendige ſei.“ ?“ 7 Was die Heroen der Geſchichte von den Zeitgenoſſen unterſcheidet, iſt der Grad des Bewufftſeins, mit dem fie ſich über die Notwendig⸗ keiten und Forderungen des Zeitalters klar geworden ſind. Was die andern nur dunkel ahnen, undeutlich ſehen, inſtinkthaft wollen, das ſteht dem welthiſtoriſchen Individuum als unverrückbares Ziel klar und deutlich vor Augen. Es iſt der Zentralwille, der die andern Willen mit ſich reißt, das Panier, um das ſich trotz aller Widerſtände doch endlich alle ſcharen, ſie moͤgen wollen oder nicht. Die In⸗ dividualitäten, geſchichtsphiloſophiſch betrachtet, ſetzen das in Wirk⸗ lichkeit, was der Volks⸗ und Weltgeiſt will. „Die Individuen ver⸗ ſchwinden vor dem allgemeinen Subſtanziellen, und dieſes bildet ſich ſeine Individuen ſelbſt, die es zu ſeinem Zwecke nötig hat. Aber die Individuen hindern nicht, daß geſchieht, was geſchehen muß.“ Wie ſich die weltgeſchichtlichen Individuen zu Organen des ſubſtan⸗ tiellen Weltgeiſtes herausgebildet haben, ſo ſind die ihnen unter⸗ geordneten Individuen die Organe des in jenen lebendigen Willens. „Zunächſt befriedigen dieſe (welthiſtoriſchen) Individuen ſich; ſie handeln gar nicht, um andere zu befriedigen. Wenn ſie das wollten, dann hätten ſie viel zu tun; denn die andern wiſſen nicht, was die Zeit will, nicht was ſie ſelbſt wollen. Aber jenen welthiſtoriſchen Individuen zu widerſtreben, iſt ein ohnmächtiges Unterfangen. Sie ſind unwiderſtehlich getrieben, ihr Werk zu vollbringen. Das iſt dann das Richtige, und die andern, wenn ſie auch nicht meinten, daß dies das ſei, was ſie wollten, hangen dem an, laſſen es ſich gefallen; es iſt eine Gewalt in ihnen über ſich ſelbſt, wenn ſie ihnen auch als eine äußerliche und fremde erſcheint und wider das Bewußtſein ihres gemeinten Wollens geht. Denn der weitergeſchrittene Geiſt iſt 1 L. I, 83. 128 Die Lehre von der Rangordnung der Individuen die innerliche Seele aller Individuen, aber die bewußtloſe Inner— lichkeit, die ihnen die großen Männer zum Bewußtſein bringen. Es iſt doch das, was ſie ſelbſt wahrhaft wollen, und deshalb übt es eine Gewalt, der ſie ſich übergeben auch mit Widerſpruch ihres bewußten Wollens; deshalb folgen ſie dieſen Seelenführern, denn ſie fühlen die unwiderſtehliche Gewalt ihres eigenen inneren Geiſtes, der ihnen entgegentritt.“ 2s Die geſchichtlich großen Individuen ſind die „Einſichtigen“. Was ſie ſagen und tun, iſt das Beſte, was geſagt und getan werden konnte. Aber ihr Wiſſen hat eine Grenze. Sie haben nicht das dem Geſchichtsphiloſophen eigentümliche Bewußtſein, daß die von ihnen hervorgebrachten Geſtaltungen „nur Momente in der allgemeinen Idee“ find. Sie find „praktiſch“. Sie wiſſen und wollen ihr Werk lediglich, weil es die Wahrheit ihrer Zeit und ihrer Welt iſt.?7 Darüber hinaus reicht ihr Wiſſen nicht. Sie wiſſen nicht, was der Geſchichtsphiloſoph weiß, daß ſie die „Geſchäftsführer“ eines Zwecks ſind, der eine Stufe im Fortſchritt des allgemeinen Geiſtes bildet. 23 Vom Standpunkt der übrigen Individuen aus vollbringen ſie ihr Werk mit klarem Bewußtſein über deſſen Notwendigkeit; vom Standpunkt des Weltgeiſtes aus iſt ihre Arbeit ein inſtinkt⸗ haftes Handeln, das ſich über den reinen letzten Zweck der Geſchichte nicht bewußt wird. Damit rundet ſich der Kreis des geſchichtsphiloſophiſchen Denkens. „Dieſe unermeßliche Maſſe von Wollen, Intereſſen und Tätigkeiten find die Werkzeuge und Mittel des Weltgeiſtes, feinen Zweck zu voll: bringen, — ihn zum Bewußtſein zu erheben und zu verwirklichen; und dieſer iſt nur, ſich zu finden, zu ſich ſelbſt zu kommen und ſich als Wirklichkeit anzuſchauen. Daß aber jene Lebendigkeiten der In- dividuen und der Völker, indem ſie das Ihrige ſuchen und befrie— digen, zugleich die Mittel und die Werkzeuge eines Höhern, Weitern 4 L, I, 37; L M, I 6s: L, I, 76ff. 92 = LM, „ 8e Die weltge ſchichtliche Perfönlichkeit 129 find, von dem fie nichts wiſſen, das fie bewußtlos vollbringen, dies iſt es, was zur Frage gemacht werden konnte, auch gemacht worden, und was ebenſo vielfältig geleugnet worden, als Traͤumerei, als Philoſophie, verſchrien und verachtet worden iſt.“ Daß in der Welt⸗ geſchichte durch die Handlungen der Menſchen noch etwas Weiteres herauskommt, als ſie unmittelbar wiſſen und wollen, bezwecken und erreichen, und daß es die allgemeine, dem Gang der Dinge im⸗ manente Weltvernunft iſt, die ſich der beſonderen Zwecke und In⸗ dividualitäten als untergeordneter Mittel bedient, um den Endzweck, auf den es ſchließlich ankommt, zu verwirklichen, — das iſt jener votauszuſetzende Glaube an die Vernunft, der geſchichtsphiloſophiſch nur inſofern begründet iſt, als er ſich an der Geſchichte bewähren und aus ihr auch als Erkenntnis erheben läßt.?“ In der Beſonder⸗ heit und Endlichkeit ihrer Intereſſen kämpfen die Individuen ſich aneinander ab und richten ſich gegenſeitig zugrunde. Aus dieſem Kampf und Untergang des Beſonderen reſultiert das Allgemeine. / „Dieſes wird nicht geſtört. Nicht die allgemeine Idee iſt es, welche ſich in Gegenſatz und Kampf, welche ſich in Gefahr begibt; fie hält ſich unangegriffen und unbeſchädigt im Hintergrund und ſchickt das Beſondere der Leidenſchaft in den Kampf, ſich abzureiben. Man kann es die Liſt der Vernunft nennen, daß ſie die Leidenſchaf⸗ ten für ſich wirken läßt, wobei das, durch was fie ſich in Exiſtenz ſetzt, einbüßt und Schaden leidet. Denn es iſt die Erſcheinung, von der ein Teil nichtig, ein Teil affirmativ iſt. Das Partikuläre iſt meiſtens zu gering gegen das Allgemeine; die Individuen werden aufgeopfert und preisgegeben. Die Idee bezahlt den Tribut des Daſeins und der Vergänglichkeit nicht aus ſich, ſondern durch die Leidenſchaften der Individuen.“ 0 Man darf nicht vergeſſen, daß Hegel ſich hier einer bewußt mythologiſchen Ausdrucksweiſe bedient. Daß ſich die Vernunft liſtig im Hintergrunde hält und unberührt bleibt von dem Kampf, den ſie anſtiftet und der ſich vor ihr ab⸗ LM, I, 65ff.=B, 61. 63. » L, I, 83f. = B, 70, Leefe, Seſchichtspbiloſophie Hegels u 130 Die Lehre von der Rangordnung der Individuen ſpielt, iſt bildlich gemeint und würde, wörtlich verſtanden, allem Bisherigen widerſprechen, wonach ſich das Allgemeine nur durch das Beſondere, das Unendliche nur durch das Endliche, das Ver⸗ nünftige nur durch die Leidenſchaften verwirklicht. Die Idee iſt Prozeß, ewige, ſchöpferiſche Lebendigkeit, nicht untätiger Zuſchauer! Was Hegel alſo meint und ſagen will, iſt dies, daß ſich die Idee niemals im Partikulären erſchöpft, daß jede Einzelheit nur der Durchgangspunkt einer höheren Allgemeinheit, daß alles Endliche nur ein vergängliches Moment im dialektiſchen Prozeß des Unend⸗ lich⸗Endlichen iſt. Damit iſt aber auch geſagt, daß das Individuum bei aller Par⸗ tikularität an dem abſoluten Vernunftzweck teilhat. Es kann daher nicht ausſchließlich unter der Kategorie des Mittels und des Merf- zeugs betrachtet werden. Es iſt auch Selbſtzweck. Und die Sphäre, in der das Subjekt der Kategorie des Mittels entnommen zu ſein verlangt, iſt die allerperſönlichſte Wertſphäre der Religioſität und Sittlichkeit, die als das Ewige und Göttliche in ihm der äußeren Notwendigkeit und Zufälligkeit überhoben iſt. Hier gewinnt das Subjekt abſolute Berechtigung. „Die Religioſität, die Sittlichkeit eines beſchränkten Lebens — eines Hirten, eines Bauern, — in ihrer konzentrierten Innigkeit und ihrer Beſchränktheit auf wenige und ganz einfache Verhältniſſe des Lebens hat unendlichen Wert und denſelben Wert als die Religioſität und Sittlichkeit einer ausgebil⸗ deten Erkenntnis und eines an Umfang der Beziehungen und Hand— lungen reichen Daſeins. Dieſer innere Mittelpunkt, dieſe einfache Region des Rechts der ſubjektiven Freiheit, der Herd des Wollens, Entſchließens und Tuns, der abſtrakte Inhalt des Gewiſſens, das, worin Schuld und Wert des Individuums, ſein ewiges Gericht, eingeſchloſſen iſt, bleibt unangetaſtet und iſt dem lauten Lärm der Weltgeſchichte und nicht nur den äußerlichen und zeitlichen Ver— änderungen, ſondern auch denjenigen, welche die abſolute Not: wendigkeit des Freiheitsbegriffs ſelbſt mit ſich bringt, entnommen.“ 4 1 h N * nu‘ 2 N Eu Gil und Moral in der Geſchichte 131 BR; e 8 27 er Im allgemeinen aber iſt feſtzubalten, daß, was auch immer in der Welt von Edlem und Herrlichem vorhanden iſt, dieſes ein Höheres über ſich hat. Das Recht des Weltgeiſtes ſchreitet über alle beſon⸗ deren Berechtigungen hinweg.“! 3. Glück und Moral in der Geſchichte Zu den beſonderen Berechtigungen gehort auch das, was man gemeinhin Glück nennt. Wer iſt glücklich? „Glücklich nennt man den, der ſich harmoniſch mit ſich findet.“ Zum Glück gehort der „ruhige Genuß“. 92 Die weltgeſchichtlichen Individuen haben wohl in der Verfolgung und Erreichung ihrer Zwecke Befriedigung ge⸗ funden, aber „glücklich“ im landläufigen Sinne des Wortes wollten und konnten ſie nicht ſein. „Mit einem ſo großen Zwecke haben ſie ſich die Kühnheit vorgeſetzt, es gegen alle Meinungen der Menſchen aufzunehmen. So iſt es nicht das Glück, was fie wählen, ſondern Mühe, Kampf, Arbeit um ihren Zweck. Sie ſind, wenn ſie ihr Ziel erreicht hatten, nicht zum ruhigen Genuß übergegangen, nicht glück⸗ lich geworden. Was ſie ſind, iſt eben ihre Tat geweſen; dieſe ihre Leidenſchaft hat den Umfang ihrer Natur, ihres Charakters aus⸗ gemacht. Iſt der Zweck erreicht, ſo gleichen ſie leeren Hülſen, die abfallen. Es iſt ihnen vielleicht ſauer geworden, das Ihre aus⸗ zuführen; und in dem Augenblicke, wo es geworden iſt, ſind ſie früh geſtorben, wie Alexander oder wie Cäſar ermordet, wie Napoleon deportiert worden.“ Hegel fährt fort: „Dieſen ſchauderhaften Troſt, daß die geſchichtlichen Menſchen nicht das geweſen ſind, was man glücklich nennt, und deſſen das Privatleben, das unter ſehr verſchie⸗ denen, äußerlichen Umſtänden ſtattfinden kann, nur fähig iſt, — dieſen Troſt konnen die ſich aus der Geſchichte nehmen, die deſſen bedürftig ſind. Bedürftig aber desſelben iſt der Neid, den das Große, m LM, I, 84 f. 87 f. - B, 70f. 75. 1, I, 21. 78; B, 62: „Glüdlich ift derjenige, welcher ſein Daſein ſeinem beſonderen Charakter, Wollen und Willkür angemeſſen hat und ſo in ſeinem Daſein ſich ſelbſt genießt.“ 9* 132 Die Lehre von der Rangordnung der Individuen Emporragende verdrießt, der ſich beſtrebt, es klein zu machen und einen Schaden an ihm zu finden, und es nur darum erträglich findet, daß ſolches Hervorragende da war, weil es nicht glücklich geworden iſt.“ Der freie Menſch dagegen erkennt die großen Individuen neid⸗ los an und freut ſich ihrer. 33 Es iſt das Zeichen einer kleinlichen Geſinnung, die Weltgeſchichte unter dem Geſichtspunkt des Glücks zu betrachten. „Die Geſchichte iſt nicht der Boden für das Glück. Die Zeiten des Glückes find in ihr leere Blätter.“ 34 Das Glück ge⸗ hört zu den Opfern, die der Weltgeiſt fordert. Wie aber, wenn man das Glück im Sinne der moraliſchen Befriedigung verſteht, wie es der Fall zu ſein ſcheint, wenn man in die „Litanei der Klagen“ verfällt, daß es den Guten und From⸗ men meiſt ſchlecht, den Böſen und Gottloſen gut ergeht? Das ſo— genannte Gut- oder Schlechtgehen darf von dieſen oder jenen eine zelnen Individuen nicht zu einem „Moment der vernünftigen Welt⸗ ordnung“ gemacht werden, ſelbſt dann nicht, wenn es ſich um die Ausführung oder Sicherung hoher ſittlicher und rechtlicher Zwecke handelt. „Was die Menſchen moraliſch unzufrieden macht, — eine Unzufriedenheit, worauf ſie ſich etwas zugute tun — iſt, daß ſie ihrem Inhalte nach allgemeinere Zwecke, welche ſie für das Rechte und Gute halten, insbeſondere heutzutage Ideale von Staatseinrich⸗ tungen, im Sinn haben und der Geſchmack, Ideale zu erfinden und an dergleichen ſich ein Hochgefühl zu geben, den Gedanken, Grund- ſätzen, Einſichten darüber die Gegenwart nicht entſprechend findet; ſie ſetzen ſolchem Daſein ihr Sollen deſſen, was das Recht der Sache ſei, entgegen. Hier iſt es nicht das partikuläre Intereſſe, nicht die Leidenſchaft, welche Befriedigung verlangt, ſondern die Vernunft, das Recht, die Freiheit; und mit dieſem Titel ausgerüſtet, trägt dieſe Forderung das Haupt hoch und iſt leicht nicht nur unzufrieden über den Weltzuſtand und Weltbegebenheiten, ſondern empört da— gegen.“ 35 Auch dieſe moraliſche Befriedigung bleibt dem Individuum s I., I, 78f. B, 68. 4 L, I, 71 , 65 EN, 1 865 72. ou und Moral in der Gefhichte 133 oft genug verſagt. Seine Ideale ſcheitern an der Klippe der harten Wirklichkeit. Darüber iſt der Weltvernunft kein Vorwurf zu machen. Denn jene Unzufriedenheit beruht auf der Selbſtüberhebung des Individuums, das ſich für das Höchfte und Klügſte hält. „Was das Individuum für ſich in ſeiner Einzelheit ausſpinnt, kann für die allgemeine Wirklichkeit nicht Geſetz ſein, ebenſo wie das Welt⸗ geſetz nicht für die einzelnen Individuen allein iſt, die dabei ſehr zu kurz kommen koͤnnen.“ 36 Die neue Ausgabe ergänzt: „Es kann allerdings geſchehen, daß dergleichen nicht realiſiert wird. Das In⸗ dividuum macht ſich oft ſeine Vorſtellungen von ſich ſelbſt, von hohen Abſichten, herrlichen Taten, die es ausführen wolle, von der Wichtigkeit, die es ſelbſt habe, die es berechtigt ſei in Anſpruch zu nehmen, die zum Heile der Welt diene. Was ſolche Vorſtellungen betrifft, ſo müſſen ſie an ihren Ort geſtellt bleiben. Man kann ſich viel von ſich träumen, was nichts als übertriebene Vorſtellungen vom eigenen Werte ſind. Es kann auch ſein, daß dem Individuum Unrecht geſchieht; aber das geht die Weltgeſchichte nichts an, der die Individuen als Mittel in ihrem Fortſchreiten dienen.“ 37 Hegel verwirft es überhaupt, die Geſchichte als ſolche moraliſchen Geſichtspunkten zu unterſtellen. „Häufig werden moraliſche Re⸗ flerionen als weſentliche Zwecke betrachtet, um fie aus der Ge ſchichte zu ziehen, und die Geſchichte iſt oft auf die aus ihr zu gewinnende moraliſche Belehrung hin bearbeitet worden. Beiſpiele des Guten erheben freilich ſtets das Gemüt, beſonders der Jugend, und ſind beim moraliſchen Unterrichte der Kinder, um ihnen das Vortreffliche eindringlich zu machen, als konkrete Vorſtellungen mo⸗ raliſcher Grundſätze, allgemeiner Wahrheiten anzuwenden. Aber das Feld der Schickſale der Völker, der Umwälzungen der Staaten, deren Intereſſen, Zuſtände und Verwickelungen, iſt ein anderes als das moraliſche.“ Os „In den Verwickelungen der Weltgeſchichte reichen die einfachen moraliſchen Gebote nicht aus.“ 39 Den trans⸗ , , 33 B, 23. , I, 33. , I, 73 - B, 38f. » , I, 174. 134 Die Lehre von der Rangordnung der Individuen ; moraliſtiſchen Sinn der Geſchichte hat Hegel an zwei Stellen innerhalb der griechiſchen Welt ſcharf herausgearbeitet. Die Perſerkriege und Alexander der Große ſtellen vor die Frage, ob Verdienſt und Würdigkeit, Mut und Tapferkeit, Pflicht⸗ erfüllung und Opferſinn, ob die moraliſche Qualifiziertheit von Völ⸗ kern und Individuen den Gang der Weltgeſchichte entſcheidend beein— fluſſen, inſofern dieſer durch den Erfolg die moraliſchen Aufwen⸗ dungen belohnt, oder ob das Intereſſe des Weltgeiſtes ein hiervon unabhängiges, nach objektiven Geſichtspunkten zu normierendes iſt, das den Wert der Sache über den Wert des Verdienſtes ſtellt. Hegel entſcheidet ſich für das letztere. Er ſagt von dem Sieg der Griechen über die Perſer: „Aufmerkſam zu machen iſt hier auf den Glanz, der dieſe Begebenheiten umgibt. Darin nämlich darf man eine Gunſt des Schickſals ſehen, daß Namen wie Marathon, Salamis uſw. ewig in dem Andenken der Menſchen leben werden. Gewiß waren die 300 Spartiaten unter Leonidas tapfer; aber nun leben ſie fort, aus⸗ gezeichnet als Muſter der Tapferkeit, während viele tauſendmal dreihundert, die ſeit der Zeit ebenſo tapfer geſtorben ſind, nicht in dem unſterblichen Glanze von Thermopylae ſtehen. Das kann, wie gejagt, als Glücksfall erſcheinenz aber der Ruhm entſcheidet nach der Natur der Sache, — nicht nach dem moraliſchen ſubjektiven Wert, ſondern nach dem objektiven. Es lag hier das Intereſſe des Weltgeiſtes auf der Wagſchale; alle anderen Intereſſen, die mit irgendeinem Vaterlande zuſammenhingen, ſind beſchränkter ge⸗ weſen.“ 40 Das Intereſſe des Weltgeiſtes war der Sieg der organi⸗ ſierten geiſtigen Kraft über die unorganiſierte Maſſe. Die Siege der an Zahl unterlegenen Griechen über den nicht verächtlichen Anſturm der perſiſchen Maſſen ſind kein moraliſches Verdienſt. Oder richtiger, inſofern fie auf dem Verdienſt der Difziplin und Tapferkeit des Griechenvolkes beruhen, kommen ſie für die Weltgeſchichte nicht in Betracht. Was dieſe Siege zu „welthiſtoriſchen“ macht, beruht 4% L, III, 618, Gluck und Moral in der Geſchichte 135 n darauf, daß ſie die Bildung und geiſtige Macht gerettet und dem aſiatiſchen Prinzip alle Kraft entzogen haben. „Wie oft haben nicht ſonſt Menſchen für einen Zweck alles hingegeben, wie oft ſind nicht Krieger für Pflicht und Vaterland geſtorben? Hier iſt aber nicht nur Tapferkeit, Genie und Mut zu bewundern, ſondern hier iſt es der Inhalt, die Wirkung, der Erfolg, die einzig in ihrer Art ſind. Alle anderen Schlachten haben ein mehr partikuläres Intereſſe; der unſterbliche Ruhm der Griechen aber iſt gerecht, wegen der hohen Sache, welche gerettet worden iſt. In der Weltgeſchichte hat nicht die formelle Tapferkeit, nicht das ſogenannte Verdienſt, ſondern der Wert der Sache über den Ruhm zu entſcheiden.“ 1 Im Fall Alexanders des Großen tritt Hegel dafür ein, daß eine weltgeſchichtliche Perſönlichkeit nicht nach dem Maßſtab der Moralität des Durchſchnittsmenſchen gemeſſen werden könne, ſon⸗ dern einen hiervon unabhängigen Wert repräfentiere, der ſich nach ſeiner notwendigen Stellung in dem Prozeß der Selbſtbefreiung des Geiſtes richtet. „Es würde zu der großen weltgeſchichtlichen Geſtalt Alexanders nicht heranreichen, wenn man ihn, wie die neueren Philiſter unter den Hiſtorikern tun, nach einem modernen Maßſtab, dem der Tugend und Moralität meſſen wollte.“ 2 Die neue Aus⸗ gabe fährt ergänzend fort: „Er hat in uns dieſe größte und runde Anſchauung ſeiner Individualität hinterlaſſen, die nur häufig durch kleinliche Reflexion getrübt wird. Man muß ihm nicht vorwerfen, daß er Blut und Krieg in die Welt gebracht habe. Mit Blut und Krieg muß man fertig fein, wenn man an die Weltgeſchichte geht.“ !“ Hegel hat im Gegenſatz zu Kant und darin als ein Vorläufer Nietzſches geſehen, daß die Individuen hinſichtlich ihres ſittlichen Verhaltens nicht auf ein und derſelben moraliſchen Ebene zu liegen kommen. Weil es eine Rangordnung der Individuen gibt, kann es keine allgemeingültige Ethik geben, wenn man darunter den In⸗ begriff moraliſcher Grundfäße verſteht, die unterſchiedslos für jeder: * I., III, 619 - B, 356. "L, III, 652 = B, 355. , III, 652, 136 Die Lehre von der Rangordnung der Individuen mann ſchlechthin verbindlich ſind. Was für die Sittlichkeit des er— haltenden Individuums gilt, gilt nicht für die der welthiſtoriſchen Perſönlichkeit. Dieſe darf nicht an der Moral des gewöhnlichen Staatsbürgers gemeſſen werden. Der Unterſchied des Zwecks, der Leiſtung, der Bedeutung bedingt auch einen ſolchen des ethiſchen Verhaltens. Es iſt „pſychologiſche Kleinmeiſterei“, die Moral der großen Männer der Geſchichte dadurch verdächtig und verächtlich zu machen, daß man ihnen die niedrigen Motive der Ruhm- oder Eroberungsſucht unterſchiebt. „Welcher Schulmeiſter hat nicht von Alexander dem Großen, von Julius Cäſar vordemonſtriert, daß dieſe Menſchen von ſolchen Leidenſchaften getrieben worden und daher unmoraliſche Menſchen geweſen ſeien? woraus ſogleich folgt, daß er, der Schulmeiſter, ein vortrefflicherer Menſch ſei als jene, weil er ſolche Leidenſchaften nicht beſitze und den Beweis dadurch gebe, daß er Aſien nicht erobere, den Darius Porus nicht beſiege, ſon— dern freilich wohl lebe, aber auch leben laſſe.“ 44 Wie die Welt geſchichte ſich auf einem höheren Niveau bewegt als dem der Moralität, welche in der Geſinnung und dem Gewiſſen, dem Willen und der Handlungsweiſe der privaten Individuen ihre Stätte hat, ſo beruht die Sittlichkeit derer, die bei den großen Umwälzungen der Geſchichte dem Fortſchritt der Idee, wenn auch aus edlen Motiven, Widerſtand leiſten, auf einem „vom lebendigen Geiſte und von Gott bereits verlaſſenen Recht“. Die welthiſtoriſchen Taten und deren Vollbringer ſind gerechtfertigt durch die Idee und bedürfen nicht der Rechtfertigung durch die Moral der Zeitgenoſſen oder gegenwärtiger Beurteiler. „Die Litanei von Privattugenden der Beſcheidenheit, De⸗ mut, Menſchenliebe und Mildtätigkeit uff. muß nicht gegen ſie er— hoben werden.“ 9 Das welthiſtoriſche Individuum wird dem Welt⸗ L, I, 81 B, 68 f. LM, I, 153f. B, 111. — Vgl. Rechtsphiloſophie a. a. O. $ 345, S. 424 f.: „Gerechtigkeit und Tugend, Unrecht, Gewalt und Laſter, Talente und ihre Taten, die kleinen und die großen Leidenſchaften, Schuld und Unſchuld, Herrlichkeit des individuellen und des Volkslebens, Selbſtändigkeit, Glück und Unglück be en Mn in den 606400 137 | ve 3 Die Unmaſſe der Individuen geringerer Ordnung muß es ſich gefallen laſſen, von den großen Männern der Geſchichte zu deren überperfönlichen Zwecken verbraucht zu werden. „So haben ſolche welthiſtoriſchen Individuen allerdings in ihren großen In⸗ tereſſen andere, für ſich achtungswerte Intereſſen, heilige Rechte, leichtherzig, flüchtig, momentan, rückſichtslos behandelt, eine Be⸗ bandlungsweife, die moraliſchem Tadel ausgeſetzt iſt. Aber ihre Stel⸗ lung überhaupt iſt als eine andere zu faſſen. Eine große Geſtalt, die der Staaten und der Einzelnen haben in der Sphäre der bewußten Wirklichkeit ihre beftimmte Bedeutung und Wert, und finden darin ihr Urteil und ihre, jedoch unvoll⸗ kommene, Gerechtigkeit. Die Weltgeſchichte füllt außer dieſen Geſichts punkten; in ihr erhalt dasjenige notwendige Moment der Idee des Weltgeiſtes, welches gegen: wärtig feine Stufe ift, fein abſolutes Recht, und das darin lebende Volk und deſſen Taten erhalten ihre Vollführung und Glück und Ruhm.“ Nimmt man hiermit zuſammen, was oben über den Selbſtzweck des Staates und der Individuen aus⸗ geführt worden iſt (S. 116. 119 f.), ſo iſt der berühmte Satz Rankes, daß der Wert jeder Epoche, als unmittelbar von Gott ſeiend, in ihrer Exiſtenz beruhe, jedenfalls kein ſtichhaltiger Einwand gegen Hegel, obwohl er gegen dieſen gerichtet iſt. Ranke, Weltgeſchichte IX, 2, S. 4f.: „Wollte man aber ... annehmen, dieſer Fortſchritt beſtehe darin, daß in jeder Epoche das Leben der Menſchheit ſich höher potenziert, daß alſo jede Generation die vorhergehende vollkommen übertreffe, mithin die letzte allemal die bevorzugte, die vorhergehenden aber nur die Träger der nach⸗ folgenden wären, fo würde das eine Ungerechtigkeit der Gottheit ſein. Eine ſolche gleichſam mediatiſierte Generation würde an und für ſich eine Bedeutung nicht haben; fie würde nur inſofern etwas bedeuten, als fie die Stufe der nachfolgenden Generation wäre, und würde nicht in unmittelbarem Bezug zum Göttlichen ſtehen. Ich aber behaupte: jede Epoche iſt unmittelbar zu Gott, und ihr Wert beruht gar nicht auf dem, was aus ihr hervorgeht, ſondern in ihrer Exiſtenz ſelbſt, in ihrem eigenen Selbſt. Dadurch bekommt die Betrachtung der Hiſtorie, und zwar des individuellen Lebens in der Hiſtorie einen ganz eigentümlichen Reiz, indem nun jede Epoche als etwas für ſich Gültiges angeſehen werden muß und der Bettach⸗ tung hoͤchſt würdig erſcheint. Ranke vergröbert Hegel, da er nicht beachtet, daß nach Hegel der Gehalt aller früheren Epochen in der nächſtfolgenden aufbewahrt bleibt. Eben das macht die „Totalität“ der Idee aus. Vgl. das oben S. 8 f. ange: führte Hegelzitat. Auch das iſt nicht richtig, wenn Ranke a. a. O. S. 7 gegen Hegel bemerkt: „Nach dieſer Anſicht würde bloß die Idee ein ſelbſtändiges Leben haben; alle Menſchen aber wären bloße Schatten oder Schemen, welche ſich mit der Idee erfüllten. Hier iſt Hegels Lehre von der Individualität völlig verkannt. 138 Die Lehre von der Rangordnung der Individuen da einherſchreitet, zertritt manche unſchuldige Blume, muß auf ihrem Wege manches zertrümmern.“ 46 Die welthiſtoriſchen Perfön- lichkeiten ſtehen aber nicht in abſolutem Sinne jenſeits von Gut und Böſe. Das ſind ſie nur vom Standpunkt der jeweils geltenden Moral. Mit dem Weltenauge der Idee betrachtet ſind ſie die Werkzeuge der abſoluten Macht des Guten, das ſich in der Weltgeſchichte wirkſam vollführt.“ Das durch und durch ſittliche Pathos, das in Hegels Freiheits- und Staatsbegriff zum Ausdruck kommt, iſt gegen die Wehleidigkeit und Enge kleinbürgerlich-moraliſcher Reflexionen ges richtet. Durch Hegels Geſchichtsphiloſophie geht der charaktervolle Zug eines herben und entſagungsvollen Heroismus. #3 x 4% L, I, 83=B, 60f. * Vol. oben ©. sıf. — H. Scholz hat a. a. O. S. 43ff. gezeigt, in wie hohem Grade bedeutſam es für Hegel iſt, das Abſolute als ſich ſelber beſtändig relativierend zu faſſen. Hegels Lehre von der moraliſchen Abgeſtuftheit der Individuen iſt ein neuer Beweis für ſeinen eigentümlichen Relativismus innerhalb der Grenzen des Abſolutheitsbewußtſeins. “ Lehrreich und reizvoll iſt es übrigens, mit Hegels Auffaſſung der weltgeſchichtlichen Perſönlichkeit Jakob Burckhardts Aufſatz über „Die hiſtoriſche Größe“ (Weltgeſchichtliche Betrachtungen a. a. O. S. 210—252) zu vergleichen. Von beiden iſt darüber Endgültiges geſagt worden. FE wre; I er, — * P „ Pe 7 * — * 3 5 8 - * A Fi 5 — . 20 * Ya ER u 3 — * * . * * ‘> 4 8 FE 1 . Die Dialektik des weltgeſchichtlichen Prozeſſes Die Problemſtellung Wir haben geſehen, daß die Denkvorausſetzungen, mit denen Hegel an die Geſchichte herantritt, die dialektiſche Faſſung des Geiſtes zu ihrem alles beherrſchenden Mittelpunkt haben. Der weitere Gang unſerer Unterſuchung hat feſtzuſtellen, ob ſich die Ergebniſſe des erſten Teils an den näheren geſchichtsphiloſophiſchen Darlegungen Hegels bewähren. Nur, wenn das Prinzip der Dialek⸗ tik als der unverrückbar feſtliegende Punkt er⸗ kannt wird, auf den das Koordinatenſyſtem feiner geſamten Geſchichtsbetrachtung bezogen iſt, läßt ſich zeigen, wie tiefgreifend die gegenſeitigen Be: ziehungen zwiſchen den einzelnen Teilen der He⸗ gelſchen Geſchichtsphiloſophie ſind und wie licht⸗ voll ſich ihre Zuſammenhänge aufhellen. Jeder an⸗ dere Weg, ſich dem Verſtändnis Hegels zu nähern, verfehlt das Ziel.! Die folgende Darſtellung wird alſo ein fortlaufender und Dieſe noch zu bewahrheitende Auffaſſung der Geſchichtsphiloſophie Hegels tritt damit in diametralen Gegenſatz zu einer Auffaſſung, wie ſie neuerdings etwa von Heinrich Scholz a. a. O. entwickelt worden iſt. Scholz ſtellt der kritiſchen Methode Kants die dialektiſche Methode Hegels als durch und durch dog matiſche Methode gegenüber. „Sie ieitet ſich aus der Natur des Geiſtes und nicht aus der Natur der Erfahrung ab.“ S. 5. Dieſe Begründung erſcheint mir bedenklich. Denn iſt die Natur des Geiſtes etwa nicht erfahrbar? Im Erſten, grundlegenden Teil glaube ich gezeigt zu haben, daß die Dialektik Hegels auf der intuiti⸗ ven Erfaſſung des Rhythmus beruht, der das Werden des leben: digen Geiftes als das immanente Geſetz feiner Entfaltung durch- N TI E 142 Die Dialektik des weltgeſchichtlichen Prozeſſes lückenloſer Beweis der vorangeſtellten Theſe fein. Wenn, wie ges zeigt, der dialektiſche Prozeß ſich im Rhythmus von Identität und waltet. Eine Dialektik in dieſem Sinne konnte für Kant überhaupt nicht in Frage ommen. Aber nicht, weil Hegels dialektiſche Methode ſo aprioriſch und konſtruktiv wie die Methode der Vorkantianer iſt, ſondern, weil Kants Geiſtbegriff — wenn man ihn ſo nennen darf — rein ſtatiſchen Charakter trägt. Die Formen der An⸗ ſchauung, die Kategorien des Verſtandes und die Ideen der Vernunft ſind ein für allemal unveränderlich feſtſtehende Größen. Hegels dynamiſcher Geiſtbegriff, der nicht an der Frage der Möglichkeit der naturwiſſenſchaftlich⸗kauſalen Erkennt⸗ nis, ſondern an dem geſchichtlichen Werden des Geiſtes orientiert iſt, mußte zu der im Geſichtskreiſe Kants noch gar nicht aufgetauchten weiteren Überlegung nach der Struktur dieſes Werdens führen. Es ſcheint mir überhaupt mißlich zu ſein, hinſichtlich der Dialektik Hegels ohne weiteres von einer aprioriſchen Konſtruktion zu reden. Ich möchte dafür lieber Intuition ſagen. Allerdings denke ich dabei nur an Hegels Geſchichtsphiloſophie, nicht an ſein Syſtem der Logik. Wo iſt Hegels dialektiſche Methode eigentlich zu Hauſe? In den aprioriſchen Konſtruktionen feiner Logik (zugegeben daß fie es find!)? Oder hat er fie bei der denkenden Durchdringung des geiſtig⸗geſchichtlichen Lebens erlauſcht? Den Spuren Laſſons folgend (ogl. oben S. 18) entſchied ich mich für die zweite Möglichkeit. Dann muß aber auch der Beweis an der Geſchichtsphiloſophie Hegels ſelbſt erbracht, ihre dialektiſche Geſtaltung vollkommen durchſichtig, der letzte Sinn der Dialektik aus ihr erſchloſſen werden können. Scholz ſchätzt Wert und Bedeutung der dialektiſchen Methode für Hegels Geſchichtsphiloſophie außerordentlich gering ein. Hegel ſelbſt habe an eine dialektiſche Durchdenkung der Geſchichte im ſtrengen, durch den Selbſtzerſetzungsgedanken beſtimmten Sinne nicht gedacht. Der, dialektiſche Sche⸗ matismus“ habe ſich nicht nur nie durchführen laſſen, er ſei auch von Hegel ſelber nie durchgeführt worden. „Wo iſt denn die Strenge des dialektiſchen Fortſchritts in Hegels Geſchichtsphiloſophie? Wo wird denn gezeigt, daß die klaſſiſche Welt aus der Selbſtzerſetzung des Orients und der romaniſch⸗germaniſche Kulturkreis aus der Selbſtzerſetzung des römiſchen durch ein Umſchlagen der Idee hervorgegangen iſt? Wo iſt denn überhaupt die Idee, an der ein ſolches Umſchlagen aufgezeigt werden könnte? Die Antwort muß lauten: fie iſt gar nicht vorhanden.“ S. ff. Gerade das Gegenteil trifft zu! Abgeſehen davon, daß Hegel bei jedem weltgeſchichtlichen Volk nicht von der Idee überhaupt, ſondern von dem gerade dieſem Volk eigen⸗ tümlichen „Prinzip“ ſpricht, läßt ſich genaueſtens aufzeigen und mit unwiderſprech⸗ lichen Einzelheiten belegen, was Scholz beſtreitet. Auch die Dialektik des Frei: heitsbegriffes, die Scholz leugnet, iſt mit Händen zu greifen. Wenn Scholz ver⸗ ſucht, die Bedeutung der Geſchichtsphiloſophie Hegels auf ihre un⸗dialektiſchen Momente zu reduzieren, fo führt das zur Zerſtörung der tiefſten geſchichtsphilo⸗ ſophiſchen Grundgedanken Hegels. ra 18 | 143 ® Re ER io muß diefer Sachverhalt auch über die * Gruppierung des Stoffs entſcheiden. Die Anordnung, die die bie berigen Herausgeber und Darſteller der Geſchichtophiloſophie Hegels vorgenommen haben, iſt nicht geradezu falſch, aber ganz äußerlich und verdeckt die logiſche Struktur, um deren Herausarbeitung es uns zu tun iſt. Im Fortgang der Geſchichte gilt es alſo bie Punkte aufzuzeigen, wo den ureigenſten Intentionen Hegels gemäß von einer Phaſe der Identität und einer Phaſe des Widerſpruchs die Rede fein muß. Daß ſich eine ſolche nicht unter ſtofflichen, ſondern bogiſchen Gefichtspuntten erfolgende Einteilung mühelos durchführen af, iſt die Probe auf das Erempel. R J. Erſte Stufe: Die orientaliſche Welt 1. Das orientaliſche Prinzip Es handelt ſich zunächſt darum, den Charakter der orientaliſchen Welt zu beſtimmen, mit der Hegel — das Vorgeſchichtliche, was dem Staatsleben vorangeht und jenſeits des ſelbſtbewußten Lebens liegt, kommt für eine Philoſophie der Weltgeſchichte nicht in Be— tracht — beginnt, „inſofern wir Staaten in derſelben ſehen“.? Der Begriff der „ſubſtanziellen Macht“ konſtituiert wie den Begriff der Natur ſo auch den des Staates. Alle phyſikaliſchen und materiellen Ausdeutungen ſind dem Subſtanzbegriff Hegels fernzuhalten. Das iſt nach Leibniz ſelbſtverſtändlich. Subſtantielle Mächte in der Natur ſind Geſetz und Gattung, von denen die Natur ſelber freilich kein gegenſtändliches Bewußtſein hat. Im geiſtig⸗geſchicht⸗ lichen Leben der Menſchheit bezeichnet der Subſtanzbegriff das von der Willkür der einzelnen unabhängige allgemeine Prinzip, das in Form einer wie auch immer beſtimmten Allgemeinheit dem Beſon— deren entgegentritt, ſich ihm gegenüber geltend macht, es beherrjcht . und verpflichtet. Eine ſolche ſelbſtändige, den Individuen übergeord— nete und ihr Zuſammenleben regelnde ſubſtantielle Macht iſt der Staat. Mit dem Bewußtſein um diefen beginnt die eigentliche Ger ſchichte. Wenn Hegel gleichzeitig betont: „nur das ſittliche Daſein iſt das geſchichtliche“, ſo iſt das ſehr bezeichnend für die enge Ver— knüpfung ſeines Begriffs der Sittlichkeit mit dem des Staates. Sitt⸗ 2 L, II, 267 B, 163. r 2 . we 1 ö 98 Wert 1° 5 ER FE Das otientaliſche Prinzip 145 . lich iſt nur ein Daſein, das dem Zuſammenhang ſtaatlichen Gemein ſchaftslebens als dienendes Glied ein⸗ und untergeordnet iſt.“ A, „Die orientaliſche Welt hat jo als ihr näheres Prinzip die Sub⸗ ftanzialität des Sittlichen. Es iſt die erſte Bemächtigung der Will⸗ für, die in dieſer Subſtanzialität verſinkt.“! Auf dem Verſinken des Individuums in der Subftantialität liegt der Nachdruck. Es wäre auch ein anderes Verhalten des Individuellen zum Subſtantiellen, des Beſonderen zum Allgemeinen moͤglich. Gerade die verſchiedene Art und Weiſe, in der dieſe beiden Momente ſich vereinigen konnen, bedingt die Mannigfaltigkeit und den Reichtum geſchichtlichen Les bens. Die ſittliche Subſtanz des Staates, die in ſeinem Herrſcher, ſeiner Regierung, ſeiner Verfaſſung, ſeinen Geſetzen zum Ausdruck kommt, vermag, ohne daß fie darum aufhörte, ſittlich zu fein, den ſubjektiven Willen ſo zu knechten, daß kein Spielraum bleibt für die Innerlichkeit der Geſinnung und die Freiheit des Gewiſſens. Es iſt daher ein unendlicher Abſtand zwiſchen der Sittlichkeit orien⸗ taliſcher und moderner Staatsgeſinnung. Es fehlt beide Male nicht an dem herrſchenden Willen, dem ſich die Individuen zu beugen haben. Aber dort iſt dieſer Wille, das Allgemeine und Subſtantielle, die alle ſubjektive Freiheit herriſch unterdrückende Deſpotie, die das Individuum rein äußerlich über ſich ergehen laſſen muß. Hier iſt er zur wohltätig ordnenden Macht begrenzt, der gegenüber das In⸗ dividuum ſich der Identität des äußerlich Geforderten und innerlich Gebotenen, des Gehorſams und der Freiheit, des fremden und des eigenen Wollens bewußt werden kann. Weil der orientaliſche Geiſt dieſe „Innerlichkeit“ noch nicht erlangt hat, weil er noch abſolut heteronom iſt, das Prinzip der Autonomie noch nicht hat ausbilden und mit jenem verſoͤhnen konnen, bezeichnet Hegel ihn mit dem Be⸗ , II, 27f. L, II, 268 B, 163; L, I, 225: „So iſt in Aſien das Sittliche des Staatsbewußtſeins aufgegangen“; L, I, 225 B, 149: „Dort iſt das Licht des Geiſtes, das Bewußtſein von einem Allgemeinen und damit die Welt⸗ aufgegangen. tee ſe, Geſchichtsdbilo ſopdie Degel 10 146 Erſte Stufe: Die orientaliſche Welt griff der „natürlichen Geiſtigkeit“.5 Durch ihn wird der Begriff der ſubſtantiellen Macht, wie fie im Orient fich äußert, näher beſtimmt. Die ſubſtantielle Macht erſcheint nicht bloß in Form eines „welt— lichen Regiments“. Sie muß auch „rein im Innern auf geiſtigem Boden“ Wirklichkeit gewinnen. Religion, Moralität, Wiſſenſchaft ſind hier die gemeinſchaftliches Leben tragenden und erzeugenden Mächte, als welche das Subſtantielle „auf dem Boden des Gedan⸗ kens“ gewußt wird. Im Orient ſind dieſe weh Sphären, in die fich die ſubſtantielle Macht befondert, noch nicht unterſchieden, wenigſtens in ihrer Unterſchiedenheit dem Individuum noch nicht zum Bewußtſein gekommen. Der Grund liegt darin, daß der Geiſt noch nicht das „Fürſichſein“, d. h. Freiheit und Innerlichkeit ers langt hat. Gerade dieſes noch nicht Getrennt-Sein von Innerem und Außerem, Geiſtigem und Natürlichem charakteriſiert die „natürliche Geiſtigkeit“. Die ſubſtantielle Macht, als Prinzip der orientaliſchen Welt, iſt der Geiſt, der erſt noch „in Geſtalt natürlicher Wirklich? keit“ auftritt.“ Wo die Innerlichkeit fehlt, wo der individuelle, der ſubjektive Geiſt noch nicht bei ſich hat einkehren und frei in ſein eigenes Weſen ſich hat vertiefen können, da herrſcht im Staat den Individuen gegenüber das Prinzip der abſoluten Heteronomie, wäh— rend ſich andrerſeits die mannigfaltigen Gebiete des Kulturlebens- — Religion, Philoſophie, Moralität, Kunſt, Wiſſenſchaft — gegen⸗ über dem alles verſchlingenden Herrſchaftsprinzip des Staates in ihrer Eigengeſetzlichkeit weder Fonftituieren noch in relativer Selb⸗ ſtändigkeit entfalten können. Das meint Hegel, wenn er ſagt, in der orientaliſchen Welt ſei „die Morgenröte des Geiſtes im Auf- o L, II, 268 f. = B, 163f.; L, II, 268/9 = B, 164: „Wenn wir gehorchen, weil wir das, was wir tun, aus uns ſelbſt nehmen, ſo iſt dort das Geſetz das Geltende an ſich, ohne dieſes ſubjektiven Dazutretens zu bedürfen. Der Menſch hat darin nicht die Anſchauung ſeines eignen, ſondern eines ihm durchaus fremden Wollens.“ „Ey 1, 234. B, 155.3 U 1, 235 f.; L, II, 2695 U , 376 = B, 2053 2 0% 414f.; L, II, 416 = B, 237; L, II, 493; L, 11,498; L, II, 59 = B, 292. Das orientaliihe Prinzip 147 ’ gange”,? und dieſen Geiſt näher als „natürliche Geiſtigkeit“, als in ihr ſich erſchoͤpfende „ſubſtanzielle Macht“ erläutert. Da im Orient Außerliches und Innerliches, Geſetz und Einſicht, Staat und Religion, die Geiſtigkeit als ſolche und das weltliche Reich noch nicht unterſchieden ſind, kann die den orientaliſchen Reichen eigentümliche Verfaffung als „Theokratie“ bezeichnet wer⸗ den,“ in der der „weltliche Regent Gott und Gott weltlicher Res gent iſt“.9 Hegel unterſtellt dem orientaliſchen Prinzip das chineſiſche, indiſche und perſiſche Reich. An der Spitze Chinas ſteht der Kaiſer, Patriarch und Deſpot, der „den ganzen Mechanismus aufrechterhält“. 10 Die Sphäre der Innerlichkeit iſt ausgeſchaltet, da zwiſchen Staatsgeſetzen und mora⸗ liſchen Geſetzen, zwiſchen äußerlichem Rechtsgebot und innerlichem Wollen nicht unterſchieden wird. Alle Subjektivität ſchrumpft auf das Staatsoberhaupt zuſammen, das allein zum Beſten, Heil und Frommen des Ganzen tätig iſt. !! Das indiſche Reich löſt die Maſchinerie des chineſiſchen Staats⸗ organismus auf, indem es die Stände als beſondere Mächte frei⸗ läßt. Indem dieſe aber zu „natürlichen Unterſchieden“ fixiert, d. h. als Kaſtenunterſchiede ſanktioniert werden, kann von einer Frei⸗ werdung der Individuen nicht die Rede ſein. An die Stelle des patriarchaliſchen Deſpotismus, des „ſubſtanziellen Subjekts“ in China, tritt der „Deſpotismus der theokratiſchen Ariſtokratie“ als die eigentümliche Staatsform des Indertums, in der die Reaktion des geiſtigen Bewußtſeins gegen die weltlichen Zuſtände anhebt. Iſt für die letzteren die „Losgebundenheit der verſchiedenen Unterſchiede“, deren Feſtſtellung als Kaſten als die Aufgabe der „Staatskonſtitu⸗ tion“ angeſehen werden kann, charakteriſtiſch, ſo tritt auf geiſtigem Gebiet dieſe Losgebundenheit als ein „ſteter Wechſel, ein nie beruhig⸗ n, e. L, II, 269 - B, 166. I, II, 269. , 11,270, ML, II, 270f. B, 164f. 10% 148 Erſte Stufe: Die orientaliſche Welt tes Schweifen, ein wilder Taumel“ zwiſchen den Extremen des ab⸗ ſtrakteſten Denkens und der gröbſten Sinnlichkeit zutage. 1? Perſien macht den Fortſchritt zur „theokratiſchen Monarchie“. „Es hat das Prinzip einer Monarchie, d. h. eine Verfaſſung, wo ein individueller Wille, ein Regent an der Spitze ſteht, zugleich aber Geſetzlichkeit vorhanden iſt, die er mit ſeinen Untertanen teilt, ſo daß er ſelbſt die Geſetzlichkeit ſeiner Untertanen iſt, das Prinzip des Guten.“ Die Gleichſetzung des Guten mit dem natürlichen Licht läßt allerdings erkennen, daß auch das perſiſche Reich noch im Bann der natürlichen Geiſtigkeit, als Theokratie auf dem Boden des orien⸗ taliſchen Prinzips ſich befindet. 1s Aber, indem es einzelne Völker⸗ individualitäten „frei in ſich gewähren läßt“ 14, iſt die perſiſche Ein⸗ heit „nicht die abſtrakte des chineſiſchen Reiches, ſondern ſie iſt be— ſtimmt, über viele unterſchiedene Völkerſchaften, die ſie unter der milden Gewalt ihrer Allgemeinheit vereinigt, zu herrſchen und wie eine ſegnende Sonne über alle hinwegzuleuchten, erweckend und wärmend. Alles Beſondere läßt dieſe Allgemeinheit, die nur die Wurzel iſt, frei aus ſich herausſchlagen und ſich, wie es mag, aus⸗ breiten und verzweigen“. Indem dieſes große Reich nicht wie China und Indien, die Reiche der ewig gegenwärtigen Dauer, ruhig be— harrt, ſondern einen lebendigen Gegenſatz in ſich birgt, d. h. Indivi⸗ dualitäten freiläßt, beginnt mit ihm die „Tradition der Weltge— ſchichte, inſofern ſie Bewegung, Fortgang iſt“. Als im engeren Sinne der Weltgeſchichte angehörig iſt es vergangen, nachdem es fein Prin— zip, das Prinzip des aufdämmernden Individualismus, dem nächſten Volk der Weltgeſchichte, dem Griechentum, hatte weitergeben müſſen. Das Perſerreich iſt das Reich des Übergangs vom Orient zum Abendland. 15 Dieſe erſte Vergegenwärtigung im Zuſammenhang mit der näheren Faſſung jener Begriffe der ſubſtantiellen Macht und natürlichen L, II, 271f. B, 165 f. n L, II, 272 BB, 166. ML, II, 272. 1% 272 ff. B, 166f, Das orientalifche Prin zip 149 Geiſtigkeit verleiht einem nur in der neuen Ausgabe ſich findenden Abſchnitt ein beſonderes Gewicht. „Die Individualität iſt im Orient noch nicht in ſich gegangen, ſie hat noch nicht ein Reich der ſubjek⸗ tiven Freiheit überhaupt in ſich errichtet. Das Theokratiſche iſt nicht im Gewiſſen, nicht ein Gedachtes; ſondern es iſt vorhanden nach der Einheit des Geiſtigen und Natürlichen, die man oft für das Höchfte hält, was aber nur der begriffsloſe, niedrig ſte Standpunkt ſein kann. Der Geiſt iſt das Herrſchende, und in unmittelbarer Einheit mit dem Natürlichen iſt er der unfreie. Das ſittliche Geſetz iſt hier dem Menſchen auf⸗ erlegt, nicht fein eigenes Wiſſenz er gehorcht nicht frei, ſondern er gehorcht nur überhaupt. Das Geſetz des Willens iſt für ihn das eines Deſpoten.“ 16 Hat der Geſchichtsphiloſoph Hegel die Abſicht, zu „zeigen, daß die ganze Weltgeſchichte nichts iſt als die Verwirklichung des Geiſtes und damit die Entwickelung des Be: griffs der Freiheit, und daß der Staat die weltliche Verwirklichung der Freiheit iſt“, 17 fo geſtatten die vorhin angeführten Sätze die Rekon⸗ ſtruktion ſowohl der dialektiſchen Bewegung des Freiheitsbegriffs als auch des dialektiſchen Ganges der Weltgeſchichte. Die niedrigſte Sphäre des Geiſtigen iſt die unmittelbare Einheit des Geiſtes mit dem Natürlichen. Wie dieſe unmittelbare Einheit zu verſtehen iſt, hat Hegel am orientaliſchen Prinzip gezeigt. Es iſt die Lebenslage der abſoluten Unfreiheit, der Standpunkt des unfreien, knechtiſchen Gehorſams. Das Ziel der geſchichtlichen Entwicklung iſt der freie Gehorſam, die Lebenslage, in der das zu ſich ſelbſt ge⸗ kommene und zum Bewußtſein ſeines innerlichen Wertes durch⸗ gedrungene Individuum ſich ſelbſt gehorcht, indem es den Staats⸗ willen als ſeine eigene, gegenſtändlich gewordene Vernunft anerkennt. Der Widerſpruch, zu dem der unfreie Gehorſam fortſchreiten muß, um zum freien Gehorſam aufgehoben, d. h. erhöht zu werden, iſt e 11, 269 f. Sperrungen vom Verf. L,TIV, 937 f. = B, 562. 150 Erſte Stufe: Die orientaliſche Welt zwar an der zitierten Stelle nicht ausdrücklich genannt. Vom Ge⸗ ſamtzuſammenhang der Hegelſchen Geſchichtsphiloſophie aus be⸗ trachtet iſt es aber nicht zweifelhaft, daß er nur die Willkür ſein kann, zu der ſich die Subjektivität emanzipiert, wenn ſie dem auf ihr laſtenden Deſpotismus entgegentritt. 1s In der ſubſtantiellen Macht der natürlichen Geiſtigkeit hat ſich das Beſondere vom All⸗ gemeinen, der Wille des einzelnen Individuums vom überragenden Willen des durch den Alleinherrſcher repräſentierten Ganzen noch nicht gelöſt. Das Verhältnis des einzelnen Willens zum Ganzen iſt das der Unfreiheit. Sowie der latente Widerſpruch beider Momente zum Ausbruch kommt, tritt das Individuum in das Stadium der ſich gegen die bisherigen Bindungen auflehnenden Willkür. Als alles Gemeinſchaftsleben — und dieſes beruht auf der Identität des All— gemeinen und Beſonderen — zerſtörende Partikularität kann die rebellierende Willkür nicht das letzte Wort behalten. Sie würde geiſtig⸗ geſchichtliches Leben überhaupt unmöglich machen. Im Fortſchritt zum freien Gehorſam — freilich ein langer Weg — wird der in der Willkür ſich kundgebende Widerſpruch des Einzelnen mit der Geſamtheit wahrhaft verſöhnt, indem das Individuum ſein Recht erhält, ohne aus der Identität mit dem Ganzen herauszutreten. Mit andern Worten: Die unmittelbare Identität muß durch den in ihr latenten und zum Ausbruch kommenden Widerſpruch geſprengt, mit ſich entzweit, aber durch deſſen Aufhebung auch mit ſich ſelbſt ver— ſöhnt und vermittelt werden. Die Aufhebung iſt keine bloße Vernich⸗ tung. Die Willkür bleibt ein Moment des freien Gehorſams, ſofern dieſer frei, alſo die Tat des Subjekts iſt. Ihre Aufhebung iſt daher die 1 L, III, 527: „In der orientaliſchen Welt ſtehen die ſittliche Suſtanz und das Subjekt ſich einander gegenüber. Jene wird gewußt als natürlich oder abſtrakt; das Sittliche iſt Deſpot für das Subjekt und zeigt ſich betätigt durch den Willen eines Einzigen, dem die unfreien Subjekte gegenüberſtehen. Die Subjekte können ſich aber ebenſogut auf ſich ſetzen; tun ſie das, ſo ſind ſie partikulären Zwecken, Leidenſchaften, Willkür, Sittenloſigkeit unterworfen. Dieſe beiden Kontraſte be⸗ ſtehen in der orientaliſchen Welt.“ Das orientalifhe Prinzip 151 Aufbewahrung des in ihr Berechtigten. Indem ebenſo die Identitat gewahrt bleibt, ſofern der freie Gehorſam Gehorſam, alſo Bindung im Ganzen iſt, iſt die urſprüngliche Identität zwar aufgehoben, aber nur, um, wie durch ein Läuterungsfeuer hindurchgegangen, er hoͤht und verklärt zu werden. Verhalten ſich die unmittelbare Iden⸗ tität, der Widerſpruch und die vermittelte Identität wie Theſe (Po⸗ ſition), Antitheſe (Negation) und Syntheſe (Negation der Negation), ſo iſt deutlich, daß es ſich hierbei nicht um einen äußerlichen Kom⸗ promiß, um eine Abſchwächung der Gegenſätze handelt, bei dem einander fremde Kontrahenten von der Strenge ihrer Forderung nachlaſſen, ſondern um die Selbſtreinigung und Selbſtvertiefung des ſich ſelbſt erkennenden und mit ſich ſelbſt identiſch bleibenden Geiſtes. Das iſt allenthalben die eigentümliche dialektiſche Bewegung, durch die ſich das geiſtige Sein des einzelnen Menſchen wie der Menſchheit erhöht. Die Dialektik des Freiheitsbegriffs: un⸗ freier Gehorſam, Willkür, freier Gehorſam, oder, da nur freier Ge⸗ horſam für Hegel Freiheit im Vollſinn des Wortes iſt, Knechtſchaft, Willkür, Freiheit iſt von klaſſiſcher Reinheit und Durchſichtigkeit. Die Geſchichte iſt inſofern dialektiſch, als fie die Momente dieſes Begriffs in der Zeit verwirklicht, alſo die aufſteigende Bewegung des Menſchentums von der Knechtſchaft durch die Willkür zur Freiheit ſichtbar werden läßt. Die Geſchichte begreifen, heißt ja, den dialek⸗ tiſchen Rhythmus aus ihr heraushören. Nur das könnte verwunder⸗ lich ſein, daß die Knechtſchaft ein integrierendes Moment des Frei⸗ heitsbegriffs iſt. Aber wie die natürliche Geiſtigkeit des orientaliſchen Prinzips doch immer Geiſtigkeit iſt, nur von der Natur niedergehal⸗ tene, ſo iſt auch die Knechtſchaft nur vom Deſpotismus überwucherte und niedergehaltene Freiheit. Wie könnte der Knecht Freier werden, läge in ihm nicht von vornherein die weſenhafte Beſtimmung zur Freiheit! Auch hier gilt, daß der Menſch ſich zu dem macht, was er „an ſich“ iſt. Hegel hat das „bewegungsloſe Eine Chinas“ als das „eigentlich 152 Erſte Stufe: Die orientaliſche Welt orientaliſche Prinzip“ bezeichnet, die „ſchweifende ungebundene in⸗ diſche Unruhe“ dagegen mit dem Griechentum, die theokratiſche Mon⸗ archie Perſiens mit dem Römertum „paralleliſiert“. 19 Mag dies eine kaum beachtete, hiſtoriſch unrichtige und auch für den weiteren Fortgang der Hegelſchen Geſchichtsphiloſophie ſelbſt belangloſe Spie⸗ lerei ſein, ſo iſt ſie für den philoſophiſchen Charakter Hegel keines⸗ wegs gleichgültig. Mit dieſer Paralleliſierung kommt Bewegung, Geſchichte in das, was eigentlich keine Geſchichte hat, was in ewig ſich gleichbleibender Ruhe in ſich ſelbſt verharrt. Hegel iſt ſich ja deſſen klar bewußt, daß es von China zu Indien, von Indien zu Perſien keinen geſchichtlichen Übergang gibt. Aber, da es für den Geiſt weſentlich iſt, raſtlos tätig zu fein, ſo geht auch, gewiſſer⸗ maßen wider die hiſtoriſche Einſicht Hegels, durch das maſſige Ge— füge der orientaliſchen, dieſer niederſten, mit dem Natürlichen noch in unmittelbarer Einheit verbundenen Geiſtigkeit das leiſe Zittern der dialektiſchen Bewegung wie ein Vorſpiel, ein Auftakt zum Thema der kommenden Weltgeſchichte: von der unmittelbaren, allen lebendigen Unterſchied wie in einen dunklen, toten Abgrund verſchlin⸗ genden Identität durch den Widerſpruch losgebundener Willkür 20 zu einer Allgemeinheit, die, indem ſie nur die Wurzel iſt, alles Be⸗ ſondere frei aus ſich herausſchlagen und ſich, wie es mag, ausbreiten und verzweigen läßt. Auch die „ſtatariſche“ orientaliſche Welt be— ſeelt ſo ein dynamiſches Prinzip. Jene „Paralleliſierung“, ſo unzu⸗ treffend ſie im übrigen ſein mag, iſt daher ungemein charakteriſtiſch für den Stil des Hegelſchen Denkens. Was dieſem Denken Gegen⸗ ſtand wird, gerät in Tätigkeit, in Metamorphoſe, wird flüſſig in der Glut der dialektiſchen Selbſtbewegung des Geiſtes. Ebenſo wichtig wie die totgehetzte Frage, ob Hegels Geſchichtsphilo⸗ ſophie nicht die hiſtoriſchen Tatſachen vergewaltige, iſt das Stil- problem ſeines philoſophiſchen Denkens. 1 L, II, 272 = B, 166. 20 Hegel ſpricht davon, daß die Herrſchaft der Willkür und des Zufalls in Indien „ungeheuer“ iſt. L, II, 271. Die Phaſe der Identitat 153 2. Die Phaſe der Identität a) China Der Geiſt, der die Konkretionen des chineſiſchen Staates — Staat iſt für Hegel immer Kulturſtaat — durchgängig beſeelt, iſt die natürliche Geiſtigkeit, die „unmittelbare Einheit des ſub⸗ ſtanziellen Geiſtes und des Individuellen“ 21, von der bereits die Rede war. Es fehlt dieſem Geiſt das Moment der Subjektivität ??, die eigene Innerlichkeit 28, die perſönliche geſinnungsvolle Würde ?“, die Berechtigung, beſondere Intereſſen innerhalb des Ganzen geltend zu machen.? Er iſt ein Geiſt der Unſelbſtändigkeit?«, der Unmün⸗ digkeit 27, der Unfreiheit.?s Ja, Hegel nimmt keinen Anſtand, den Geiſt der chineſiſchen Verfaſſung, Kunſt und Religion als „Geiſt⸗ loſigkeit“ zu bezeichnen. 29 Die Grundlage des chineſiſchen Staatslebens iſt der patriarchaliſche Familiengeiſt.?0 „Das Grundelement iſt das patriarchaliſche Verhältnis. Keine Pflicht iſt dort ſo heilig wie die der Kinder gegen ihre Eltern. Die Chineſen wiſſen ſich als zu ihrer Familie gehörig und zugleich als Söhne des Staates. In der Fa⸗ milie ſelbſt ſind ſie keine Perſonen, denn die ſubſtanzielle Einheit, in welcher ſie ſich darin befinden, iſt die Einheit des Blutes und der Natürlichkeit. Im Staate ſind ſie es ebenſowenig; denn die Regierung beruht auf der Ausübung der väterlichen Vorſorge des Kaiſers, der alles in Ordnung hält.“ 1 Seine Regierung iſt eine „durchgebildete Staatsregierung“, doch jo, daß der Kaiſer fie als Patriarch über die grofie Familie des Volkes in der Weiſe und mit dem Rechte eines Familienvaters ausübt. 3? Das Bild, das Hegel vom chineſiſchen Kaiſertum entwirft, iſt in der neuen Ausgabe * I, II, 288 - B, 173. * U. a. O. * L, II, 300. 311; L, II, 313 = B, 190. L., II, 288 = B, 1743 L, II, „o. 0 ., II, 294 B, 19. , II, zi. W L, II, 299. [., II, 306 = B, 183. , II, 3i9f. L, II, 288 = B, ı73f. , 289 B, 14. , II, 289 B, 177; L, Il, 290, 154 Erſte Stufe: Die orientaliſche Welt durch einige Züge von eindringlicher Kraft erweitert worden: „China hat in der langen Reihe feiner Regenten während 50 Jahrhunderten eine große Anzahl vortrefflicher Fürſten gehabt. Es klingt roman⸗ haft, was man von den chineſiſchen Kaiſern erzählt; aber ſolch ein Kaiſer muß auch wirklich ein weiſer und guter Mann, ja er muß ein wahres Ideal ſein. So finden wir es auch in ihrer Geſchichte; ihre Regenten zeigen wahre orientaliſche Größe, die hier in der Form moraliſcher Würde auftritt. Man könnte hier beſonders bei den Fürſten der Mandſchudynaſtie, die ſich durch Geiſt und körper⸗ liche Geſchicklichkeit ausgezeichnet hat, Beiſpiele ſalomoniſcher Weis⸗ heit und der mannigfachen Idealbilder finden, wie ſie zu anderen Zeiten von dem rechtſchaffenen Fürſten entworfen worden find... Es findet ſich bei den chineſiſchen Kaiſern einfache Lebensweiſe mit der höchſten Bildung vereint, raſtloſe Tätigkeit und vollkommener Sinn der Gerechtigkeit und des Wohlwollens. Es ſind moraliſch plaſtiſche Geſtalten, wie wir uns die Ideale der Alten vorſtellen, Figuren, denen in allen Zügen Einheit, Harmonie, Würde, Bes ſonnenheit und Schönheit aufgedrückt iſt.“ s Verſagt aber die mora⸗ liſche Befähigung des Kaiſers und mit ihr auch ſeine Beamten⸗ hierarchie, der Hegel ein „für ſich gebildetes Gewiſſen“ abſpricht und die von der Individualität des Monarchen abhängt, ſo lockert ſich das ſubſtantielle Gefüge des Staates, indem die Willkür und Gewalttätigkeit der Partikularitäten ſich geltend machen. Wie denn auch die Geſchichte Chinas uns abgeſehen von Kämpfen gegen äußere Feinde meiſtenteils innere „Rebellionen“ vorführt, „in denen ſich das Losreißen einzelner Teile erzeugt“. 34 In der Reichsverwal⸗ tung des patriarchaliſchen Deſpotismus gibt es keine ſelbſtändigen Rechte der Individuen, die vielmehr zu derſelben Gleichheit der Un⸗ mündigkeit degradiert ſind. „China iſt das Reich der abſoluten Gleichheit.“ Dieſe Gleichheit iſt aber „nicht die durchgekämpfte Be⸗ deutung des inneren Menſchen, ſondern das niedrige, noch nicht zu 55 L, II, 290f. d L, II, 285. 294; L, II, 292f. 298 = B, ı81f, Die Phafe der Identitat 155 Unterſchieden gelangte Selbſtgefühl“. “ Das Grundgebrechen des chineſiſchen Geiſtes liegt darin, daß „das Moraliſche nicht vom Rechtlichen geſchieden iſt“, daß Moral und Recht ſich nicht als be⸗ ſondere Sphären innerhalb des Staatsganzen hervorgebracht haben, was bei innerlich gerichteter Geiſtigkeit eines Volkes unausbleiblich wäre. „Die Moral iſt Staatsſache und wird durch Regierungsbeamte und die Gerichte gehandhabt.“ 3% L Der „Volksgeiſt“ ſpiegelt ſich in der Sittlichkeit des Familien⸗ lebens. Sie iſt nicht auf den moraliſchen, innerlich gewollten und empfundenen „Zuſammenhalt freier Liebe“ gegründet. Das Ver⸗ halten der Familienglieder untereinander iſt äußerlich, geſetzlich und zwangsmäßig geregelt.“? Es iſt bezeichnend für den Geiſt chine⸗ ſiſcher Unfreiheit, daß die Außerlichkeit des Familienverhältniſſes häufig in Sklaverei übergeht und daß die Vergehungen gegen Fa⸗ milie und Staat mit körperlichen Züchtigungen geahndet werden. Es fehlt dieſem Volk das „Gefühl der Ehre“. Und ſein Bewußtſein iſt das der „moraliſchen Verworfenheit“. 38 Derſelbe Mangel an Innerlichkeit und Freiheit iſt auch das Kenn⸗ zeichen der chineſiſchen Wiſſenſchaft. Hegel äußert ſich an dieſer Stelle über das Verhältnis der Wiſſenſchaft zum Staat. „Freie liberale Wiſſenſchaft“ iſt das direkte Intereſſe der Intelligenz, ſich in einer inneren Welt von Gedanken zu befriedigen. Es wider⸗ ſpricht ihrem Weſen, ein nützliches Mittel für ſelbſtſüchtige Zwecke des Staates zu ſein. Wiſſenſchaft iſt Selbſtzweck. Und der Staat hat ſie frei gewähren zu laſſen. Aber, wie das Individuum, ſo ver⸗ ſinkt in China auch die Wiſſenſchaft in die alles abſorbierende Staatsverwaltung, die allein beſtimmt, was gelten ſoll. Das wiſſen⸗ ſchaftliche Intereſſe beſchraͤnkt ſich alſo auf die rein empiriſche Sammlung von aſtronomiſchen, phyſikaliſchen, arithmetiſchen, medi⸗ ” L, II, 298 f. 331. 367 = B, 178 f. 186. 195.201. “ L, I, 188. - B, 115f.; L, I, „off. I., II, „af. , II, 306 ff. 331 = B, 183 f. 186. 156 Erſte Stufe: Die orientaliſche Welt ziniſchen Kenntniſſen, ſofern fie dem Staate von Nutzen ſind. “? „Auf Moral bezieht ſich hauptſächlich die geſamte Bildung.“ 40 Die berühmteſte Geſtalt in der chineſiſchen Wiſſenſchaft und Moral iſt Konfuzius. „Er iſt ein Moraliſt, nicht eigentlich ein Moralphilo⸗ ſoph. Einige Jahre war er ein rechtſchaffener Miniſter und reiſte dann mit ſeinen Schülern umher.“ Seine Werke über Moral ſind „von der Art wie die Sprüche Salomos, ganz gut, aber nicht wiſſenſchaftlich“. „Man kann ihn nicht mit Sokrates oder ähn⸗ lichen Denkern vergleichen; er war auch nicht Geſetzgeber wie Solon.“ 41 An der chineſiſchen Kunſt und Literatur anerkennt Hegel „un⸗ gemeine Geſchicklichkeit in der Nachahmung“, „große Sorgfalt und Gewandtheit“ und bis ins kleinſte gehende „Genauigkeit“. 42 Er kann ſich ſo weit erwärmen, daß er ſagt: „Wir haben chineſiſche Gedichte, worin die zarteſten Verhältniſſe der Liebe geſchildert wer— den, worin ſich Zeichnungen von tiefer Empfindung, Demut, Scham, Beſcheidenheit befinden, und die man mit dem, was vom Beſten in der europäiſchen Literatur vorkommt, vergleichen kann.“! Aber, da er die chineſiſche Kunſt unmittelbar an ſeinem klaſſiziſtiſchen Kunſtideal mißt 4, ſo kann von einer Verkörperung der „Idee“ nicht die Rede ſein. „Ein Ideal geht nicht in einen chineſiſchen Kopf. Aſthetik liegt ihnen fern.“ 5 Dieſelbe naturaliſtiſche „Geiſtloſigkeit“ kennzeichnet die chineſiſche Religion. Sie iſt „Staatsreligion“, an deren Spitze der Kaiſer ſteht. Und dieſe Staatsreligion iſt, da ſie den Himmel als 39 L, II, 311; L, I, 113: „Weſentlich aber find die Wiſſenſchaften nicht nach dieſer untergeordneten Seite der Nützlichkeit zu betrachten; ſie ſind wie die Religion Zweck an und für fich, für ſich ſelbſt ein letzter Zweck.“ % L, I, 158 f. = , 115f.; L, II, 315. 1 L, II, 315 f. B, 193. * L, II, 319. L, II, 30 B 219. 4 L, II, 327: „Der Gegenſtand der Kunſt iſt das Geiſtige, Göttliche; dies hat fie in ihrem ſinnlichen Material darzuſtellen“; L, I, 123 = B, 87: „In der Kunſt iſt ... die griechiſche, fo wie fie iſt, ſelbſt das höchſte Muſter.“ 46 L, II, 319. Die Phaſe der Fdentität 157 oberſte, allgemeine, bloße Naturmacht verehrt, „Naturreligion“. Wo ſelbſtändige Innerlichkeit und freie Geiſtigkeit fehlen, muß der Aberglaube die Religion überwuchern. Er ſpielt daher im chineſiſchen Volksleben eine große Rolle. ““ Es iſt ein ſchönes Beiſpiel für Hegels eindringendes Bemühen, ſich in die Mentalität fremder Kulturen hineinzuverſetzen, wenn er an einer Stelle der neuen Ausgabe in Übereinftimmung mit ſeinem Gedanken, daß die chineſiſche „Geiſt⸗ loſigkeit“ doch immer nur die relativ niederſte Sphäre geiſtig⸗ geſchichtlichen Daſeins bedeuten kann, den Punkt aufdeckt, wo an der Naturreligion das geiſtige Element zum Vorſchein tritt. „Es iſt zuzugeben, daß wie ſehr auch in den Vorſtellungen einer Re⸗ ligion das Sinnliche und der Gedanke durcheinandergehen mag, ſo haben doch die Völker gewiß zugleich das Sinnliche und den Ge⸗ danken. Der Menſch kann bei dem Sinnlichen allein nicht ſtehen bleiben; er muß dabei ein Inneres vor ſich haben. Und ſobald ſich dann der Gedanke in den Gegenſtand vertieft, ſo iſt ein Gedachtes, Allgemeines vorhanden. Im ganzen bezieht ſich die chineſiſche Re⸗ ligion nur auf eine natürliche Subſtanz. Aber als auf Subſtanz iſt ſie doch auf Geiſtiges bezogen. Dieſes Geiſtige kann nun in ver⸗ ſchiedenen Beziehungen genommen werden. Darunter finden ſich auch wirklich geiſtige Auffaſſungen. So hat der Kaiſer Khang⸗hi auf das Frontiſpiz einer von den Jeſuiten im Jahre 1711 erbauten Kirche folgende drei Inſchriften ſetzen laſſen, erſtens: ‚Dem wahren Prinzip aller Dinge‘, zweitens: ‚Es hat keinen Anfang gehabt und wird kein Ende haben; es hat alle Dinge geſchaffen und erhält alle Dinge‘, und drittens: Es iſt unendlich; es iſt unendlich gut und iſt unendlich gerecht und regiert alles mit der höchſten Macht.“ #7 — Bei alledem räumt Hegel ein, daß China innerhalb der Grenzen feines Prinzips eine „hohe Kultur“ ausgebildet hat. “s Am vorbehalt⸗ loſeſten erkennt er dieſe Kultur dort an, wo er das chineſiſche „l, 320ff, B off. * I., II, 324. „ I., II, 276, 278, 158 Erſte Stufe: Die orientaliſche Welt | Kunſtgewerbe rühmt: „Ausgezeichnet find fie darin, erſtaun⸗ liche Künſtlichkeiten hervorzubringen, z. B. Sammlungen von äußerſt künſtlich, hohl in dünnem Kupferblech nachgebildeten Inſekten. Von ihrer ſehr großen Geſchicklichkeit im Erzguß zeugt ein fünfzehn Fuß hoher Turm, der mit vielen Zieraten durch neun Etagen aus einem Guſſe hergeſtellt iſt. Die Vorzüglichkeit ihrer Porzellanarbeiten iſt allbekannt. Ihre Feuerwerke ſollen nach den Berichten der Engländer künſtlich und brillant ſein. Der Tanz macht ein Hauptſtudium und iſt ſehr ausgebildet. Berühmt iſt ihre Gartenkunſt; ſie ſollen im Beſitze der ſchönſten Gärten ſein, beſonders jenſeits der Mauer. Seen, Flüſſe, Luſtſchlöſſer, Bäder uff. ſind geſchmackvoll verbun⸗ den; man hat der Natur mit Kunſt nachgeholfen.“ ““ b) Indien Indien iſt wie China ein „Statariſches, Beſtehendes geblieben, das noch jetzt in ſeiner vollſtändigen Ausbildung nach innen beſteht, obgleich nach außen Indien nicht mehr ſelbſtändig iſt“. 50 Statariſch iſt es aber nicht mehr in dem ſtrikten Sinne wie China. Das „welthiſtoriſche Problem“, das Indien ſtellt, gliedert ſich in zwei Fragen. „Erſtens, welche Stellung hat die indiſche Geſtalt überhaupt im Fortgange der Idee? Zweitens: Steht die indiſche Welt mit der übrigen in einem Zuſammenhange, und in welchem?“ 51 Der letztere iſt unzweifelhaft, aber er iſt ein nur paſſiver, ein „ſtum⸗ mes, tatloſes Verbreiten“. Indien tritt nicht aktiv, erobernd auf, ſondern iſt nur immer von andern erobert und geſucht worden als Wunderland der Perlen, Diamanten, Wohlgerüche, Roſenöle, Ele⸗ fanten und Schätze der Weisheit. Der Zuſammenhang, in dem es dann weiter durch ſeine alte Sprache, das Sanskrit, mit andern, beſonders auch europäiſchen Sprachen ſteht, iſt nicht eigentlich als “ L, II, 318f. % L, II, 343 B, 195; L, II, 366: „Das indiſche Volk, das wir zu den Anfängen der Weltgeſchichte zählen, iſt wie das chineſiſche ein ſtatariſches Volk. Das, was es jetzt iſt, war es ſchon immer.“ * L, II, 343. Die Phafe der Identität 159 hiſtoriſcher Fortgang, d. h. als Keimzelle neuer entwiclungsfähiger Gedanken, „die für die welthiſtoriſchen Volker lehrreich geweſen waren“, ſondern als „Naturverbreitung des Menſchengeſchlechts“ anzuſehen. „Das Sichverbreiten des Indiſchen iſt eine dumpfe, vor⸗ geſchichtliche Ausbreitung. Es iſt geſchehen; aber zum Geſchichtlichen rechnen wir nur, was mit Bewußtſein geſchehen iſt, was in der Ges ſchichte eine Stufe, Epoche der Ausbildung ſelbſt iſt.“ Die alte Ausgabe formuliert dieſen Gedanken prägnanter: „Geſchichte iſt nur das, was in der Entwicklung des Geiſtes eine weſentliche Epoche ausmacht.“ O2 Größere Bedeutung als dem hiſtoriſchen Fort⸗ gang Indiens mifit Hegel dem Fortgang der Idee zu. Dieſer Fort⸗ gang beſteht darin, daß gegenüber der alles nivellierenden und be herrſchenden, ſubſtantiellen Einheit Chinas der „Unterſchied über: haupt, der beſtimmte, feſte Unterſchied“ hervortritt und damit der Übergang zur Partikularität, zur Selbſtändigkeit, zur Freiheit. 53 „Alſo die durch den Begriff notwendige geiſtige Beſtimmung iſt hier der Unterſchied, die Selbſtändigwerdung der Unterſchiede, und dies iſt das Charakteriſtiſche der indiſchen Geſtalt.“ 1 Infolgedeſſen kann nun auch eine „Welt der Innerlichkeit“ entſtehen, gegenüber dem proſaiſchen Nützlichkeitsſtandpunkt Chinas ſich ein eigentümlich poeſievoller „Idealismus“ ausbilden, freilich noch ein begriffloſer, vernunftloſer, phantaſtiſcher Idealismus der „bloßen Einbildung“, die „alles Gegenwärtige und Beſtehende zu bunten Träumen ver⸗ flüchtigt“.“9 „Wie der indiſche Geiſt ein Träumen und Verſchwe⸗ ben, ein ſelbſtloſes Aufgelöſtſein ift, fo verſchweben ihm auch die Gegenftände zu wirklichkeitsloſen Bildern und zu einem Maßloſen. Dieſer Zug iſt abſolut charakteriſtiſch, und durch ihn allein ließe ſich der indiſche Geiſt in ſeiner Beſtimmtheit auffaſſen und aus ihm alles Eigentümliche der indiſchen Geſtalt entwickeln.“ 5% Dahingegen jene „Unterſchiede“ ſogleich in die Natur zurückfallen, die leiſen L, II, 344ff.=B, 199f. I., II, 342. 367 f. - B, 201 f. , II, 368 , II, 349. 381 f. 354f.= B, 198 f. 228 f. L, II, 357f. = B, 224. 10 Erſte Stufe: Die orientaliſche Welt Anfänge der Selbſtändigkeit und Freiheit zu einer „Verſteinerung der Volksklaſſen gegeneinander“ führen, die unter dem Namen der Kaſten bekannt iſt und das Indertum zur „verworfenſten Knecht⸗ ſchaft jeder Art von Geiſt“ verdammt. 57 Da die Kaſtenunterſchiede nicht aus der „freien Subjektivität der Individuen“ hervorgegangen, ſondern an die „Naturbeſtimmung der Geburt“ gebunden ſind, ver⸗ harrt Indien wie China auf der „gleichen urſprünglichen Stuſe der Subſtanzialität“. 58 Es bleibt im Banne des orientaliſchen Prinzips der natürlichen Geiſtigkeit. Was den ſittlichen Zuſtand angeht, ſo kann von innerer Sitt⸗ lichkeit, Moralität und Freiheit des Geiſtes nicht die Rede fein. 5? Alle Augenzeugen „ſtimmen darin überein, daß es nichts von ſitt⸗ lichen Gefühlen Entblößteres geben kann als die indiſche Nation“. 60 Was bei der Zerſetzung des Staatsgedankens durch das Kaſtenweſen in Indien noch politiſches Leben genannt werden kann iſt ein „Deſpotismus ohne irgendeinen Grundſatz, ohne Regel der Sittlich⸗ keit und der Religioſität“. In Indien iſt der „willkürlichſte, ſchlech⸗ tefte, entehrendſte Deſpotismus zu Haufe‘. 51 Die indiſche Reli: gion iſt wie die chineſiſche eine „Naturreligion“, inſofern ſie un⸗ mittelbare Naturgegenſtände anbeten läßt. Als ſolcher eint ſich ihr ein Kultus, der die „roheſte Sinnlichkeit und zügelloſeſte Ausſchweifung“ enthält.“? Andrerſeits erreicht in der indiſchen Religion der Geiſt eine „höhere Stufe“ als in der Chinas 3, da er ſich zu dem andern Extrem der „höchſten Abſtraktion“ des Brahma zu erheben ver- mag. 6* Indem Kultus und Religion Indiens den „Gegenſatz der roheſten Sinnlichkeit und der höchſten Abſtraktion“ enthalten ©, ſpie⸗ gelt ſich in ihnen der Volksgeiſt am klarſten. Der indiſche Geiſt iſt der träumende Geiſt, der eine vom Fürſichſein des Subjekts unter⸗ ſchiedene und gegen dieſes ſelbſtändige Außenwelt nicht zu kon— 1, II, 343. 368 = B, 202. L, II, 371, 374. 0 „ie 219f. ° L, II, 391. „ L, II, 369 B, 222 f. I, II, 400 f. 5 L, II, 395. % L, II, 402 ff. B, 215ff. L, II, 407, | 7 Ar a Die Phaſe der Identität 161 gipieren vermag. „Indem nun aber doch in dieſe Träume der ab⸗ ſtrakte und abſolute Gedanke ſelbſt als Inhalt eintritt, ſo kann man fagen: es iſt Gott im Taumel feines Träumens, was wir hier vor⸗ geſtellt ſehen. Denn es iſt nicht das Träumen eines empiriſchen Subjektes, das feine beſtimmte Perfönlichkeit hat und eigentlich nur dieſe aufſchließt, ſondern es ift das Träumen des unbeſchränkten Geiſtes ſelbſt. Der träumende Inder iſt daher alles, was wir End⸗ liches und Einzelnes nennen, und zugleich, als ein unendlich Allge⸗ meines und Unbeſchränktes, an ihm ſelbſt ein Göttliches. Man kann ſagen, daß in den Träumen ſich auch die tiefſte Tiefe der Seele aus⸗ ſpricht, wenn ſie anderſeits auch aberwitzig ſind. So findet ſich wohl bei den Indern auch dies Bewußtſein der höchſten Idee, aber ver⸗ miſcht mit den willkürlichſten Wolkengeſtalten.“ 66 Den indiſchen Volksgeiſt charakteriſiert die abſolute Unausgeglichenheit eines phan⸗ taſtiſchen Idealismus leerſter Abſtraktionen, der gleichwohl die Ah⸗ nung der tiefſten Gedanken in ſich birgt, und eines von der Natur noch geknechteten Geiſtes, der bis zur verworfenſten Sinnlichkeit entartet. Das Hin⸗ und Hertaumeln zwiſchen dieſen beiden Extremen iſt das Weſen des allen Maßes, aller Zucht und Selbſtbegrenzung baren Indertums. 67 Was bei dem Fortſchritt Indiens über China hinaus wohl be⸗ achtet ſein will, iſt Hegels neue Unterſcheidung zwiſchen dem „hiſto⸗ riſchen Fortgang“, den er in Abrede ſtellt, indem er die welthiſto⸗ riſchen Beziehungen Indiens auf eine lautlos⸗ſtumme, vorgeſchicht⸗ liche „Naturverbreitung“ beſchränkt 68, und dem „Fortgang der Idee“, den er anerkennt, indem das indiſche Prinzip das „zweite des Begriffs“, nämlich der „Unterſchied überhaupt“ iſt. o Die Kultur Indiens iſt unter rein geſchichtlichem Aſpekt genau ſo iſoliert und in ſich beſchloſſen wie die Kultur Chinas. Hegel hat alſo ſicher⸗ lich nicht durch begriffliche Konſtruktionen die Geſchichte in dem , II, 352 f. - B, 196f. "L, II, 352; L, II, 399 f. 411 B, 218. 230. , II, 346. L, II, 34. Leefe, Geſchichtepdtloſopdle Cegele 11 \ 162 Erſte Stufe: Die orientaliſche Welt Sinne vergewaltigt, daß er um jeden Preis dort geſchichtliche Zus ſammenhänge hat ſtiften wollen, wo keine waren. Als Geſchichts⸗ philoſoph konnte er freilich eines teleologiſchen Zuſammen⸗ hanges nicht entraten, wo geſchichtlich betrachtet unausfüllbare Lücken klafften. Dieſer Zuſammenhang iſt aber nur ein ſolcher in der Idee.“ Beruht das geſchichtsphiloſophiſche Denken Hegels auf der begriff— lichen Durchleuchtung der hiſtoriſchen Tatſachenzuſammenhänge, jo muß es dort ſeine ſtärkſte Kraft entfalten, wo der Fortgang der Idee und der hiſtoriſche Fortgang zur Deckung kommen. Die Durch⸗ ſchlagskraft ſeiner Geſchichtsphiloſophie beruht nur darauf, daß und ſoweit feine ideell-begrifflichen Intuitionen an der hiſtoriſchen Em⸗ pirie verifizierbar ſind. Daß dies nicht immer der Fall iſt, hat Hegel ſelber deutlich geſpürt. Er hat dies ſo ſtark empfunden, daß er, wie im Falle Indiens, zu einer Betrachtungsweiſe übergeht, die wiederum Gedankengänge Oswald Spenglers vorwegnimmt. Spengler beſtreitet die Richtigkeit einer „linienförmigen Weltge— ſchichte“, die der Hiſtoriker „in der Geſtalt eines Bandwurms ſieht, der unermüdlich Epochen anſetzt“. Statt deſſen ſpricht er von einer „Vielzahl mächtiger Kulturen, die mit urweltlicher Kraft aus dem Schoße einer mütterlichen Landſchaft, an die jede von ihnen im ganzen Verlauf ihres Daſeins ſtreng gebunden iſt, aufblühen, von denen jede ihrem Stoff, dem Menſchentum, ihre eigene Form auf— prägt, von denen jede ihre eigne Idee, ihre eignen Leidenſchaften, ihr eignes Leben, Wollen, Fühlen, ihren eignen Tod hat. Hier gibt es Farben, Lichter, Bewegungen, die noch kein geiſtiges Auge ent— deckt hat. Es gibt aufblühende und alternde Kulturen, Völker, Sprachen, Wahrheiten, Götter, Landſchaften, wie es junge und alte Eichen und Pinien, Blüten, Zweige, Blätter gibt, aber es gibt keine alternde „Menſchheit“ Jede Kultur hat ihre eignen Möglichkeiten des Ausdrucks, die erſcheinen, reifen, verwelken und nie wiederkehren. Es gibt viele, im tiefſten Weſen völlig voneinander verſchiedene Plaſtiken, Malereien, Mathematiken, Phyſiken, jede von begrenzter — Die Phaſe der Identitüt 163 Lebensdauer, jede in fich ſelbſt geſchloſſen, wie jede Pflanzenart ihre eignen Blüten und Früchte, ihren eignen Typus von Wachstum und Niedergang hat. Dieſe Kulturen, Lebeweſen hoͤchſten Ranges, wachſen in einer erhabenen Zweckloſigkeit auf, wie die Blumen auf dem Felde. Sie gehören, wie Pflanzen und Tiere, der lebendigen Natur Goethes, nicht der toten Natur Newtons an.“ 70 Dieſe ganze Betrachtungsweiſe drängt ſich bei Hegel in den einen vielſagenden Satz der neuen Ausgabe zuſammen: „Im welthiſtoriſchen Zu⸗ ſammenhang iſt dies (das indiſche) das andere Prinzip; aber es ſteht weder rückwärts mit dem erſten (dem chineſiſchen), noch vor⸗ wärts mit den nächſten Prinzipien für ſich in Verbindung. Es iſt nur ein ſolcher Zuſammenhang vorhanden, wie ihn auch Blumen und Tiere miteinander haben, daß nämlich jedes ſelbſtändig aus der Erde her⸗ vortritt und ihr Zuſammenhang nicht für ſie, ſondern nur für den reflektierenden Geiſt iſt.“ 71 Darin äußert ſich mit elementarer Wucht die Schwierigkeit, die orientaliſche Welt in den welthiſtoriſchen Zuſammenhang einzubeziehen, der Hegel vorſchwebte. Wie dieſer Ge⸗ danke aber bei Hegel nur in mehr zufälliger Art auftritt, ſo hat er für das Ganze ſeiner dem (dialektiſch gefaßten) Einheitsgedanken huldigenden Geſchichtsphiloſophie keine Konſequenzen entfaltet. Wäre Hegel ihm weiter nachgegangen, er hätte dem Einheitsgedanken ver⸗ hängnisvoll werden können. Die letzten Worte des angeführten Satzes zeigen die ganze Weite des Abſtandes von der Spenglerſchen Intuition. Der reflektierende Geiſt ſtiftet den ideellen Zuſammen⸗ hang, der an den hiſtoriſchen Phänomenen ſelbſt nicht nachweisbar iſt. Der allein mögliche Zuſammenhang iſt der bloße Fortgang in der Idee. An dieſem Punkte tritt die Hauptſchwäche der Hegelſchen Geſchichts⸗ philoſophie klar zutage. Der Untergang des Abendlandes a. a. O. S. 20. ., II, 343f. Spertung vom Verf. 164 Erſte Stufe: Die orientaliſche Welt 3. Die Phaſe des Widerſpruchs Der dritte Abſchnitt über Perſien befaßt in der alten Aus⸗ gabe neben dem perſiſchen Kernvolke ſelbſt Aſſyrien, Babylonien, Medien, Syrien, Judäa und Agypten unter ſich, ſo daß die orien⸗ taliſche Welt trichotomiſch gegliedert erſcheint. Zu dieſer Gliederung hat Hegel wohl auch geneigt, was aus der Paralleliſierung Indiens mit dem Griechentum, Perſiens mit dem Römertum erhellt. 7? Auch ſagt er an zwei Stellen, daß das perſiſche Weltreich die heterogenſten Völkerelemente umſpannt, und zählt die obengenannten auf. 7s Dieſe monſtröſe Zuſammenſtellung hat die neue Ausgabe inſofern etwas gelockert, als ſie für die Völker Weſtaſiens und für Agypten je einen beſonderen, vierten und fünften Abſchnitt bildet. Allein, damit iſt noch nichts über den inneren Zuſammenhang geſagt, in dem dieſe Kulturen ſtehen, über den geſchichtsphiloſophiſchen Ort, der ihnen nach China und Indien angewieſen werden muß. Die Geſchichts⸗ philoſophie Hegels iſt an dieſem Knotenpunkt einem Palimpſeſt ver⸗ gleichbar, bei dem eine jüngere Schrift der alten urſprünglichen aufs gelagert iſt. Iſt die trichotomiſche Gliederung richtig, ſo wäre es un⸗ möglich, nunmehr mit Perſien die Phaſe des Widerſpruchs beginnen zu laſſen. Hegel hat aber Perſien nicht als höhere Syntheſe zwiſchen China und Indien verftanden wiſſen wollen. Der Paralleliſierungs- gedanke und die trichotomiſche Gliederung find irreführend, ein aras beskenhaftes Spiel, eine Laune des Geſchichtsphiloſophen, die zwar den weſenhaften Grundzug des dialektiſchen Ernſtes ahnen läßt, ihn aber nicht wirklich erreicht. Mit Perſien ſetzt vielmehr die Phaſe des Widerſpruchs ein, in den die „natürliche Geiſtigkeit“ Chinas und Indiens, die ſubſtantielle unmittelbare Einheit von Geiſt und Natur auseinanderbricht, um ſich — in geradezu dramatiſcher Steigerung — in der Religion Iſraels und in der Kultur Agyptens mit gewal⸗ tiger Dynamik zu entladen. 7 Vgl. oben S. 152. L, II, 273, 514 = B, 167, 295, Die Phaſe des Widerſpruchs 165 a) Perſien Der Fortſchritt Perſiens über Indien hinaus tritt am deutlichſten in ſeiner Religion zutage, die für Hegel am unmittelbarſten den Geiſt eines Volkes widerſpiegelt. „In Perſien beginnt die Ablöfung des Menſchen von der Natur.“ “ Die altperſiſche Religion bleibt nicht mehr in dem Sinne Naturreligion wie die Chinas und Indiens, die das Göttliche mit dem Natürlichen vermengte, indem ſie es als Lama, als Brahmine, als Berg, als Tier, als dieſe oder jene be⸗ ſondere Exiſtenz verehrte. Die perſiſche Religion iſt kein „Götzen⸗ dienſt“, fie verehrt nicht „einzelne Naturdinge“. 7 Das Ewige und Unendliche ihrer Anbetung iſt die „ſchrankenloſe Identität“ des Lichtes, „dieſes allgemeinen, einfachen phyſikaliſchen Weſens “. 7° Inſofern iſt dieſe Religion „noch Naturbienſt“.7? Aber, indem das Lichtprinzip „rein wie der Gedanke“ iſt — „der Gedanke iſt hier noch nicht die freie Grundlage, aber doch iſt er die Bedeutung“ —, ſehen wir den perſiſchen Naturdienſt im Begriff, zur Geiſtreligion überzugehen. 73 „Das Licht hat zugleich die Bedeutung des Geiſtigen, des Guten, der Reinheit; es iſt allgemeine Subſtanz, die Geſtalt des Guten und Wahren, die Subſtantialität des Wiſſens und Wol⸗ lens ſowohl wie auch aller natürlichen Dinge. Alles andere iſt Offenbarung des Lichtes; alles Leben iſt Geburt des Lichtes.“ ““ Es vollzieht ſich der „Bruch“ des Geiſtes mit der Natur, an die er bisher in „ſubſtantieller Einheit“ gebunden war, oder, wie Hegel ſagt, der Geiſt wird „für ſich“. so Noch nicht in voller Reinheit vollzieht ſich der Bruch, aber er iſt nicht mehr aufzuhalten. „Auch hier iſt die Einheit des Geiſtigen und Natürlichen; die endliche Welt⸗ lichkeit iſt in das Eine, das Natürliche iſt in das Licht zuſammen⸗ gefaßt. Dieſe Einheit aber ſchwebt über der natürlichen Mannig⸗ faltigkeit, und ſo tritt die Abſtraktion der Gottheit ein, neben der alles übrige nur Wert hat, inſofern es ein Strahl der Gottheit “L, 1,45. „ L. II, 424. 443=B, 242. 27. , II, 44 = B, 20. , H, n. . 8. O. , II, 47. 44 B, 2. L, II, 3 = B, 241. 166 Erſte Stufe: Die orientalifhe Welt ift.781 „In dem perſiſchen Prinzipe hebt ſich zuerft die Einheit zum Unterſchiede von dem bloß Natürlichen hervor.“ 82 Damit gewinnt auch das Individuum einen größeren geiſtigen / Eigenwert. Das perſiſche Lichtprinzip iſt eine „Einheit, welche die Individuen nur beherrſcht, um ſie zu erregen, daß ſie kräftig für ſich werden, ihre Partikularität entwickeln und geltend machen“. 83 Der Menſch wird freier, iſt nicht mehr an die beſchränkte Natur gebunden, ſondern kann dem Höchſten als einem Objektiven gegen⸗ übertreten. „Das Licht im phyſiſchen und geiſtigen Sinne gilt alſo als die Erhebung, die Freiheit von dem Natürlichen; der Menſch verhält ſich zu dem Licht, dem Guten, als zu einem Objektiven, das aus feinem Willen anerkannt, verehrt und betätigt wird.” In China und Indien iſt der Geiſt gefeſſelt an die Blutsgrundlage des Fa⸗ milienpatriarchalismus oder an die Geburtsunterſchiede des Kaſten— weſens. Darüber erhebt ſich in Perſien die Reinheit des Lichtes und Guten, dem „Sich alle auf gleiche Weiſe zu nähern, in dem ſich alle gleich zu heiligen vermögen“. Das Individuum gewinnt dadurch einen „Wert für ſich ſelbſt“. 84 Hegel ſagt: „Der Geiſt aber, der noch im Natürlichen iſt, hat die Aufgabe, ſich von demſelben zu befreien.“ 8s Wir ſehen Perſien dieſe Aufgabe erſtmalig in Angriff nehmen, indem es ſowohl auf ſeiten der Gottheit wie des Individuums ein der Natur gegenüber ſelb— ſtändiges geiſtiges Prinzip ausbildet. 8° Das tritt dann auch in feinem politiſſchen Leben in die Erſcheinung. Perſien iſt im Be— ginn, ein organiſches Staatsweſen zu entwickeln, das den Partiku⸗ laritäten freien Spielraum verſtattet. „So wird uns hier zum erſten Male ein wirkliches Reich ſichtbar, ein Ganzes der Herrſchaft, das völlig heterogene (freilich in relativem Sinne) Elemente in ſich faßt. Wir haben hier einen Volksſtamm, der das Viele zuſammenſchließt und es in ſeiner Individualität erhält, es nur dann durch die Herr⸗ 1 L, II, 415. I., 11, 416 B, 23. f «, ˙ ( 416 = B, 237 f. ®L, II, 416 = B, 237. ®L, II, 512 = B, 294. e 7 2 . Die Phaſe des Widerſpruchs 167 ſchaft bedingt. Das Reich iſt weder eine patriarchaliſche Herrſchaft wie in China, noch iſt es fo ſtarr wie Indien ; es iſt auch kein Reich der Unterdrückung wie bei den Türken. Sondern man ſieht bier eine Reihe von Völkerfchaften, die in ihrer Selbſtändigleit ges blieben und doch von einem Einheitspunkte abhängig find, der fie zufrieden erhalten konnte. Dies Reich hat denn auch eine ſehr lange und glänzende Dauer gehabt, und die Weiſe ſeines Zuſammenhanges iſt als etwas anzuerkennen, das der Idee des Staates näher kommt.“ 7 Was dieſes Volk auszeichnet, iſt die „Toleranz“. ““ „Ihre Herrſchaft war auf keine Weiſe unterdrückend, weder in Anſehung des Weltlichen noch des Religiöſen.“ ““ z Von geofier Wichtigkeit iſt nunmehr wieder das Problem des geſchichtlichen Zuſammenhangs, in das wir abſchlie⸗ ßend auch die Stellung Chinas und Indiens hineinbeziehen. Wie ſehr es Hegel beſchäftigte, erhellt aus den erſten Sätzen, mit denen die neue Ausgabe den Abſchnitt über Perſien einleitet. „Mit dem perſiſchen Reiche beginnt der offenbare Zuſammenhang mit der Weltgeſchichte, der nicht etwa ein anſcheinender äußerer, ſondern ein Zuſammenhang des Begriffes iſt. Solchen Zuſammenhang hat das Innere des Geiſtes überhaupt, das die Geſtaltungen der Geſchichte hervorbringt, wenn ſie auch in keinem äuſteren Zuſammenhange ſtehen. Hier aber iſt das Innere herausgetreten und zum erſcheinen⸗ den geſchichtlichen Zuſammenhang geworden.“ 90 Hegel unterſcheidet alſo noch einmal?! ganz unmißverſtändlich zwiſchen einem inneren und äußeren Zuſammenhang, zwiſchen dem Zuſammenhang des Bes griffs, der, dem Inneren des Geiſtes angehörig, die Geſtaltungen * ., II, 4½f. 445f.; L, II, 430 ff. = B, 253f.: „Das Großartige des perſiſchen Reiches ift, daß es als ein Völlervetein (nach Analogie des ehemaligen Deutſchen Reiches oder des Napoleoniſchen Kaiferreiches) anzuſehen ift, daß in feinen Satra: pien die Eigentümlichleit der einzelnen Völler erhalten bleibt, jedem Teile ſeine eigene Geſtalt gelaſſen wird und fie nur in einem Punkte ſich konzentrieren.“ % L., II, 445. , II, 445 = , 257. » L, II, 414. Sperrung vom Verf. gl. oben S. 167f. 168 Erſte Stufe: Die orientaliſche Welt der Geſchichte hervorbringt, und dem äußeren geſchichtlichen Zu⸗ ſammenhang, in dem jener zur Erſcheinung kommt. Zwiſchen China, Indien und Perſien beſteht kein Zuſammenhang im letzteren Sinn, nur ein Zuſammenhang des Begriffs. Das iſt der Sinn von He gels Satz: „Das chineſiſche und indiſche Reich können nur an ſich und für uns in den Zuſammenhang der Geſchichte kommen.“ 92 Und noch deutlicher: „Der Übergang, den wir von Indien nach Perſien zu machen haben, iſt alſo nur im Begriffe, nicht im äußerlichen ge⸗ ſchichtlichen Zuſammenhange.“ 9s Maßgebend für den aller Geſchichte zugrunde liegenden begrifflichen Zu⸗ ſammenhang iſt Hegels Faſſung des Geiſtbegriffs. Es iſt das Weſen des Geiſtes, es iſt ſein Begriff, ſich aus allen naturhaften Bindungen herauszulöſen und dadurch zum Bewußtſein ſeiner Freiheit zu kommen. „Der Geiſt aber, der noch im Natürlichen iſt, hat die Aufgabe, ſich von demſelben zu befreien.“ 94 China, Indien und Perſien bezeichnen jedes für ſich eine Etappe in dieſem Befreiungsprozeß. Das iſt der Fortgang der Idee, der den begrifflichen Zuſammenhang jener drei Völker ſtiftet. Aber mit Perſien tritt nun der Zuſammenhang des Begriffs erſt⸗ malig auch äußerlich in geſchichtliche Erſcheinung, nicht nach rück⸗ wärts, ſondern nach vorwärts im Hinblick auf das Griechentum. „Die Perſer ſind das erſte geſchichtliche Volk; Perſien iſt das erſte Reich, das vergangen iſt.“ 95 Was gehört nach Hegel dazu, daß ein Volk ein geſchichtliches ſei? China und Indien ſind keine eigentlich geſchichtlichen Völker, da ſie ein „natürliches vegetatives Daſein bis in die Gegenwart friſten“. 96 „Das Statariſche, das ewig wieder erſcheint, erſetzt das, was wir das Geſchichtliche nennen würden. China und Indien liegen gleichſam noch außer der Weltgeſchichte, als die Vorausſetzung der Momente, deren Zuſammenſchließung erſt ihr lebendiger Fortgang wird.“ ?7 Damit beſtreitet Hegel nicht, daß e L, II, 415 B, 236. L, II, 416 = B, 237. L, II, 416 = B, 237, L, II, 414 = BB, 236. “ A. a. O. ML II, 75 B, 168, Die Phaſe des Widerspruchs 169 jene Reiche innerhalb ihrer ſelbſt eine Entwicklung gehabt haben, die man Geſchichte nennen konnte. Er ſagt ausdrücklich: „China hat dies Eigentümliche, daß es ſich in ſich ſelbſt entwickelt hat.“ s China hat aber, wie Indien, inſofern „eigentlich keine Geſchichte“, als et ſeinen Charakter immer behalten und kein Volk von einem andern geiſtigen Prinzip ſich an die Stelle des alten geſetzt hat. „Wie es jetzt iſt, ſo iſt es das Reſultat ſeiner Geſchichte; wir ſprechen hier nicht bloß von einem vergangenen, ſondern auch von einem noch gegenwärtigen Reiche, und indem wir von ſeiner älteſten Geſchichte ſprechen, zugleich von feiner Gegenwart.“ 90 Perſien iſt deshalb das erſte geſchichtliche Volk, weil es vergangen, d. h. einem Volke er⸗ legen iſt, das mit Perſiens Untergang ſein geiſtiges Erbe angetreten und fortgebildet hat. „Die Berührung Perſiens und Griechenlands iſt auch äußerliche Geſchichte. Das perſiſche Prinzip iſt ein unter⸗ geordnetes und muß deshalb als ſolches manifeſtiert, das Perſiſche Reich von den Griechen geſtürzt und erobert werden. So ſehen wir hier das erſtemal in der Geſchichte keinen Übergang, der bloß an ſich bleibt, ſondern einen, der auch geſchichtlich iſt und bei dem ein Reich das untergegangene iſt. Das chineſiſche, indiſche Reich iſt noch, was es geweſen iſt. Hier aber haben wir mit dem Übergange der Herrſchaft zugleich den Untergang des Perſiſchen Reiches; über⸗ haupt, da wir im Geiſtigen angekommen ſind, haben wir von jetzt ab Übergang des Prinzips und der Herrſchaft zugleich.“ 100 Hegel unterſucht daher mit beſonderer Sorgfalt, inwiefern das Prinzip des Perſertums den Keim des Verfalls in ſich trug und den Un⸗ tergang des Reiches herbeiführen mußte. Daß dies überhaupt möglich ſein konnte, liegt in der geiſtigen Selbſterfaſſung jenes Prinzips, das ſich relativ ſelbſtändig von der Natur beſonderte, begründet. Wäre es nicht ſo, Perſien hätte einfach das ſtatariſche und vegetative Schickſal Chinas und Indiens geteilt, deſſen Prin⸗ zipien ſich aus der ſubſtantiellen Einheit mit der Natur nicht ge: e , e. I, II, 276. U, II, 31a B, 294. 170 Erſte Stufe: Die orientaliſche Welt nügend herauslöſen konnten. Mit der Unterſcheidung des Geiſtes von der Natur aber öffnet ſich jenem eine neue Exiſtenz. „Mit dieſer Offnung iſt ein großer Schritt getan; das Fortſchreiten kann nicht ſtillhalten, der Geiſt muß ſich vollbringen.“ 101. Es iſt alſo zu beachten, daß Hegel unter Geſchichte nicht ohne mei: teres den Entwicklungsprozeß verſteht, den ein Volk innerhalb ſeiner ſelbſt durchmacht. Ein Volk hat ſeine Geſchichtlichkeit daran zu legitimieren, ob es vergangen iſt und durch die Ausbildung eines epochemachenden geiſtigen Prinzips tauglich war, dem Volke, das an ſeine Stelle trat, die Fackel des Geiſtes weiterzureichen. Ein ſolches Volk allein iſt ein weltgeſchichtliches. Hegel hätte gut daran getan, zwiſchen dem Geſchichtlichen und Weltgeſchichtlichen terminologiſch genauer zu unterſcheiden und nicht dort einfach von Geſchichte zu ſprechen, wo er Weltgeſchichte meinte. . Das perſiſche Weltreich, das Cyrus begründete, iſt untergegangen. Schuld daran war gewiß auch die aſiatiſche Ausſchweifung, der die friſche Kraft des urſprünglichen Gebirgsvolkes nicht widerſtehen konnte. 102 „Es iſt den Aſiaten,“ ſagt Hegel, „nicht gegeben, Selb⸗ ſtändigkeit, Freiheit, gediegene Kraft des Geiſtes mit Bildung, dem Intereſſe für mannigfaltige Beſchäftigung und der Bekanntſchaft mit den Bequemlichkeiten zu vereinigen; kriegeriſcher Mut beſteht nur in Wildheit der Sitten, er iſt nicht der ruhige Mut der Ord— nung, und wenn der Geiſt ſich mannigfaltigen Intereſſen eröffnet, ſo geht er ſogleich zur Verweichlichung über, läßt ſich ſinken und macht die Menſchen zu Knechten einer ſchwachen Sinnlichkeit.“ 103 Aber die aſiatiſche Üppigkeit, gegen die der einfache perſiſche Sinn in ſich keinen Widerhalt hatte, iſt doch mehr ein Symptom des Verfalls als deſſen eigentliche Urſache. Dieſe liegt darin, daß es dem Perſertum bei aller Liberalität nicht gegeben war, die unter⸗ worfenen und beherrſchten Völker, ſo verſchieden an Sprache, Sitte, Religion uſw., in einem einheitlichen Staatsganzen zu organi— 101 A. a. O. 102 J, II, 445. 10 L, II, 441 B, 254, Die Phaſe des Widerſpruchs 171 ſieren. „So blieben fie (die Perſer) bloß im Verhältnis der Herrſchaft zu dieſen Voͤlkern. Sie blieben ein abgeſondertes, ab⸗ geſchnittenes Volk gegen dieſe Mannigfaltigkeit... Sie haben ihr Prinzip nicht in die eroberten Volker hineingebildet, nicht ein Ganzes hervorgebracht und machten nur aus Aggregaten von unendlich vielen Individualitaͤten eine Herrſchaft ... Es beſteht keine Gemeinſchaft der Geſetze, der Rechte in dieſer Voͤlkermenge, wie ſich die Perſer denn auch nicht als Beamte unter den Völkern betätigen, ſondern nur Tribut und Kriegsdienſt von ihnen verlangen. Die perſiſche Herrſchaft hatte ſo keine wahre, innerliche Legitimität unter dieſen Voͤlkern erlangt, weil ſie in ſich nicht organiſiert wurden. So blieben ſie die abſtrakten Herren und dies führte Gewalttätigkeit, Recht⸗ loſigkeit und Unterdrückung notwendig mit ſich.“ Dies hat dann die Schwächung der zwar tapferen, aber auch unruhvoll ſchweifenden perſiſchen Macht herbeigeführt. Das Maſſenhafte und Unorganiſierte, das Disparate und Zuſammenhangloſe ihrer Heere, das getreue Spiegelbild der „unorganiſierten Einheit“ ihres Staates, iſt der „griechiſchen Organiſation“ unterlegen. „Das höhere Prinzip hat das untergeordnete überwunden.“ An die Stelle der „unorganiſchen Mannigfaltigkeit verſchiedener Partikularitäten“, an die Stelle der abſtrakten die „konkrete Einheit“ des Staates treten zu laſſen, „wo die Partikularitäten ſich gegenſeitig binden und zur höchſten Einheit erheben“, wo der allgemeine Staatszweck zugleich der ſubjektive Zweck der Individuen iſt, — dieſe Fortbildung in der Idee des Staates zu vollziehen und damit einen neuen Freiheitsgedanken zu realiſieren, war die weltgeſchichtliche Miſſion Griechenlands. 10% PR ; b) Jubäa Eines der heterogenen Elemente, die dem perſiſchen Reich ans gegliedert wurden, iſt das Volk Iſrael. Das Bedeutſamſte an ihm iſt ſeine Religion der abſtrakten reinen Geiſtigkeit. „Hier iſt 1% L, II, 446. 512 ff. - B, 295; L, III, 619 = B, 336. 172 Erſte Stufe: Die orientaliſche Welt das Licht der Perſer, die phyſikaliſche, äußerliche Einheit, erſt zum Gedanken aufgeblüht, die reine natürliche Einheit, wie ſie von ihnen aufgefaßt worden iſt, von dem Momente der Natürlichkeit gereinigt. Das Geiſtige entwickelt ſich in ſeiner extremen Beſtimmtheit gegen die Natur, in welcher der Geiſt nicht frei wird.“ 105 Das Judentum bedeutet alſo in noch intenſiverem Maße, als dies bei der perſiſchen Lichtreligion feſtſtellbar war, den „Bruch“ mit dem orientaliſchen Prinzip des in die Natur verſenkten, mit ihr in ſubſtantieller Einheit befindlichen und darum unfreien Geiſtes. 106 „Dies iſt der hohe Punkt, eine Spitze, die einerſeits noch dem Orient angehört, ander⸗ ſeits über die Grenzen des Orientaliſchen hinausgeht; wir beobachten hier das Umſchlagen des morgenländiſchen Prinzips. Der Morgenländer erklärt die Natur für das Erſte; bei den Juden ſteht umgekehrt das Geiſtige zuerſt. Hier iſt das Glauben das Denken; denn was man weiß, das glaubt man auch. Das Natürliche dagegen iſt zu einem rein Außerlichen herabgedrückt; die Gottheit iſt der Natür⸗ lichkeit entäußert, mit der wir ſie ſelbſt noch bei den griechiſchen Völkern verunreinigt finden. Hier fängt die Proſa der Natur an, d. h. ſie wird als endlich aufgefaßt, nicht mehr gemiſcht mit dem, was gegen ſie das Höhere iſt. Die Sonne z. B. wird bloß als Sonne, nicht auch zugleich als etwas Höheres angeſehen. Die Natur erſcheint als der Gottheit unterworfen, fie dient dazu, jene zu vers herrlichen. Man tritt hier in einen reinen und homogenen Kreis der Weltanſchauung.“ 107 Das Losreißen des Geiſtigen von dem Natür⸗ lichen, Sinnlichen und Unmittelbaren hat die „Entgötterung der Na— tur“ zur Folge. 108 Der Geiſt kommt damit zu feiner „Würde“ und die Natur zu ihrer „Wahrheit“. 109 „Und das iſt ihre Wahrheit, daß ſie das Außerliche iſt gegen den Geiſt. Das Wahre iſt dann, daß die Idee auch in ihrer Entäußerung noch Idee bleibt. Das erſte Ver⸗ ſöhntſein aber des Geiſtes mit der Natur, wo er mit der Natur noch 105 L, II, 453. 0 L, II, 455 = B, 262 f. 107 L, II, 453. Sperrung vom Verf. 1 JI, II, 454. % L, II, 454 = B, 263f. Die Phaſe des Widerfpruchs 173 gemischt, in fie verſenkt iſt, bedeutet die Niedrigkeit, Entwürdigung des Geiſtes, die wir geſehen haben. Hier dagegen tritt die Natur herab und wird als ein Außerliches genommen.“ 110 Das orien⸗ taliſche Prinzip zeigt den Geiſt, wie er noch mit der Natur vermiſcht und in ſie verſenkt iſt. Es iſt der Geiſt in ſeiner Niedrigkeit und Entwürdigung. In der Religion Ifſraels erreicht er bereits eine Höhe, der gegenüber die Natur als das Untergeordnete und Außerliche er⸗ ſcheint, das ſie im Weltprozeß überhaupt iſt. Mit ſcharfen Strichen zeichnet Hegel die hieraus ſich ergebenden Eigentümlichkeiten des neuen Religionsgedankens. Die Natur iſt ein Geſchaffenes. Gott iſt der Schöpfer und Herr aller Menſchen wie der ganzen Natur. Das Verhältnis zwiſchen der Gottheit und der Natur iſt das der „Erhabenheit“ Gottes, für den die Na⸗ tur nur Schmuck und Folie iſt. Iſt Gott als der Eine, unſinnliche Geiſt gefaßt, ſo kann auch der Menſch als ein nur ſinnliches Weſen nicht mehr vorgeſtellt werden. Er iſt „ſittliches Weſen“, deſſen Verhalten von Prinzipien wahrhafter Moralität geregelt wird. Menſchen und Dinge können ferner in ihrer Endlichkeit und Natür⸗ lichkeit, Außerlichkeit und Beſchränktheit aufgefaßt und dargeſtellt werden. „Menſchen werden als Individuen, nicht als Inkarnationen Gottes, Sonne als Sonne, Berge als Berge, nicht als in ihnen ſelbſt Geiſt und Willen habend, genommen.“ Dies konſtituiert den „ge⸗ ſchichtlichen“ Charakter in der Selbſtdarſtellung des iſraeliti⸗ ſchen Volkes. Das „erſte Verſöhntſein“, d. h. die unmittelbare Iden⸗ tität von Geiſt und Natur, wie ſie das Aſiatentum kennzeichnet, iſt in der jüdiſchen Religion zur Auflockerung der gebundenen Momente, zum ausſchließenden Widerſpruch des Geiſtes gegen die Natur fort⸗ geſchritten. Die zweite Verſöhnung, d. h. die durch den Widerſpruch vermittelte Identität des Geiſtes mit der Natur iſt aber noch nicht erfolgt. Der Geiſt bleibt abſtrakt. Er iſt noch nicht „konkreter Geiſt“, der die Natur als Moment in ſich befaßt. Dadurch erhält dieſe Re⸗ mn L., II, 484. 174 Erſte Stufe: Die orientaliſche Welt ligion viertens die „Beſtimmung des Ausſchließens“. Sie iſt die Religion der Exkluſivität. Der Eine Gott iſt nur der Gott des jüdiſchen Volkes, gegen den alle andern Götter und alle andern Religionen falſch ſind und deſſen Liebe ſich nur auf Abrahams Samen erſtreckt. Die Schroffheit des Gottesgedankens endlich, der ſich gegen jedes Wahrheitsmoment in andern Religionen ſtrengſtens abſperrt, erzwingt einen „harten Dienſt“, der das Subjekt vor Zeremonie und Recht nicht zum Bewußtſein der Freiheit und Selb— ſtändigkeit kommen läßt. „Der Staat aber iſt das dem jüdiſchen Prinzip Unangemeſſene und der Geſetzgebung Moſes fremd.“ 111 c) Agypten 7 Was von Perſien und Judäa gilt, die Herauslöſung des Geiſtes aus der unmittelbaren Einheit von Geiſt und Natur und alſo der Bruch mit dem orientalifchen Prinzip, gilt endlich von Agypten, dem Land des Rätſels und der Symbole. Agypten iſt der „innerliche“ Übergang und Fortgang des geiſtigen Bewußtſeins vom Orient nach Griechenland, während der hiſtoriſch-äußerliche Übers gang dem Perſiſchen Reiche zu vindizieren iſt, deſſen Provinz Agypten geworden war. 112 Wir ſehen in der vorder- und weſtaſiatiſchen Welt das orientaliſche Prinzip in feine Momente auseinanderfallen, in die wüſte Sinnlich keit der Naturdienſte und Vegetationskulte auf der einen, den ab— ſtrakten reinen Gedanken auf der andern Seite. Die „Aufgabe“ iſt nun, dieſe „widerſtreitenden Momente“ in eine neue Einheit zu— ſammenzufaſſen, von der unmittelbaren zu der durch den Wider— ſpruch vermittelten Identität von Natur und Geiſt fortzuſchreiten. 113 Die Bedeutung der ägyptiſchen Geſtalt beſteht darin, daß ſie „in der Weltgeſchichte die Aufgabe darſtellt und das Mißlingen, die Aufgabe zu löſen“. 114 Symboliſch für den ägyptiſchen Geiſt iſt das 41 L, II, 454 ff. B, 263 ff. 1 L, II, 278, 1 &B; 189) 294, ML IE 460 = B, 267. 14 L, II, 461. m * Die Phafe des Widerfprucht 175 Gebe der Sphinx, jene halb tieriſche, halb menſchliche Doppel: geſtalt. „Es iſt das Geiſtige, das ſich dem Tieriſchen, Natürlichen entreißt, aus ihm heraus zublicken anfängt, doch noch nicht befreit, noch in dem Widerſpruche befangen iſt. Der Menſch hebt ſich aus dem Tiere empor, er blickt ſchon um ſich, ſteht aber noch nicht auf ſeinen Beinen, vermag ſich von den Feſſeln des Natürlichen noch nicht ganz zu befreien.“ 415 Der Menſch, der aus dem natürlichen Zuſtande hervortritt, das Geiſtige, das mit dem Willen, ſich ſelbſt ſich klarzumachen, aus dem Tieriſchen hervorbricht, iſt in dem Bilde der Sphinx „ſymboliſiert“. 116 | Die außerordentliche Dynamik dieſes zur Löſung drängenden, aber ungelöft bleibenden Widerſpruchs wird von Hegel — gerade in der neuen Ausgabe — gefliſſentlich hervorgehoben. „Wir ſehen die Agypter, von dem Natürlichen gebunden, in gedrungener, ver⸗ ſchloſſener Naturanſchauung verdumpft, aber auch dieſe Gebunden⸗ heit durchbrechend und alſo in dem Widerſpruche erſcheinend, deſſen Löfung fie ſich als Aufgabe darſtellen.“ 117 In ihrer Religion find ein bloß materialiſtiſcher Inhalt und ein reiner Idealismus, ſind natürliche und geiſtige Mächte aufs innigſte verbunden, „aber nicht ſo, daß die geiſtige Bedeutung hervorgetreten wäre, ſondern daß die verbundenen Mächte eben in ihrem höchſten Widerſpruche zu⸗ fammengefaßt, vereinigt waren“. 118 „Es iſt ſchwer, den ägyp⸗ tiſchen Charakter darzuſtellen, weil er einen ungeheuren Wider⸗ ſpruch in ſich enthält.“ 119 „Ein in ſich höchſt unruhiger Geiſt von ungeheurem Triebe und Drang zeigt ſich uns, der ſich im Ent⸗ gegengeſetzten auf die wildeſte Weiſe herumwirft.“ 120 „Der un⸗ geheure Kontraſt gehört zu dem Charakter der Agypter ... Dieſe Vermiſchung des Heterogenſten iſt das Rätſel, das uns die Agypter zu löſen aufgeben. Dieſes Rätſel iſt in allen ihren Werken; es iſt ihr Geiſt ſelber.“ 121 Es iſt der Selbſtwiderſpruch des nach ſeiner 18 L, II, 460 = B, 267. 1 L, II, 483. ½ A. a. O. 1 L, II, 475 - B, 278. ue I, II, 502, 12 L, II, sog, ML, II, 508, f 176 Erſte Stufe: Die orientaliſche Welt Befreiung ringenden, verſtandesklaren Geiſtes, dem es „unmöglich geworden iſt, es in der natürlichen Einheit der Subſtanz auszu⸗ halten“, der ſymboliſierend das Natürliche in ein Geiſtiges zu ver⸗ wandeln ſtrebt, der aber andrerſeits an den Naturdienſt, „grell und grob wie in Afrika“, an partikuläre Zwecke, an die Ausbrüche roheſter Sinnlichkeit, an entwürdigenden Aberglauben, an bizarre, groteske, phantaſtiſche Werke und Mythen hart gebunden bleibt. 122 Dieſer naturgebundene Geiſt, der ſich ſelbſt ein Rätſel war, kann nur ein Geiſt der Unfreiheit ſein. 123 Ein „freies Reich der Wiſſenſchaft“ iſt demnach auch bei den Agyptern nicht zu ſuchen. „Das Unverſtändige, Verſtandloſe iſt mit dem Verſtändigen ver⸗ einigt. Sie ſind nicht zum freien Bewußtſein gekommen.“ 124 Hegel verfolgt die „Vermengung von Geiſtigem und Natür⸗ lichem“ 125 in den einzelnen Geſtaltungen des ägyptiſchen Volks⸗ geiſtes. | Das ägyptiſche Leben iſt den geographiſchen Verhältniſſen des Lan⸗ des konform. „Der Nil und ſeine Überſchwemmungen in Verbin⸗ dung mit der Sonne iſt für die Agypter alles in allem; es hängt ihr Leben davon ab. Nil und Sonnenumlauf ſind die Pulsadern des ägyptiſchen Lebens; was nicht vom Nil berührt wird, gehört nicht zu Agypten. Auf dieſer natürlich beſchloſſenen Welt, auf dem ge ſchloſſenen phyſiſchen Kreiſe, den Nil und Sonne beſtimmen, ruht denn auch die Grundanſchauung deſſen, was den Agyptern als das Weſen gilt.“ 126 Ihre Staatseinrichtungen und Lebensweiſe find ebenſo einförmig und in ſich beſchloſſen wie die Natur des von ihnen bewohnten Landes. Ordnung und Sorgfalt, feſte Beſonnenheit und praktiſche Verſtändigkeit find die hervorſtechenden Merkmale ihrer Sitte und Handlungsweiſe, ihrer polizeilichen Einrichtungen, ihres Gerichtsweſens, ihrer Prieſterſchaften, ihrer Bauten und Be⸗ wäſſerungsanlagen. Das Volk nimmt keinen Anteil an der Regie⸗ 12 L, II, 502 f. 509 = B, 291 f. 1 L, II, 478. 480 = B, 283. 14 L, II, 291, ** L, II, 490, 120. 1% 11, 468 B 277, Di, pbaſe des Widerspruchs 177 | rung. Aber Könige und Prieſter können nichts nach Willkür tun, ſondern ſind durch das Geſetz gebunden. So erſchien ſchon den Alten Agypten als „Muſter eines ſittlich geregelten Zuſtandes“. „Jene ruhige, polizeilich regulierte Ordnung“ iſt aber nicht das bewegungs⸗ loſe Eine Chinas. „Ein Zuſtand, der als ſchlechthin fertig ange⸗ nommen und genoſſen werden ſoll, in dem alles berechnet iſt, be⸗ ſonders die Erziehung nur Angewöhnung an ihn, damit er zur andern Natur werde, iſt überhaupt der Natur des Geiſtes zuwider, der das vorhandene Leben zu ſeinem Objekte macht und der unendliche Trieb der Tätigkeit iſt, dasſelbe zu verändern.“ Es arbeitet unter den Oberflächenerſcheinungen des ägyptiſchen Lebens ein unendlich drangvoller Geiſt, der ſich durch die „ungeheuerſten Produktionen“ kundtut. 127 Hegel denkt hierbei zuerſt an den Tierdienſt der ägyptiſchen Re⸗ ligion, in dem nicht ein niederes, ſondern ein höheres Leben ange⸗ ſchaut, die lebendige, unſichtbare und unbegreifliche Innerlichkeit als das Göttliche verehrt wird. „Die Tiere ſind in der Tat das Un⸗ begreifliche; es kann ſich ein Menſch nicht in eine Hundsnatur, ſo viel er ſonſt Ahnlichkeit mit ihr haben möchte, hineinphantaſieren oder vorſtellen, — ſie bleibt ihm ein ſchlechthin Fremdartiges.“ Das Göttliche und Geiſtige kann nur im „Reiche der Natur“, d. h. auf der Seite des Geiſtloſen und Ungeiſtigen, als das Unbegreifliche ge⸗ faßt werden. Auf dem Boden der Vorſtellung, der Reflexion, des Gedankens, der dem Griechen⸗, noch mehr dem Chriſtentum eigen⸗ tümlich iſt, iſt die Unbegreiflichkeit des Geiſtes vergangen, iſt der Geiſt ſich ſelbſt offenbar, verſteht und begreift der Geiſt den Geiſt. Das Geiſtige erſcheint dem Agypter nicht als freies, ſelbſtändiges, allgemeines Prinzip, ſondern in der unfreien Naturgebundenheit partikulariſierten tieriſchen Lebens. Wie dieſe Verehrung des un⸗ begriffenen Geiſtes in Geſtalt des Tieres ſich auf der Höhe ſinn⸗ licher Symbolik des Geiſtigen und Menſchlichen halten kann, ſo 1 L, II, 468—474 = B, 273—277. Lerfe, Geſchichtsphiloſophie Hegels 12 178 Erſte Stufe: Die orientaliſche Welt kann ſie auch bis zum „ſtumpfſten und unmenſchlichſten afrika⸗ niſchen Aberglauben“ entarten. 128 ea In geiftigerer Form erſcheint der ägyptiſche „Naturdienſt“ als die Verehrung von Göttern, in denen Geiſtiges und Natürliches un⸗ trennbar vereinigt iſt. „Die ägyptiſchen Götter ſind Geſtalten, deren Sein zwar geiſtige Wirkſamkeit, d. h. beſondere partikuläre Wirk⸗ ſamkeit iſt, die aber auf der andern Seite auch wieder an natürliche Dinge geknüpft und zu Symbolen heruntergeſetzt werden.“ 129 So ſehen wir den in ſich geſchloſſenen „Naturkreis“, der mit Nil und Sonne die Grundlage des ägyptiſchen Lebens bildet, in den Mythen von Iſis und Oſiris als „menſchlichen Verlauf“ aufgefaßt. „Der natürliche Verlauf und die göttliche Geſchichte iſt dasſelbe.“ 130 Noch kraftvoller und eindringlicher ringt ſich der Geiſt im Toten— kult ans Licht. Es iſt das Verdienſt der neuen Ausgabe, durch die Staffelung der ägyptiſchen Religion in Tierdienſt, Götterglaube und Totenkult dieſen Gedankengang Hegels deutlich hervortreten zu laſſen, der durch das wirre Durcheinander und die Zerſtückelung der zuſammengehörigen Partien in der alten Ausgabe ganz verdeckt iſt. Der ägyptiſche Totenkult iſt nicht eine „bloße Ehrung der Toten“. Sein Kern iſt der Unſterblichkeitsgedanke. Damit triumphiert der Geiſt über die Natur. „Dies, daß die Seele unſterblich iſt, ſoll heißen: ſie iſt ein anderes als die Natur; der Geiſt iſt ſelbſtändig für ſich. Das bloß Natürliche erſcheint vereinzelt, iſt ſchlechthin ab— hängig von anderm und hat ſeine Exiſtenz in anderm: mit der Un⸗ ſterblichkeit aber iſt es ausgeſprochen, daß der Geiſt in ſich ſelbſt unendlich iſt. Dieſe Vorſtellung wird zuerſt bei den Agyptern ge— funden.“ 191 In einem wertvollen Zuſatz der neuen Ausgabe bemüht ſich Hegel um eine möglichſt genaue Definition des Unſterblichkeits⸗ gedankens. Unter Unſterblichkeit der Seele verſteht er das Bewußtſein des Geiſtes von ſeiner abſolut freien und innerlich für ſich ſeienden 12s L, II, 474—483 = B, 282285. % L, II, 483 f. % L, II, 484ff. B, 278f. * I, II, 493 = B, 287f. Die Phaſe des Widerſpruchs 179 Unendlichkeit, ein Bewußtſein, das gerade dem orientaliſchen Geiſt verſagt bleibt. „Bei uns hat der Unſterblichkeitsglaube weſentlich die Beſtimmung, daß die Seele einen ewigen Zweck, ganz verſchieden von ihrem endlichen, und darum einen unendlichen Wert in ſich habe.“ 192 Nicht verſteht er aber unter Unſterblichkeit die individuelle Fortdauer und „partikulariſierte Exiſtenz“ eines abſtrakten Seelen⸗ atoms. „Dies reicht für den Begriff des Geiſtes nicht zu.“ Unſterb⸗ lich iſt nur der Geiſt in ſeiner Konkretheit und Allgemeinheit. Der Seelenwanderungsglaube der Agypter und die übertriebene Wert⸗ ſchätzung, die ſie dem vergänglichen Körper durch die Mumifizierung und für die Ewigkeit berechnete Grabbauten zuteil werden ließen, beweiſt, daß „ihr Begriff der Unſterblichkeit noch nicht hoch war“. 183 „Gerade darin übrigens, daß die Agypter verſuchten, dem Körper Dauer zu verſchaffen, offenbart ſich, daß ſie keine wahre Unſterblichkeit kannten; noch weit mehr wird dadurch ihre unend⸗ liche Hochſchätzung des Sterblichen, des Partikulären bewieſen. Denn bei der wahren Unſterblichkeit iſt, wie geſagt, die Erhaltung des Körpers ganz unweſentlich.“ 134 Am elementarſten aber iſt die Spannung des Widerſpruchs zwiſchen dem Geiſt, der ſich in Freiheit und Innerlichkeit zu erfaſſen ſtrebt, und den Naturgebundenheiten, in die er allenthalben wieder zurück⸗ ſinkt, auf dem Gebiete der ägyptiſchen Kunſt. Hier entlädt ſich feine Dynamik in großartigften Schöpfungen der Architektur und Skulptur, größer und ſtaunenswerter als alle Werke der ſonſtigen alten und neuen Zeit. Hier iſt der Geiſt die „abſolute Gärung, das Treiben, der Widerſpruch, der abſolute Verſuch und Drang, aus ſich herauszugehen, ſich Luft in der Beklommenheit, das Innerliche äußerlich und das Äußerliche zu einem Innerlichen zugleich zu machen“. 135 Hier erſcheint der ägyptiſche Geiſt als der „ungeheure Werkmeiſter“ 136, der feine eigene Rätſelhaftigkeit in den Stein 56 L, II, 493f. L, II, 494 ff. = B, 288 f. % L, II, 496. % L, II, 498 15% L, II, 500 B, 286, 12* „ ei a vn m gi) rap PET . m... * K * * 180 Erſte Stufe: Die orientaliſche Welt hineinſchreibt. Das kühne, mächtige, grandioſe Reich von Werken der Baukunſt und Bildnerei iſt die eigentliche Tat der Agypter, in der ſich der nie zu erſättigende Drang ihres Geiſtes, rätjelbaft und dunkel wie er iſt, zur gegenſtändlichen Anſchauung befreit. In der neuen Ausgabe äußert ſich Hegel ausführlicher darüber, an welcher Stelle die Kunſt, inſonderheit die ägyptiſche, in der Ent⸗ wicklungsgeſchichte des Geiſtes hervortritt. Der Orient iſt nicht der für die Entſtehung einer großen Kunſt geeignete Boden. „In einem Volke, das noch in die Natur als ſolche verſenkt iſt, wie im ganzen der orientaliſche Geiſt ſich zeigt, wo das Natürliche das Übergewicht hat, kann die Kunſt, ſofern ſie exiſtiert, nur Verzerrtes, Geiſtloſes hervorbringen. Daß die Kunſt hervortreten kann, dazu gehört, daß die Fähigkeit hinzugekommen iſt, des Geiſtigen ſich bewußt zu wer⸗ den.“ Wo umgekehrt das Geiſtige das Übergewicht hat wie in der chriſtlichen Religion, der „Religion des Geiſtes“, kann die Kunſt eintreten. Aber fie iſt etwas „Gleichgültigeres“, ja, etwas „Aber⸗ flüſſiges“, weil der Geiſt ſich in hoͤherer, adäquaterer Form erfaſſen, ſich ſelbſt auf dem Boden des Gedankens geiſtig darſtellen kann. Aber, wo ein Bewußtſein des Geiſtigen ſich herausgebildet hat, das einerſeits nicht mehr in die Natur verſenkt iſt und andrerſeits noch nicht die Form des Geiſtigen ſelbſt erlangt hat, wo alſo der Geiſt noch mit der Natur „behaftet“ iſt, da hat die Kunſt als notwendige Form des Bewußtſeins und anſchaulicher Ausdruck des Geiſtes den ihr gemäßeſten Ort. „Die Kunſt fällt in die Mitte des geiſtigen Pro⸗ zeſſes.“ Die großen Epochen der Kunſt ſind für Hegel die klaſſiſche Kunſt der Antike, wo das Geiſtige in Harmonie und im Gleichgewicht mit dem Natürlichen iſt, und die Kunſt der Agypter, wo das „Geiſtige im Ringen mit dem Natürlichen frei zu werden ſtrebt“. 137 1 L, 11, 498 1. 1. I, 113: „Ebenjo hat die chriſtliche Religion weſentlich auch Kunſt, weil ihr das Göttliche nicht das Abſtrakte des Verſtandes iſt. Doch kann bei uns nicht wie bei den Griechen die Kunſt die höchſte Weiſe fein, in der das Wahre vor: re 8 ar 8 4 A a A ms Die Dialektik des orientalischen Geiſtes 181 Der Geiſt des Agyptertums iſt der „gärende Geiſt“, der nach Klar⸗ heit ſtrebt, ohne zur Klarheit zu kommen. Er ſtellt die gewaltſame Verknüpfung zweier Extreme dar, die er noch nicht zur Verſöhnung zu bringen weiß. 108 „Dieſe Extreme zeigen ſich hier aneinander— geknüpft: Natur, natürlicher Geiſt in die Natur verſenkt, und Geiſt, der ſich losringt und ſich gegen die Unterwürfigkeit ſträubt. Es iſt nicht wie im früheren orientaliſchen Weſen die Vereinigung dieſer beiden Momente, wie ſie der Verſtand vor ſich hat, wenn er von Einheit von Geiſt und Natur ſpricht und ſprechen hört. Es iſt auch noch nicht die wahre Einheit, die, im Griechiſchen anfangend, im Chriſtentum erreicht iſt, die geiſtige Freiheit, für die das bloß Sinn⸗ liche, Natürliche nur vom Geiſte geſetzt, Material, Boden iſt, um den Geiſt zu manifeſtieren. Zwiſchen der erſten Einheit, der orien— taliſchen, und dem Idealismus, der Einheit im Geiſtigen, ſteht das Agyptiſche in der Mitte. Beide Seiten ſind in Selbſtändigkeit, aber in abſtrakter Selbſtändigkeit. Die gärende Einheit haben wir vor uns, worin die wahrhafte Einheit nur geahnt, als Rätſel, Aufgabe vorgeſtellt iſt.“ 139 Was für den Agypter Aufgabe und Rätſel geblieben iſt, löſt der Grieche, der auf das höchſte Gebot des delphiſchen Gottes: „Menſch, erkenne dich ſelbſt“ den Geiſt als Geiſt erfaßt, den Schleier der Göttin zu Sais lüftet und die Sphinx vom Felſen ſtürzt. Im grie⸗ chiſchen Geiſte erfaßt ſich das Selbſtbewufßßtſein in freier und klarer Menſchlichkeit. 140 4. Die Dialektik des orientaliſchen Geiſtes Indem wir hiermit von der orientaliſchen Welt Abſchied nehmen, erleuchtet ſich uns noch einmal das Problem der Hegelſchen Dialektik. geſtellt und gefaßt wird, und kann nur untergeordnete Stellung haben. Die Geſtal⸗ tung, die nur durch die Kunſt gegeben wird, hat für uns keine unbedingte Wahrheit, iſt nicht die Form, in der das erſchiene, was abſolut iſt. Die Geſtaltung in der Kunſt iſt nur ein Endliches, ein dem unendlichen Inhalt, der dargeſtellt werden ſoll, Unan⸗ gemeſſenes.“ s ., II, 501. 1 L, II, 501 = B, 291. % L, II, 509 ff. B, 292f. 182 Erſte Stufe: Die orientaliſche Welt Ihr Rhythmus iſt der Dreitakt der unmittelbaren Identität von Geiſt und Natur, des Widerſpruchs von Geiſt und Natur, der durch den Widerſpruch vermittelten Ideatität von Geiſt und Natur. Ber zeichnet Hegel die letztere als „Idealismus“ oder „Einheit im Geiſtigen“, ſo könnte man die erſtere ſinngemäß als Naturalismus oder Einheit im Natürlichen bezeichnen. Immer handelt es ſich um den Geiſt. Aber auf der naturaliſtiſchen Stufe der unmittelbaren Identität iſt der Geiſt in die Natur verſenkt. Er iſt der Geiſt des Orients, der Geiſt der Unfreiheit und Knechtſchaft, der Deſpotie und Heteronomie, der Geiſt der Unorganiſiertheit, der keine Sphäre in— dividuellen Fürſichſeins weder auf dem Gebiete des allgemeinen Kultur- noch auf dem des privaten Einzellebens zur Ausbildung ge— langen läßt. Auf der idealiſtiſchen Stufe der vermittelten Identität, „im Griechiſchen anfangend, im Chriſtentum erreicht“, iſt der Geiſt freier und konkreter Geiſt, d. h. er hat ſich der Natur gegenüber als ſelbſtändiges, eigengeſetzliches Prinzip von unendlichem Wert erfaßt, verharrt aber ihr gegenüber nicht in ſtarrer Exkluſivität — er wäre fo nur abſtrakter Geift wie im Judentum —, ſondern ver— ſöhnt ſich mit ihr zu einer Einheit, „für die das bloß Sinnliche, Natürliche nur vom Geiſte geſetzt, Material, Boden iſt, um den Geiſt zu manifeſtieren“. Er iſt der Geiſt der Autonomie, des freien Gehorſams, der gewollten und geſollten Eingliederung in den Orga— nismus des abendländiſchen Kulturſtaates, der ſeine Schöpfungen frei in ſich gewähren und das Individuum, wenn es ihm nur mit ſeinem Dienſt am Ganzen Ernſt iſt, zu wahrer Menſchenwürde auf— ſteigen läßt. In der „Mitte“ des Widerſpruchs von Geiſt und Na⸗ tur, wo der Geiſt gärt und ſich ſelbſt noch ein Rätſel iſt, wo der Geiſt aus ſeinem Verſenktſein in die Natur ſtürmiſch hervorbricht und doch immer wieder ohnmächtig in ſie zurückfällt, wo das Staatsleben zwiſchen Deſpotismus und Willkür unſtet hin- und herſchwankt, in dieſer Mitte des Übergangs vom Orient zum Abendland ſteht auch Agypten als Teilerſcheinung des perſiſchen Weltreichs. mis Dialektik des ottentaliſchen Geifles 183 So erweiſt ſich die orientaliſche Welt Hegels äufßerft fruchtbar zur Aufklärung der grundlegenden Beſtimmungen feines geſchichtsphilo⸗ ſophiſchen Denkens. Dank der genaueren und ausführlicheren Faſſung der neuen Ausgabe laſſen ſich die Eigentümlichkeiten dieſes Denkens gerade dort in aller Klarheit und Schärfe herausſtellen, wo man es vielleicht am wenigſten erwartete. Hegel hat mit größter Gewiſſenhaftigkeit und bewundernswertem Fleiß bie Quellen durch⸗ forſcht, die ihm Aufſchluß über die Reiche des Orients geben konn⸗ ten. Faſt jede Zeile, die er geſchrieben hat, iſt des Zeuge. Er iſt mit eindringendem Spürſinn von dem empiriſchen Tatſachenmaterial zum immanenten Sinn und Gehalt, zum Weſen und zur Eigenart der orientaliſchen Kulturen vorgedrungen, indem er die Kulturſeele, den Geiſt zu erfaſſen ſuchte, der ſich in ihnen ſeinen Körper baut. Er hat damit nur das getan, was das Ziel aller Hiſtorie iſt. Wenn feine orientaliſche Welt heute unhiſtoriſch erſcheinen ſollte, weil ſeine Quellen unzulänglich waren und er zu unmittelbar und ge⸗ waltſam jedes Volk auf ſein Prinzip feſtlegte, ſo iſt ſie gleichwohl nicht veraltet, wenn man die Aufgabe ſo ſtellt, in ihr der ungeheuren Energie und Dynamik des Hegelſchen Denkens nachzugehen: für das der Geiſt als die treibende Kraft und die Natur als der zu überwindende und im Einheits⸗ gefüge der Geiſt-Ratur umzulagernde Widerſtand erſcheint. Völker, Staaten, Kulturen erhalten ihren geſchichtsphiloſophiſchen Zuſammenhang durch die aufgewieſene Dialektik der Geiſt⸗Natur. Das zeigt Hegels orientaliſche Welt in wünſchenswerteſter Deut⸗ lichkeit. II. Zweite Stufe: Die griechifche Welt 1. Die Periodizität der Kultur Es verhält ſich in der Tat fo, daß die Dialektik der Geiſt-Natur der Schlüſſel zum Verſtändnis der Hegelſchen Geſchichtsphiloſophie, der eigentlich philoſophiſche Kerngehalt feiner Geſchichtsbetrachtung iſt. „Es handelt ſich darum, den Geiſt gleichſam zu belauſchen, wie er in ewigem Wechſelſpiel von Entzweiung (Theſis und Antitheſis) und Einheit (Syntheſis) zu ſich ſelbſt kommt, oder gleichſam in ſteter Zwieſprache mit ſich ſelbſt ſich findet. In dieſem Sinne iſt es die dialektiſche Methode, welche Hegels Philoſophie beherrſcht und in der Phänomenologie zuerſt hervortritt.“! Dieſe Aufgabe des Belauſchens gilt es vornehmlich der Geſchichtsphiloſophie gegenüber anzuwenden. Unſere bisherige Analyſe berechtigt uns zu der Erwartung, daß wir es im Griechentum mit einer höheren Syntheſe, einer neuen Vers ſöhnung von Natur und Geiſt zu tun haben, einer Verſöhnung, auf die der Weltgeiſt mittels der orientaliſchen Welt hinarbeitet, ohne ſie innerhalb ihrer zu erreichen, einer Verſöhnung zugleich, die in ihrem Schoße einen neuen Zwieſpalt birgt, deſſen Hervortreten den Untergang des alten, deſſen abermalige Verſöhnung wiederum auf einer höheren Stufe der Selbſtreinigung und Selbſterfaſſung des Geiſtes die Aufgabe eines neuen welthiſtoriſchen Volkes bedeutet. Kronenberg a. a. O. S. 709. 4 m Die weed gtd der Kultur 95 Die erweiterte Geſtalt der neuen Ausgabe läßt uns hoffen, diefen * * U * dialektiſchen Gang der Weltgeſchichte in allen Feinheiten heraus⸗ wuarbeiten und in ihm den Orientierungopunkt für die Gruppierung des Stoffs zu gewinnen. — Mit dem Griechentum anhebend durchläuft nach Hegels ausdrück⸗ licher Erklarung von nun an jedes welthiſtoriſche Kulturvolk die gleiche Periodizität dreier Hauptepochen. Die erſte iſt die Periode des Anfangs bis zur inneren Vollendung, die Periode der „erſten Bildung“ und Ausbildung ſeiner Indivi⸗ dualität. Den äufßerlichen Einſchnitt bezeichnen die Perſerkriege, mit denen die zweite Periode des griechiſchen Volkes beginnt.? Die zweite Periode iſt die „des Sieges und des Glückes“, in der das in ſich erſtarkte Volk mit dem vorangegangenen welthiſtoriſchen Volke in Berührung tritt und durch den „Sieg nach außen“ zum hoͤchſten Gipfel ſeiner Sittlichkeit und Bildung, ſeiner Reife und ſeines Selbſtgenuſſes emporſteigt. „Hier iſt der Punkt des Sin⸗ kens.“ Mit dem Fortfall des äußeren Gegenſatzes, der alle Kräfte in Spannung hielt, tritt Zwietracht und Zerfall im Innern ein.“ Während die „ſchönſte Blüte des griechiſchen Lebens“ ungefähr nur ſechzig Jahre, von 492 bis 431 v. Chr., dauerte !, wird der kritiſche Höhepunkt, die letzte Reife der griechiſchen Kultur durch Alexander den Großen bezeichnet. Hegel nennt ſeine Zeit den „Gipfel des eigentlichen Griechentums“ und wiederholt: „Der höchſte Gipfel iſt der Anfang des Verderbens.““ | „Mit Alexanders Tode tritt die dritte Periode der griechiſchen Welt ein.“ s Sie umfaßt das Reich Alexanders, den Zuſtand unter feinen Nachfolgern und die Berührung mit dem nächſten welthiſtoriſchen Volke, dem Römertum, aus dem der höhere Geiſt hervorgeht.“ Die dritte Periode bedeutet für das griechiſche Volk den „Kampf sL, III, 330. 616 = B, 297. 344. [, III, 531 - B, 297f. , III, 6 B, 345. [, III, 529. 531. , III, 634. , III, 531 f. - B. 297. 2 186 Zweite Stufe: Die griechiſche Welt ſeines Ablebens“, den Verfall, das Abſterben der einſt lebendigen ſittlich⸗geiſtigen Einheit. | So ift die „griechiſche Welt nur eine vorübergehende Geſtalt, die in den Prozeß des Geiſtes fällt, durch den er ſich zum Selbſtbewußt⸗ fein bringt“.“ Jede vorübergehende Geſtalt des ſich zum Selbſt⸗ bewußtſein bringenden Geiſtes, d. h. jede Weltkultur, die in der Entwicklung des Geiſtes eine weſentliche Epoche ausmacht, iſt ges gliedert durch einen beſtimmten periodiſchen Ablauf ihrer ſelbſt. Gleichviel, ob es ſich hierbei um ein hiſtoriſches Geſetz oder eine ideelle Notwendigkeit handelt 10, Hegel hat, worauf im erſten Teil ſchon hingewieſen wurde, den Gedanken O. Spenglers vorweg⸗ genommen, daß jede Kultur Alters- und Reifeſtufen durchläuft, Kindheit, Jugend, Mannesalter und Greiſentum, Frühling, Som⸗ mer, Herbſt und Winter, erſte Bildung, Aufſtieg, Blütezeit und Verfall. 11 Denn, was Hegel offenbar meint, iſt die ſtrenge Auf: einanderfolge von kräftigem Wachstum (bis zu den Perſerkriegen), glücklicher Blüte (perikleiſches Zeitalter), voller Reife (Alexander der Große) und welkenden Abſterbens der Kulturſeele eines Volkes (innere Wirren und politiſcher Untergang). Hegel erklärt zwar, daß uns Griechenland den „heitern Anblick der Jugendfriſche des gei— ſtigen Lebens“ biete. 1? „Das griechiſche Leben iſt eine wahre Jüng⸗ lingstat. Achill, der poetiſche Jüngling, hat es eröffnet, und Alexan⸗ der der Große, der wirkliche Jüngling, hat es zu Ende geführt.“ 18 Aber er jagt das im Hinblick auf die ganze Geſchichte des Abend⸗ landes. „Der europäiſche Geiſt hat in Griechenland ſeine Jugend zugebracht, daher das Intereſſe des Gebildeten an allem Helle niſchen.“ Griechenland in ſich betrachtet zeigt kindlichen Anfang, jugendlichen Aufſtieg, männliche Reife und greiſenhaften Verfall. Demgegenüber könnte die Dreiteilung jener Periodizität als äußer⸗ ® L, III, 531. L, III, 530. % B, 580, Anmerkung 29. n Der Untergang des Abendlandes a. a. O. I, S. 153ff. * L, III, 529 = B, 296. 1 L, III, 529 = B, 297. Die Periodizität der Kultur 187 ja liche Aufäftigkeit erſcheinen und mit gleichem Recht einer Vierteilung platz machen. Aber gerade die Dreiteilung läßt erkennen, daß die ausſchlieſlich Biologische Betrachtungsweiſe Spenglers bei He gel nicht vorliegt, ſondern nur — allerdings underkennbar — an⸗ klingt. Sie gehort zu jenen Zweideutigkeiten Hegels, die bei dem unerfchöpflichen Reichtum feiner Ideen nicht ſelten find. Der dia⸗ lektiſche Gang des Geiſtes widerſtrebt einer reſtlos biologiſchen Umdeutung im Sinne Spenglers. Die erfte Periode zeigt das Ringen von Geiſt und Natur, indem der Geiſt der natürlichen Ele⸗ mente Herr wird und ſich in ſie hineinbildet. Darin zeigt er ſich gegenüber der orientaliſchen Welt als neuer und freier Geiſt. Es handelt ſich um die geographiſchen, ethnographiſchen und älteften politiſchen Elemente, um die Vorausſetzungen der Bildung, die An⸗ fänge der Kunſt, die Grundlagen der Religion, um das Kulturerbe der orientaliſchen Welt, an denen der griechiſche Geiſt ſich bildend zur Selbſtändigkeit erſtarkt. Die zweite Periode zeigt die volle Reife des griechiſchen Geiſtes in der nunmehr erreichten Verſöhnung (Syntheſe) von Geiſt und Natur, wie ſie ſich im griechiſchen Men⸗ ſchen, in der griechiſchen Religion und im griechiſchen Staate dar⸗ ſtellt. Hier iſt der Ort, wo die Eigenart des griechiſchen Geiftes und damit der griechiſchen Freiheit am deutlichſten zutage tritt, die her⸗ auszubilden die weltgeſchichtliche Beſtimmung des Griechentums ſein ſollte. Die dritte Periode, die des Verfalls und Untergangs, zeigt in dem aus der erreichten Identität hervortretenden und ſie zerſetzenden Widerſpruch das Aufſteigen eines neuen geiſtigen Prin⸗ zips, das innerhalb des Griechentums nicht mehr realiſierbar war und das Emporkommen eines neuen weltgeſchichtlichen Volkes an⸗ kündigt. So iſt die Dreiteilung der Kulturperioden kein Zufall, ſon⸗ dern trotz müheloſer Angleichung an biologiſche Analogien in der dialektiſchen Methode Hegels begründet. Zunächſt gilt es, den griechiſchen Volksgeiſt in ſeinen Ausſtrahlungen kennen zu lernen. 188 Zweite Stufe: Die griechische Welt 2. Die Herausbildung des griechiſchen Prinzips „Die Weltgeſchichte ſchreitet von Aſien nach Europa hinüber.“ 14 Hegel richtet fein Augenmerk zuerſt auf den Unterſchied der geogra⸗ phiſchen Verhältniſſe. Die ungeheure, maſſige, großartige, einförmige Natur Aſiens weicht einer vielfältig gegliederten, weſentlich auf das Meer bezogenen und in viele Partikelchen geteilten Lokalität mit einer großen Mannigfaltigkeit von Inſeln, Landzungen, Hügeln, Ebenen, Tälern und Flüſſen. Eine ſolche Landſchaft konnte kein ſo ſtarres, in ſich geſchloſſenes, gleichförmiges Volk „ausbrüten“, wie es der Nil und der Ganges erzeugten. Jene Verteiltheit und Vielfältigkeit der phyſiſchen Natur „entſpricht“ der mannigfachen Art griechiſcher Völkerſchaften und der Beweglichkeit des griechiſchen Geiſtes. 15 „Aus dieſer Beſchaffenheit des Naturelements,“ ſo fügt die neue Ausgabe zur Abwehr eines naheliegenden Mißverſtändniſſes hinzu, „muß man nicht, wie man ſagt, das Geiſtige erklären wollen; aber aufmerkſam muß man fein, daß es dem Geiſtigen entſpricht“. 16 Auf ſolchem Boden konnte ſich im Gegenſatz zur „ſubſtanziellen Gediegenheit“ und „patriarchaliſchen Einheit“ der orientaliſchen Welt ein neues geiſtiges Prinzip entfalten: „Der ſelbſtändigen In⸗ dividualität iſt Raum gelaſſen, und dies iſt der elementariſche Cha⸗ rakter des griechiſchen Geiſtes.“!7 Die Individualität des griechiſchen Geiſtes iſt nicht etwa ſchon von Haus aus fertig vorhanden. Sie iſt auch nicht, wie die Geiſtigkeit der orientaliſchen Reiche, entſtanden „durch die einfache Entwicklung einer zugrundeliegenden familien⸗ weiſen Freundſchaft, eines Geſchlechtes, das durch die Natur ſchon von Haus aus verbunden iſt“. 18 Seine Grundlage iſt keine „natür⸗ 14 L, III, 533. 1 L, III, 533 = B, 298f£ 0 1, III, 334; L, % 179: De Naturtypus der Lokalität hängt genau zuſammen mit dem Typus und Charakter des Volkes, das der „Sohn ſolchen Bodens“ iſt. Aber es iſt „kein Verhältnis der Abhängigkeit anzunehmen derart, daß der Charakter der Völker durch die Natur⸗ beſtimmtheit des Bodens erſt gebildet werde“. 7 L, III, 534. = B, 299. 18 A. a. O. 1 A * sa, r * 5 n ni . 4 a 3 9 * 7 N 9 0 N 3 3 * * a N : * r * 1 u 4 2 £ “ A Die Herausbildung des griechiſchen Prinzips 189 liche Nationalität“. 0 „Das griechiſche Volk iſt vornehmlich erſt zu dem, was es war, geworden.“ Es hat die „Fremdartigkeit“ hetero⸗ gener, roher, auch ungriechiſcher Elemente erſt überwinden, ſie um⸗ bilden und ſich aneignen müſſen, ehe es ſich in ſeinem eignen Weſen erfaßte. 20 „Das uns Intereſſierende des griechiſchen Geiſtes ft... aus der Vereinigung fremdartiger Veſtandteile hervorgegangen.“ 21 Der Kampf mit dem Seeräuberweſen, der Ausgleich von Ackerbau und Schiffahrt, von Land⸗ und Meerleben, die Gewinnung einer feſten Baſis im Lande, ohne ſich gegen die See abzuſchließen ““; die Wanderungen und Vermiſchungen vieler Stämme und Völker ſchaften und die damit verbundenen Unruhen und Unſicherheiten 28; die Einwanderung fremder Familien und Individuen, Kulturbringer und Staatengründer aſiatiſcher Herkunft, denen der Mythus eine dankbare Erinnerung bewahrt oder die der Urſprung der älteſten Königshäufer find 24; die „natürlichen, rein geiſtigen Gärungsſtoffe, die (durch die alten Hin⸗ und Herwanderungen erzeugt) bei der nach⸗ her eintretenden innerlichen Ruhe zur Bildung ausſchlagen muß⸗ ten“ 28; die Herkunft techniſcher Fertigkeiten, geiſtiger Anregungen und religiöfer Vorſtellungen aus Agypten, Kleinaſien, Kreta?«, — ſie konſtituieren in ihrer Geſamtheit jene „urſprüngliche Fremdartig⸗ keit“, aus deren Überwindung erſt der griechiſche Geiſt in ſeiner Lebendigkeit und Regſamkeit hervorgehen und die ihm eigentümliche Freiheit gewinnen Eonnte. 2? Die Vereinheitlichung des griechiſchen Geiſtes erfolgt nicht auf der Grundlage des naturhaften, durch Blutsbande geſicherten orientaliſchen Patriarchalismus, der es dem Menſchen erfpart, „ich ſelbſt erſt tüchtig zu machen“ 2s, fie erfolgt im „Medium“ des „Geſetzes“ und „durchgeiſtigter Sitte“. 29 Und, ſo wenig die Urſprünge des Griechentums von einer „natürlichen L, III, 537. L, III, 534 B, 299. ., III, 535. * L, III, 59f. - B, 3013 L, III, 554. ., III, 535. 537 ff. = B, 299f. ., III, Sf. 542 = B, 302f. L, III, 555. ., III, SSsaf.; L, III, 566. 589 f. B, 3iaf. 323f. * I, III, s34= B, 299. , III, 55s. I, III, s34 = B, 299. 190 Zweite Stufe: Die griechiſche Welt Nationalität“ hergeleitet werden können, ſo wenig hat es in ſeiner weiteren Entwicklung eine dauernde „politiſche Einheit“ zuwege ge⸗ bracht, weder durch das Unternehmen gegen Troja, noch durch die Perſerkriege noch durch Alexander den Großen. 39 „Worin die Gries chen ein einiges Volk geweſen ſind, das iſt ihre Bildung. Durch dieſe haben ſie ſich ſelbſt von den andern ausgeſchieden, denen ſie den Namen der Barbaren gaben.“ Im Mittelpunkt der griechiſchen Bildungseinheit ſtehen Kunſt und Wiſſenſchaft. An die Stelle der orientaliſch-patriarchaliſchen Einheit, wo das „Sittliche nur als natürliche maſſenhafte Identität ſchon von Haus aus vorhanden“ iſt, tritt die gewordene Einheit der „Geſellſchaft“ als das „Weſent⸗ liche, Hochgeachtete, demgemäß das Individuum ſich zu benehmen lernen mußte, weil es nicht von Hauſe aus darin war. Was zu ſolcher Lebensführung gehörte, erſchien daher als individuell, ſelb— ſtändig“ So hat die griechiſche Bildung an der vorgefundenen ur: ſprünglichen „Fremdartigkeit“ eine „gebildete Vorausſetzung“, an der das Volk ſich „hervorgebildet“, die es aber auch zu etwas Neuem umgeſchaffen hat. 31 Wenn Herodot ſagt, daß den Griechen Götter und Religionsvorſtellungen aus der Fremde, aus Kleinaſien und Agypten, gekommen ſeien, und dann wieder erklärt, Homer und Heſiod hätten den Griechen ihre Götter gegeben, ſo iſt dieſer Einzel⸗ fall typiſch für die Entſtehung der griechiſchen Bildung. Durch die Koloniſation von gebildeten Völkern, die den Griechen in der Bil— dung ſchon voraus waren, ſind die Griechen durchaus nicht Agypter oder Phönikier oder Kreter geworden. „Sondern die Griechen haben dieſe fremden Anklänge durch ihren eigentümlichen Geiſt zur Selb: ſtändigkeit neu- und heraufgebildet.“ Etwas Äußeres, Fremdes, Überkommenes wird angenommen. Aber es bleibt nicht, wie es iſt. Es wird durch den neu-ſchöpferiſchen Geiſt des Griechentums um⸗ geformt. In dieſer Umbildung einer empfangenen und urſprünglich 0 L, III, 549 ff. = B, 305f. 307. * , III, 534. 553 ff. 8 . Bildung liegt das Weſen der griechiſchen Bildung. 191 Ja, darin liegt das Weſen der Bildung überhaupt. Hegel ſieht in ihr als Geſtalt gewordenem Geiſt das Kontinuum der Welt⸗ geſchichte, die ohne dieſes in die abſolute Beziehungsloſigkeit auf⸗ einanderfolgender Kulturen auseinanderfallen würde. Die neue Aus⸗ gabe bringt den wichtigen Zuſatz: „Alle germaniſchen Volker ſind zu dem geworden, was ſie ſind, durch Einpfropfung einer Nation in die andere und die Aufnahme der heterogenſten Bildungselemente; Wiſſenſchaft und Kunſt iſt ihnen aus Griechenland und Rom, und ihre Religion iſt ihnen aus dem fremdartigen Boden Aſiens zuge⸗ kommen. Dies ift notwendig als Ausgangspunkt für die Völker, die als geiſtige Nationen der Betrachtung der Weltgeſchichte wert ſind, auf welthiſtoriſche Bedeutung Anſpruch machen. Jedes welt⸗ hiſtoriſche Volk außer den aſiatiſchen Reichen, die außer dem Zus ſammenhang der Weltgeſchichte ſtehen, hat ſich auf dieſe Weiſe gebildet.“ 33 Wir können den Ertrag der erſten Periode des griechiſchen Volkes zuſammenfaſſen. „In die Periode Griechenlands, während deren im ganzen Dunkel herrſcht, weil da wenig der Geſchichte Würdiges ge⸗ ſchehen iſt, fällt das Aufkeimen, die Entwicklung und Selbſtbeſtim⸗ mung des griechiſchen Geiſtes, der als ein gebildeter hervortritt, als einer, der eine feſte Geſtalt gewonnen hat. Am Ende dieſes Zeit⸗ raumes der iſolierten innerlichen Entwicklung der beſonderen Teile des Landes und Volkes erſcheint der eigentümliche griechiſche Geiſt in ſeiner beſtimmten Geſtalt.“ Wir verdanken nun der neuen Ausgabe die ſcharfe Faſſung des Ge⸗ dankens, der die erſte und grundlegende Entwicklungsperiode des griechiſchen Geiſtes mit hellſtem Lichte überſtrahlt. Hegel betont, daß es eine „oberflächliche Vorſtellung“ ſei, die geiſtige Entwicklung mit einem „natürlichen“ Gut⸗ und Fertigſein beginnen zu laſſen. I., III, s66f. = B, 3iaf.; L, III, 541. , III, 536. — Vgl. auch: L, I, 123 B, 87; L, IV, 258 f. 762 B, 435f. >] n 1 192 Zweite Stufe: Die griechifche Welt „Der frei werden wollende Geift muß erſt überwunden haben; in den Anfängen liegt etwas Widerſtrebendes mit ſich ſelbſt, der Kampf mit der elementariſchen Natur. Der wahrhafte Gegenſatz, den der Geiſt haben kann, iſt geiſtig; es iſt ſeine Fremdartigkeit in ſich ſelbſt, durch welche er allein die Kraft gewinnt, als Geiſt zu ſein.“ 34 Es iſt die Dialektik der Geiſt-Natur, die bei Hegel hier wies der mit aller Stärke hervorbricht und zu einer glänzenden Formu⸗ lierung gelangt. Der Geiſt trägt einen Zwieſpalt und Gegenſatz, eine Fremdartigkeit in ſich ſelbſt. Seine eigene „elementariſche Na⸗ tur“ iſt das Widerſtrebende, das er bekämpfen und überwinden muß, um die Kraft freier Geiſtigkeit zu gewinnen. Seine elemen⸗ tariſche Natur iſt ſelbſt geiſtiger Art, aber eine Geiſtigkeit niederer Ordnung und geringeren Wertes. Durch dieſen dem Geiſt imma⸗ nenten Zwieſpalt und deſſen Überwindung läutert der Geiſt ſich ſelbſt zu höherer und kraftvollerer Geiſtigkeit empor. „Es iſt ein Bewußtſein, ein Geiſt, der ſich ſtufenweiſe zu ſich ſelbſt entwickelt, derart, daß er aus der Entzweiung zu einer höheren Einheit und wiederum zur Entzweiung uff., mit einem Worte alſo „dialektiſch' durch die Momente feiner Entfaltung hindurchſchreitet.“ 39 Dieſe Dialektik des Geiſtes iſt ja auch der philoſophiſche Grundgedanke von Hegels orientaliſcher Welt, die mit Agypten zum offenen Ausbruch der Zwieſpältigkeit des urſprünglich ganz in die Natur verſenkten 2 L, III, 535; der letzte Satz auch B, 299. — Vgl. L, III, 592: „Der Geiſt muß ſterben, um in ſich zu erſtehen. Der natürliche Geiſt befreit ſich von ſeiner Natür⸗ lichkeit und iſt dann freier Geiſt; (er muß zweimal geboren werden, d. h. ſich in ſich ſelbſt negieren).“ Der „natürliche Geiſt“ iſt der zum erſtenmal geborene. Indem er ſich in ſich ſelbſt negiert, d. h. ſich von ſeiner Natürlichkeit befreit, wird er als „freier Geiſt“ zum zweitenmal geboren. Die eingeklammerten Worte auch B, 325. Ferner L, III, 576 f.: „Das Geiſtige ift das Freie; die Affirmation des Geiftes iſt die ſelbſtbedingte Tätigkeit: der Geiſt iſt das Hervorbringen ſeiner ſelbſt. Dieſe Affirmation iſt nur durch die Beziehung auf die Natur; der Geiſt ſetzt ſich voraus, und durch die Negation des Natürlichen iſt er frei. Die Beſtimmung des Geiſtigen beſteht alſo einmal in dem Natürlichen und das andere Mal in der Zurückſetzung, in der Unterordnung des Natürlichen.“ 3s Kronenberg a. a. O. S. 710. Dis Herausbildung des griedifhen Prinzips 193 und mit ihr in unmittelbarer Identität befindlichen Geiſtes gelangt, wobei unter Natur auch, aber nicht bloß die phyſiſche Natur, viel⸗ mehr ebenſo und recht eigentlich die „elementariſche Natur“ des Geiſtes ſelbſt zu verſtehen iſt.““ So hat es auch der griechiſche Geiſt nicht bloß mit der phyſiſchen Natur, mit Land und Meer zu tun, die er ſeinen Zwecken gefügig macht, nicht bloß mit der natürlichen Körperlichkeit des Menſchen und der rohen Stofflichkeit des Mar⸗ mors, die er durch Spiel und Schmuck und Kunſt in hohem Grade zu einem Organ des Geiſtes bildet. Er hat in ſeiner erſten Entwick⸗ lungsperiode die „elementariſche Natur“ einer überlieferten Bildung und Geiſtigkeit durch harten Kampf überwunden, ſie damit auf⸗ gehoben, aber auch aufbewahrt, in dem er ſie zu einem Moment ſeiner eigenen nunmehr ſpezifiſch griechiſchen Bildung herabſetzte. Mit einem Worte: in ſeinen Anfängen rekapituliert der griechiſche Geiſt die Dialektik der orientaliſchen Welt und ſetzt ſie fort, indem er es zu der Syntheſe bringt, an der Agypten ſcheitert. Auf den Widerſpruch folgt die Verſöhnung. Der Fortſchritt des griechiſchen über den ägyptiſchen Geiſt iſt dieſer: „Der griechiſche arbeitende Künſtler iſt nicht ein Kämpfer mit dem Natürlichen wie der ägyptiſche. Auch der ägyptiſche Geiſt war dieſer Arbeiter im Stoff, aber das Natürliche war dem Gei⸗ ſtigen noch nicht unterworfen; es blieb beim Ringen und Kämpfen mit ihm; das Natürliche blieb noch für ſich und eine Seite des Gebildes, wie im Leibe der Sphinx. Im griechiſchen Geiſte iſt das Natürliche innerlich ſeinem Gegenſatze unterworfen; es iſt nicht als eine Seite des Gegenſatzes ſtehen gelaſſen worden, ſondern es iſt zum Zeichen herabgeſetzt, eine Hülle, in die der Geiſt nicht einge⸗ ſchloſſen iſt; es iſt geblieben aber als Hülle, worin der Geiſt, das ”L, I, 179: „Der Menſch, inſofern er unfrei und natürlich iſt, heißt er ſinnlich, — das Sinnliche teilt ſich in zwei Seiten, die ſubjektive und die äußerliche Natür⸗ lichkeit; dieſe iſt die geographiſche Seite, die * nächſten Vorſtellung nach der äußern Natur überhaupt angehört.“ bee ſe, Geſchichtophiloſophle Hegels 13 194 Zweite Stufe. Die griechiſche Welt Sittliche, ſich manifeſtiert. In Anſehung dieſer Beſtimmung iſt hervorzuheben, daß der griechiſche Geiſt, dieſer umbildende Künſtler, in feinen Bildungen ſich ſelbſt frei weiß.“ ?? Hegel hat das Weſen des . Griechentums, die neue Verſöhnung von Geiſt und Natur, auf die erleuchtende Formel gebracht: „Die konkrete Lebensfriſche des (griechiſchen) Geiſtes tritt in der ſinnlichen Gegenwart auf als der verkörperte Geiſt und die vergeiſtigte Sinnlichkeit — in einer Einheit, die aus dem Geiſte hervorgebracht iſt, ... die auch bei den Aſiaten iſt, aber jetzt ſich nicht mehr unmittelbar, ſondern als aus dem Geiſte hervorgegangen darſtellt. Es iſt alſo die finnlichegeiftige Anſchauung der Orientalen, aber aus der Individualität, aus dem Geiſte erzeugt.“ 38 An die Stelle der unmittelbaren Einheit von Geiſt und Natur, wo der Geiſt in die Natur verſenkt und unfrei iſt, tritt die durch den Widerſpruch vermittelte Einheit von Geiſt und Natur, wo der Geiſt, als individueller und freier, ſich verkörpert, indem er den natürlichen Stoff vergeiſtigt. „Den griechiſchen Geiſt können wir den plaſtiſchen Künſtler nennen, der das Natürliche zum Aus⸗ druck des Geiſtigen umkehrt, der ein Bild aus Stein geſtaltet und nicht den Stein als Stein, den Geiſt aber als etwas Heterogenes läßt, ſondern dem Steine den Geiſt einhaucht und den Geiſt im Steine darſtellt . . . Es iſt gegen die Natur des Steins, zum Aus⸗ druck des Geiſtigen gemacht zu werden, und ſo iſt er umgebildet; das Natürliche bleibt nicht als Natürliches. Der Künſtler bedarf für ſeine geiſtige Konzeption der ſinnlichen, körperlichen Form; ohne ſolches Element kann er ſeiner nicht bewußt werden, die Idee weder erfaſſen noch andern gegenſtändlich machen. Seine Konzeption kann ihm noch nicht im Geiſte werden als Gegenſtand des reinen Ger dankens, ſondern das Organ, ſeiner ſich bewußt zu werden und andern ſich vorſtellig zu machen iſt das ſinnliche Element.“ 99 * L, III, 522 = B, 315.7 I, III, 528 f. „ , 315. 195 3. Die Phaſe der Identität 1 Damit rückt für das Verftändnis des griechiſchen Geiſtes, deſſen volle Reife den Inhalt der zweiten Periode ausmacht, der Begriff des Schonen in den Mittelpunkt der Betrachtung. „In der Einheit des Sinnlichen mit dem an und für ſich Geiſtigen beſteht das Schone.“ 40 Dieſe Einheit iſt die Mitte, in der die beiden Extreme des Geiſtigen und Sinnlichen zuſammenfallen. Der grie⸗ pciſche Geiſt iſt daher ähnlich wie der ägyptiſche der Geiſt der Mitte“, inſofern er nicht mehr, wie der orientaliſche, verſenkt iſt 1 in die Natur und andrerſeits noch nicht wie der des (vom Stand⸗ punkt idealiſtiſcher Philoſophie aus verſtandenen) Chriſtentums rein in ſich ſelber ſchwingt. “! „Der Geiſt hat noch nicht ſich ſelber zum Organ; ſeine Tätigkeit hat das Material und das Organ der Außerung noch nicht an ihm ſelbſt. Um ſich zu äußern, bedarf er der natürlichen Anregung, des natürlichen Stoffes; ſo iſt die grie⸗ chiſche Subjektivität nicht freie, ſich ſelbſt beſtimmende Geiſtigkeit, ſondern zur Geiſtigkeit umgebildete Natürlichkeit, eben das, was wir als jchöne Individualität bezeichnen.“ !“? „Der griechiſche Geiſt iſt freie, ſchöne Individualität.“ !) Der Begriff der ſchönen In⸗ dividualität iſt die kürzeſte Formel, auf die Hegel das Grie⸗ chentum bringt. Ihre Erſcheinungsformen find der griechiſche Menſch als ſubjektives, die griechiſche Religion als objektives und der grie⸗ giſche Staat als ſubjektiv⸗objektives Kunſtwerk. Die Individualität des griechiſchen Menſchen iſt der „unendliche Trieb der Individuen“, „ſich zu zeigen, zu bekunden, was jeder aus ſſich machen kann und dann durch das, was er dadurch bei den andern gilt, ſich zu genießen“. Die agonale Tätigkeit iſt die „Hauptbeſtim⸗ % L, II, 575; L, III, 6 = B, 329: „In der Schönheit als ſolcher iſt noch das Naturelement; fie drückt das Göttliche im Sinnlichen aus“; L, III, 639 = B, 344: Das Schöne = „die Idee nur in ſinnlicher Anſchauung oder Vorftellung”. * III, svof. - B, 314. ., III, 571 =B, 314f. ®L, III, 570. 13* 196 Zweite Stufe: Die griechifche Welt mung und das Hauptgeſchäft“ der Griechen. ““ Ihr erſtes Intereſſe iſt, durch die Energie des Willens die unmittelbare Körperlichkeit fo zu verarbeiten, daß fie „jetzt geſchickt iſt, den Willen, das Geis ſtige auszudrücken und darzuſtellen; und ſo iſt es, daß der Menſch ſich ſelbſt als Kunſtwerk darſtellt“. 45 Die Griechen haben ſich ſelbſt erſt zur ſchönen Geſtalt ausgebildet, ehe ſie die Bildniſſe der Götter ſchufen. „Ihre erſten eigentümlichen Kunſtwerke ſind Menſchen, die ihren Körper zur Schönheit, Geſchicklichkeit ausgebildet haben.“ 46 „Die erſte Form, in der die ſchöne Individualität ſich geſtaltet, iſt demgemäß die unmittelbare Menſchlichkeit, das ſubjektive Kunſtwerk oder das Kunſtwerk, zu dem der Menſch ſich ſelber macht.“ 7 Das iſt der Sinn ihrer Wettkämpfe und Spiele, in denen ſie ſich einen Vereinigungspunkt ideeller Art geſchaffen haben. Das ſubjektive Kunſtwerk zeigt ſchon die dem griechiſchen Geiſte eigentümliche „Mitte“. Das Spiel iſt dem Ernſt entgegengeſetzt, inſofern es nicht aus Bedürfnis, Not und Abhängigkeit erwachſen iſt. Die griechiſchen Wettkämpfe ſind aus keinem Kampf ums Daſein hervorgegangen. Ihre Grundlage iſt nicht der Ernſt der Natur. In ihnen äußert ſich aber auch nicht der „Ernſt des Gedankens“. Der den griechiſchen Spielen eigentümliche Ernſt iſt ein Ernſt der Mitte. Er beſchränkt ſich darauf, „die Freiheit des Menſchen zu zeigen in ſeiner Körper: lichkeit und über ſie als über etwas, das von ihm hervorgebracht, bearbeitet, umgebildet worden iſt“. Er iſt ein Ernſt der Ehre und des Genuſſes. “8 — Die zweite Form der ſchönen Individualität iſt die griechiſche Re— ligion, das objektive Kunſtwerk. Die Grundlage der Religion iſt auch hier ein vom orientaliſchen abs weichendes Verhältnis zur Natur, wenn wir von dem „rohen An⸗ fang“ der griechiſchen Religion, den geheimnisvollen Myſterien, ab⸗ ſehen, die „gottesdienſtliche Darſtellungen aus der Naturreligion“ 4% L, III, 558 f. B, 317f. s , III, 557, L, III, 56 — . 318. „J, III 573. L, III, 557. 573f. B, 318. er K 1 4 Aue] * N vg 2 ar gr.) 14 1 N a m 1 > AO 3 » * * 2 1 er * n r * u E a J 4 is * 1 z Die Phaſe der Identitat 197 „ „ 4 4 * * entfalten haben. + Nicht die Natur als „Maſſe“, ſondern die Natur in ihrer „Vereinzelung“ liegt der griechiſchen Mythologie zugrunde. - Ihr Verhaltnis zur Natur iſt „nicht Verſenktſein, Leben in der ums mittelbaren Naturmacht und ihren Gewalten“, ſondern geiſtig ver⸗ mittelt, indem ſich das dumpfe Ahnen und Verwundern des Griechen durch geiſtige Naturdeutung zu beſtimmten gegenſtaͤndlichen Vor⸗ ſtellungen abklärt. Das Natürliche als ſolches verhält ſich nur „an⸗ regend“. Es iſt das Zufällige, Uneigentliche, Nicht⸗Weſentliche. Was an der Natur das Weſentliche und Wirkliche iſt, iſt durch den Geiſt hindurchgegangen und durch ihn vermittelt. Das Unbeſtimmte und lediglich Anregende der Natur erhält ſeinen Sinn vom Subjekt aus. Der Schauer des Waldes, das Murmeln der Quelle, das Säufeln der Blätter, das Klingen der metallenen Becken, die unartikulierten Töne der Pythia find anregende Naturmomente. Pan, die Najade, die Nymphe, die Deutung des Orakels, der Muſen unſterbliche Ge⸗ ſänge find die „Produktionen des ſinnig lauſchenden Geiſtes, der in feinem Hinaushorchen ſich ſelbſt produziert“. 0 Sie find der „Geiſt des Subjekts ſelbſt als etwas Objektives vorgeſtellt“. 51 Das gilt nun ebenſo von den reifſten Hervorbringungen der griechi⸗ ſchen Religion, von ihren Götter n. In feinen Göttern verehrt der Grieche die „idealiſierte Menſchheit“. Denn das Menſchliche und Innere, nicht das Natürliche und Außere galt ihm als das Weſent⸗ liche. „Gott iſt das Weſen des Menſchen.“ 2 Der Menſch hatte aber, wie wir ſahen, in ſeinen Augen Ehre und Würde nur, „inſofern er ſich zur ſchönen Geſtalt hervorgehoben, zur Freiheit der ſchönen Er⸗ ſcheinung herausgearbeitet hat“. 53 So iſt die griechifche Religion eine „Religion der Kunſt“. Und der Charakter der Gottheit iſt das „rein Schöne“. 4 „Wir finden alſo in der Religion der Griechen denſelben Geiſt, den wir in ihrer Subjektivität bereits betrachtet haben . .. Als dieſen inneren Geiſt haben wir bei den Griechen den I., III, 568; L, IH, sor ff. - B, 324f. , III, 558 ff. - B, 308 ff. T, III, 562. ®L, III, 575. ®L, III, 357 = B, 326. L, III, 575f. 198 Zweite Stufe: Die griechiſche Welt Geiſt erkannt, der aus der Natur zu ſeiner Freiheit kommt. Die Hellenen haben zuerſt die Naturmacht in ein Geiſtiges umgewan⸗ delt, ſo daß dieſe Macht nur noch als Anklang bleibt, der weſent⸗ liche Inhalt aber im Geiſtigen iſt. Der Geiſt der Griechen enthält alſo wohl Naturelemente, aber nur als einen Anfang, welcher dann in geiſtigen Inhalt umgewandelt wird; das Naturelement iſt noch Anklang in dem geiſtigen Inhalt, aber der weſentliche Inhalt iſt eben die Vorſtellung, der geiſtige Inhalt. Der Grieche hat Gott als Geiſt, oder den Geiſt, nicht eine Naturmacht, als Gott verehrt.“ Nun zeigt ſich auch von ſeiten der Religion der griechiſche Geiſt als Geiſt der Mitte. Der „wahrhafte ſubſtanzielle Inhalt“ der griechiſchen Phan⸗ taſiegötter iſt nicht wie der der indiſchen eine „Naturmacht“ mit anthropomorphen Zutaten.“? „Die Naturgötter kommen aus Aſien, die Phantaſiegötter wurden als geiſtige Weſen in Griechenland ge— ſchaffen.“ s Der Gott der Griechen iſt aber auch „noch nicht der abſolute freie Geiſt“. 57 Er iſt noch nicht der Gott, der im „Ele⸗ mente des Gedankens“ geſetzt und der im reinen Geiſt als „Un⸗ ſinnliches“ verehrt werden kann. „Das griechiſche Prinzip iſt noch nicht zur Welt des Gedankens ausgebildet. Die höhere unſinnliche Welt ſteht noch nicht über der ſinnlichen.“ „Für die Griechen iſt Gott, das Abſolute, nicht in dem Gedanken, ſondern in der kon⸗ kreten Form gegenwärtig.“ Das heißt, er erſcheint in untrennbarer Verbundenheit „mit dem Menſchlich-Natürlichen und mit der äußer⸗ lichen Natürlichkeit“. Ds Die in Marmor, Metall oder Holz künſt⸗ leriſch verklärte Beſonderheit der menſchlichen Geſtalt iſt der geiſtig⸗ ſinnliche Ausdruck des griechiſchen Gottes.“? „Phidias hat den Grie⸗ chen den olympiſchen Zeus gebildet, und als ſie ihn ſahen, ſagten ſie: Das iſt der olympiſche Zeus. Das Geiſtige iſt ſo Subjekt, das ihnen an einem anſchaulichen Bilde klar werden konnte.“ 60 Die „Herabſetzung des Natürlichen“, der „Übergang der Herrſchaft der 3 L, III, 581f. - B, 320, L, III, 591. G. , III, 582 B; 0 3 „ III, 576. L, III, 57 B, 326, „ 3. N E 3 1 73 F PR = Die Phafe der Identität 199 1 ik Na u nachte zu der Herrſchaft der geiſtigen Mächte, des Orients um Okzident“, iſt der Sinn des Mythus vom Götterfrieg und Göttern klingt das Naturelement nur an, bei Zeus die natürliche Macht, bei Poſeidon die Wildheit des Meeres, bei Apollo das Natur⸗ element des Lichtes. In ihrem eigentlichen Weſen ſind aber die olympiſchen Götter weder Perſonifikationen von Naturmächten noch Abſtraktionen, noch Allegorien, noch Symbole, ſondern geiſtig⸗ ſittliche Individualitäten. „Ein Apollokopf, der bildhaueriſch dar⸗ ſtellt, wie die Dichter den Apoll ſchildern, iſt kein Symbol, ſondern er iſt ſelbſt Darſtellung des geiſtigen Charakters, der Ausdruck, das Außerliche, worin ſich das Geiſtige manifeftiert; er iſt ganz dem Geiſtigen angemeſſen, ſo daß nur dies, die ewige Ruhe und ſinnende Klarheit, darin enthalten, gegenwärtig iſt.“ “1! Die neue Ausgabe bringt die zuletzt entſcheidenden Sätze: „Der Gott der Griechen iſt nicht die Naturmacht, ſondern allein das Geiſtige, ver— bunden mit dem Natürlichen, das aber, wie geſagt, als ein Unter⸗ geordnetes herabgeſetzt iſt, nur den Ausgangspunkt bildet ... Dieſe Mitte haben die Griechen ... verehrt, den bedingten Geiſt, der noch nicht für ſich ſelber als Geiſt iſt, ſondern der dies iſt, ſich noch auf ſinnliche Weiſe zu manifeſtieren, ſo aber, daß dieſe nur das Element feiner Manifeftation, nicht fein Gehalt, feine Subſtanz it.“ er „Dies iſt die notwendige Form, der wahre Standpunkt, auf welchen der Geiſt, der aus dem Orientaliſchen herkommt, ſich ſtellt.“ 63 | Deutlicher läßt es fich kaum beweiſen, wie fundamental die Dialektik der Geiſt⸗Natur für Hegels Geſchichtsphiloſophie iſt, als an der tief 1 L, III, 583 ff. 580 f. 588 f. = B, 321 ff. Die Erörterung des Verhältniſſes von Griechentum und Chriſtentum, die in der neuen Ausgabe bedeutend erweitert iſt, bleibt dem Abſchnitt über das letztere vorbehalten. L, III, 582; L, III, 589: „Die Griechen haben zwar Gott als Geiſt verehrt, aber noch nicht als freien, abſoluten Geiſt gewußt, ſondern als Geiſt, der aus der Natur herkommt, mit dem Natürlichen behaftet iſt und deswegen die Beſtimmung der Beſonderheit an ihm hat.“ , III, 582. 200 Zweite Stufe: Die griechiſche Welt bohrenden Energie, mit der er — er beginnt die Erörterung der griechiſchen Religion mit dem bedeutſamen Satze: „Der religiöſe Inhalt iſt der Hauptinhalt des Geiſtes“ 4 — immer im Hinblick auf das „Nicht mehr“ und „Noch nicht“ das griechiſche Prinzip als Mitte des „bedingten Geiſtes“ deduziert. — Die dritte Form der ſchönen Individualität iſt der griechiſche Staat, das ſubjektiv⸗objektive Kunſtwerk. In ihm ſind die beiden bisher betrachteten Seiten des ſubjektiven und objektiven Kunſtwerkes zu einer Einheit verbunden, in der das Allgemeine nur in dem Beſon⸗ deren und das Beſondere nur in dem Allgemeinen ſeinen Beſtand hat. „In dem Staat iſt der Geiſt nicht nur Gegenſtand als gött⸗ licher, nicht nur zur ſchönen Körperlichkeit ſubjektiv ausgebildet, ſondern es iſt lebendiger allgemeiner Geiſt, der zugleich der ſelbſt— bewußte Geiſt der einzelnen Individuen iſt.“ 2 In den patriarcha⸗ liſchen Staatsweſen des Orients ſtehen ſich die ſittliche Subſtanz des Staates und das Subjekt ſo gegenüber, daß das Subjekt von dem einen Deſpoten, in dem ſich die ſittliche Subſtanz des Staates kon⸗ zentriert, gänzlich daniedergehalten oder, wenn es freigelaſſen wird, der Willkür und Sittenloſigkeit anheimfällt. Dieſen Kontraſt der orientaliſchen Welt bringt die griechiſche zur „Harmonie“. „Das Sittliche erſcheint als Staat, in dem das Allgemeine ſeine Exiſtenz hat. Dieſe ſteht zwar auch dem Individuum gegenüber, aber der Zweck des Individuums iſt ſelbſt dieſes Weſen. Dieſes iſt ſein eigenes Intereſſe, in ihm hat es die ſelbſtbewußte Freiheit, zu der gehört, daß es das verehrt, dem es gehorcht, und daß es ſelbſt eigenen Willen hat, der aber keinen anderen Inhalt hat als eben das Objektive, den Staat.“ 6s Knechtſchaft und Willkür werden zu freiem Gehorſam verjöhnt. 67 Und es iſt hier der Ort, den Begriff der griechi- ſchen Frei heit zu entwickeln. Iſt das griechiſche Prinzip, wie wir ſahen, als Mitte des bedingten Geiſtes zu beſtimmen, ſo kann auch die griechiſche Freiheit nur eine % L, III, 575. L, III, 599 B, 328, 6 L, III, 527 f. 9° Vgl. oben S. 149 ff. a, — 4 * * re 6 > ne rs 2a * 8 f * f r 7 L 4% 3 er er . f N 3 x ws en 4 ı a id. J — Die Phaſe det Identitat 201 * * 1 * rk wi 2 1 Freiheit der Mitte und nur eine bedingte fein. Bedingt iſt fie dadurch, daß ſie in weſentlicher Beziehung zu einer „Naturerregung“ ſteht. Frei iſt fie dadurch, daß fie die „Naturgaben“ zu Gefäßen des Geiſtes verändert, umbildet und damit produktiv nach außen wirkt.“ Frei iſt der griechiſche Geiſt, indem er ſich „freizumachen“ weiß. „Er iſt es nicht durch die Natur; denn dieſe muß er erſt umbilden, fie ſich aneignen und zu feinen Zwecken bearbeiten.“ Als „Mitte“ endlich ſteht ſie zwiſchen zwei Extremen, zwiſchen der „Selbſtloſig⸗ keit“, d. h. Naturverſunkenheit des aſiatiſchen Menſchen, deſſen natürliche Geiſtigkeit „nur an ſich frei“, aktuell ſchlechthin unfrei iſt, und der unbedingten Freiheit der „unendlichen Subjektivität“, die als Prinzip der abſoluten Selbſtbeſtimmung alle Anregungen, deren ſie bedarf, nur aus ſich ſelber nimmt. 70 „Was abſolut frei iſt, iſt nicht bedingt, hat um zu fein, nicht eines anderen erforderlich.“ 71 Zur Freiheit der unendlichen Subjektivität gehört die Beſtim⸗ mung des Gewiſſens, das darüber entſcheidet, was ſittlich und recht, was gut und böfe iſt, und dasjenige nicht anerkennt, was ſich für die eigene Einſicht nicht rechtfertigen läßt; gehört die auch gegen den Gemeingeiſt ſich gelten machen dürfende Beſonderheit der In⸗ tereſſen, Meinungen und Leidenſchaften; gehört die Innerlichkeit einer ſelbſtändig begründeten Überzeugung; gehört die auflöfende Reflexion, die alles Überkommene und Beſtehende der autoritativen Umhüllung entkleidet und vor das Forum des kritiſchen Denkens ſtellt.7? Am aſiatiſchen Geiſt gemeſſen iſt der griechiſche Geiſt frei, an dem der abſoluten Subjektivität gemeſſen, iſt er in „Beſchrän⸗ kung und Unfreiheit“, weil er die letzte Beſtimmung für das Han⸗ deln aus andern Quellen als aus ſich ſelber ſchöpft. Über den Göt⸗ tern ſchwebt nämlich das „Fatum“, jene abſtrakte, alles geiſtigen und ſittlichen Inhalts bare Einheit, die über alle Beſonderheiten % L, III, 566. 570 - B, 314; L, III, 628. », III, 330. L, III, 567. 570. s72=B, 314f. , III, 566. L, III, 599 ff. enthält darüber die meiſten und wichtigſten Zuſätze der neuen Ausgabe. 202 Zweite Stufe: Die griechiſche Welt des göttlichen und menſchlichen Lebens die Trauer einer tiefen Rat⸗ loſigkeit verbreitet. Und über dem „Ich will“ der abſoluten Selbſt⸗ beſtimmung ſteht das Orakel, das angibt, „was für das Indivi⸗ duum wie für den Staat zu tun ſei“. „Menſchliche wie göttliche Subjektivität nimmt noch nicht, als unendliche, die abſolute Ent⸗ ſcheidung aus ſich ſelbſt.“ „Auf dieſe Weiſe erklärt ſich die Er⸗ ſcheinung, daß dies unendlich freie, geiſtige und geiſtreiche Volk dennoch ſolch einem Aberglauben Raum gegeben hat.“ 73 Als Freiheit der Mitte iſt die griechiſche Freiheit „ſchöne Freiheit“. In ihr enthüllt ſich das Weſen des griechiſchen Staates, der „ſchö⸗ nen Verfaſſung“. Die Schönheit drückt das Göttliche im Sinnlichen, das Geiſtige im Natürlichen aus. Es muß alſo im griechiſchen Staat etwas ſein, was beiden Seiten entſpricht. In ihm, ſagt Hegel, iſt das „Gute, das Rechte als Sitte und Gewohnheit nach der Weiſe der Natur, nach der Weiſe einer Notwendigkeit“. 74 Der Standpunkt der alle Entſcheidungen aus ſich ſelber nehmenden, kritiſch bejahenden oder verneinenden „Moralität“ iſt ja vom grie⸗ chiſchen Geiſt noch nicht erreicht. Er befindet ſich auf dem Stand- punkt der vorkritiſchen, unreflektierten „Sittlichkeit“. Dieſer Stand⸗ punkt iſt der der objektiv daſeienden, alle Individuen widerſpruchs⸗ los bindenden und ſie verpflichtenden Sitte. „Der Wille iſt noch nicht zu der Innerlichkeit des Fürſichſeins gekommen; er iſt zwar nicht mehr von Hauſe aus gebunden, ſteckt nicht mehr wie im Orient in der Natürlichkeit, aber die Geſetze gelten, weil ſie da ſind als Geſetze des Vaterlandes. Ich gehorche ihnen nicht, weil ich mich davon überzeuge, daß ſie gut ſind; ſondern es iſt einfache Sitte, nach der ich lebe, die keinen anderen Grund zuläßt, und die ich, weil fie Sitte iſt, als gut hinnehme.“ ?? Dem geiſtigen Moment der Schönheit entſpricht das Individuum, der Staatsbürger, in dem 78 L, III, 565; L, III, 595f.= B, 323; L, III, 596ff.; L, III, 508 = B, 327. 74 L, III, 601 B, 329. Sperrung vom Verf. * L, III, 601; L, I, 239f. B, 157f. a A A Die Phaſe der Identität 203 ; 2 ö u 0 den ſich das allgemeine Intereſſe des Staates realiſiert und deſſen Subjektivität in „unmittelbarer Identitat“ mit dem 2 Staatswillen ift. “s Der Geift des Gemeimweſens — in der Weife der i 1 Naturnotwendigkeit vorhanden — iſt der Geiſt der Subjekte, die von ihm durchdrungen ſind und die ihn wiederum produzieren. „Die Polis, die Athene, iſt dieſer Volksgeiſt; wirklich iſt ſie als dies Athen, der Geiſt der ſelbſtbewußten, als einzelne äußerlich vorhan⸗ denen Individuen.“ 77 Die neue Ausgabe bietet uns auch hier in licht⸗ vollſter Weiſe die alle genannten Momente zuſammenfaſſende De⸗ finition der ſchoͤnen Freiheit und damit des griechiſchen Gemein⸗ weſens: „Was nun ſchöne Freiheit iſt, darauf kommt alles an. Angegeben iſt, wie das Politiſche das Durchdringen des objektiven Geiſtes durch das ſubjektive Wollen, die Intelligenz, zeigt, und die Form, die Art und Weiſe dieſer Vereinigung macht die Beſtimmung der Freiheit aus. Nach dem Prinzip der Schönheit, das wir auf⸗ geſtellt haben, iſt eben das Subſtanzielle, Sittliche, — und zwar die höchſte Form desſelben, das Prinzip des Staates, die politiſche Einheit, — identiſch mit der Subjektivität des Willens, Wiſſens, Dafürhaltens. Die Geſetze ſind die Maximen der Bürger, deren Hoͤchſtes iſt, für die Geſetze zu leben; es iſt dies das Subſtanzielle ihres Glücks, Ehre, Bewußtſeins überhaupt. Die ſittliche Subſtanz iſt der innere Geiſt als Sitte, eine gemeinſame Weiſe der In⸗ dividuen; aber dieſer innere Geiſt muß auch als Objekt für die Individuen ſein, und dies iſt das Vaterland, der Staat. Ihm gegen⸗ über beherrſcht die Bürger einerſeits die Einmütigkeit, die Liebe zum Vaterlande, für deſſen Intereſſen, ihre Durchſetzung ſelbſt zu ſterben; anderſeits haben ſie die Freiheit, über die Angelegenheiten des Staates zu beratſchlagen, die Individuen zu wählen, zu denen ſie Zutrauen haben, daß ſie dieſe Angelegenheiten am beſten aus⸗ führen werden. Solche ſubjektive Einzelheit iſt bei der Außerlichkeit notwendig; dieſe Einzelheit wird von den Bürgern gewählt und was 7% L, III, 603. * L, III, 399. — 204 Zweite Stufe: Die griechiſche Welt von ihr geſchieht, iſt der Beſchluß der Individuen ſelbſt, kein eigener Beſchluß, von dem das Intereſſe der Individuen ein Ausgeſchloſſenes wäre. Das natürliche Subjekt, das von dem Allgemeinen zu unter- ſcheiden bleibt, iſt in dem Prinzip der Schönheit identiſch geſetzt mit dem Innern, Geiſtigen, ſo daß es nur deſſen Ausdruck iſt; das erſcheinende Inſtrument, Organ für den Geiſt, ſich zu verwirk— lichen, find die Individuen. Dieſe Identität iſt demokratiſche Ver⸗ faſſung.“ 's Die griechiſche Demokratie iſt die „ſchönſte Ver: faſſung, die reinſte Freiheit, die je exiſtiert hat“. 7? Sie ſteht und fällt mit der Ungebrochenheit des objektiven Willens, der als Sitte und Gewohnheit mit dem Willen der einzelnen Individuen un⸗ mittelbar identiſch iſt. Zieht ſich der Wille der Individuen in ein inneres Gewiſſen zurück, tritt die „unendliche Trennung des Sub— jektiven und Objektiven“ ein, dann iſt die Zeit für eine ſolche Ver⸗ faſſung unwiderbringlich vorüber. 89 Die „welthiſtoriſche Beſtim⸗ mung“ der demokratiſchen Staatsverfaſſung in Griechenland war nur und auch nur ſo lange möglich, als die Griechen „kein Ge— wiſſen“ hatten. 81 Zu den Bedingungen, unter denen allein eine ſolche Verfaſſung beſtehen kann, gehört ein möglichft kleiner Umfang des Staates, der mit dem der Stadt zuſammenfällt. „Je mehr Teilnehmer an dem Staatsweſen, deſto toter wird ſeine Führung; die beſonderen In— tereſſen aller einzelnen, ihre beſonderen Lebensweiſen fügen ſich nicht unter einen allgemeinen Geiſt. Zur Demokratie gehört die unmittelbare Gegenwart, das lebende Wort, die Anſchauung der Verwaltung, die dem beteiligten Zuſchauer Zutrauen einflößt.“ 82 Wo eine perſönliche Anteilnahme des Bürgers am Staatsleben nicht mehr möglich iſt, wird die Demokratie eine „Papierwelt“, in der die Tyrannei unter der Maske der Freiheit und Gleichheit ihre Stimme erhebt. 83 Zweitens iſt die ſchöne Freiheit der demokratiſchen 1, III, 502 f. L, 111,608. L, Il, 602; L, IK 698 = B, 30% 2 LE 600, 606 = B, 328, 331. 2 L, III, 608. 58 L, III, 609 = B, 334. 1 1 * Die Phaſe der Identitat 205 Verfaſſung — auch darin zeigt fie ſich als bedingte und beſchränkte — mit der Sklaverei verbunden, die die politiſche Freiheit und Gleichheit der der Zahl nach beſchraͤnkten Bürger an Bildung, Ber mögen und Beſchäftigung verbürgt. ““ In der griechiſchen Demokratie ſind nicht alle, ſondern nur einige frei. Die dritte Bedingung ihrer Exiſtenz iſt das Orakel. Die fremde Autorität des Orakels, noch nicht die unendliche Subjektivität des freien Selbſtbewußtſeins mit ſeinem „Ich will, weil ich will“, iſt die „letzte Inſtanz der Appellation“ in den wichtigſten Angelegenheiten des Staates.“ Athen und Sparta ſind die bedeutendſten Stadtſtaaten, um die ſich das Intereſſe aller übrigen dreht und in denen das griechiſche Prinzip der Mitte des bedingten Geiſtes zur vollkommenſten Aus⸗ wirkung gelangt. In Ausbildung des Geiſtes, des Charakters und der Verfaſſung find beide eine „ſehr würdige Geſtaltung“. ““ Die Stärke Spartas beſteht in der Strenge und Einfachheit der Sitten und in der Ausſchließlichkeit des Lebens für den Staat, um derentwillen Plato und Ariſtoteles ihn rühmen. Die Staatsbildung Spartas beruht auf Anſtalten, welche lediglich dem Intereſſe des Staates dienen und das Individuum in ſtarrer Einheit mit den Zwecken des Staates halten.“? Dagegen find die „unmenſchliche Härte”, die in dem Charakter der Spartaner liegt, ihre wirtſchaft⸗ liche Unbeweglichkeit, ihre ſtark oligarchiſch modifizierte Demokratie, die wenig entwickelte Geſelligkeit, das Fehlen aller Geiſtesbildung, Kunſt und Wiſſenſchaft, der Starrſinn und die Plumpheit ihres politiſchen Auftretens, — ſie ſind die Schattenſeiten, von denen ſich das geiſtig regſame und humane Athen vorteilhaft abhebt. 83 Athen preiſt Hegel als die Stadt der „freieſten Demokratie“, der öͤkonomiſchen Betriebſamkeit und der reichſt entwickelten Individuali⸗ täten. Es iſt die Stadt der „großen politiſchen Charaktere“, in der ſich der einzelne nur geltend machen kann, „wenn er den Geiſt und L, III, Sof. - B, 33a f. L, III, rt ff. = B 332. L, III, 620 = B, 337. * L, III, 63a ff. - B, 341. 344. , III, 629—634 = B, 341— 34. 206 Zweite Stufe: Die griechiſche Welt die Anſicht, ſowie die Leidenſchaft und den Leichtſinn eines höchft gebildeten Volkes zu befriedigen weiß“. 89 „Im ganzen waren die Momente des atheniſchen Weſens Unabhängigkeit der Einzelnen und eine Ausbildung, beſeelt vom Geiſte der Schönheit.“ 9 Um eine wirkungsvolle Note wird das Kulturbild, das Hegel von Athen ent— wirft, bereichert, wo die neue Ausgabe auf die Urbanität des atheniſchen Vollmenſchen zu ſprechen kommt: „Die Privatperſonen haben im Verkehr gegeneinander eine Urbanität, die ſehr fein, deli⸗ kat ausgebildet iſt, eine Höflichkeit der Sache nach ohne die aus⸗ drücklichen feſten Formen, die zu unſerer Höflichkeit gehören. Dieſe Urbanität enthält eine fortdauernde Anerkennung des Rechts des anderen in Anſehung deſſen, was ich ſage, ſo daß ich ſogar dies reſpektiere, ob der andere mich hören will. In allem, was ich ſage, liegt nämlich etwas wie eine Anmaßung; denn indem ich etwas verſichere, fordere ich den andern gleichſam zu einem Ja auf. In den platoniſchen Dialogen iſt dieſe beſtändige Rückſicht auf den anderen ſehr deutlich wahrzunehmen. Die Urbanität erfordert, daß ich nichts tue, was ein Imponierenwollen gegenüber dem anderen verriete. Bei den Athenern iſt Bildung die Form ihrer Handlungen, ſo daß ihnen ſämtlich der Stempel der Allgemeinheit aufgedrückt wird. Den Stoff dieſer Bildung liefert einerſeits der Staat, ander: ſeits der religiöfe Kultus.“ 91 In Athen ſehen wir alle Künſte und Wiſſenſchaften blühen. Auch hier bringt die neue Ausgabe einen Zuſatz, durch den wiederum deutlich wird, wie ſehr Hegel den Staat als Kulturſtaat, die Staatengeſchichte als Kulturgeſchichte verſtanden wiſſen wollte. „Kunſt und Wiſſenſchaft ſind die ideellen Weiſen, in denen der Geiſt eines Volkes ſich ſeiner bewußt wird; und das Höchſte, was ein Staat erreichen kann, iſt, daß in ihm Kunſt und Wiſſenſchaft ausgebildet ſind, eine Höhe erreichen, die dem Geiſt des Volkes entſprechend iſt. Das iſt der höchſte Zweck des Staates, den er aber nicht als ein Werk hervorzubringen ſuchen 9 L, III, 622. 625 f. B, 337. 339. % L, III, 626 = B, 339. ., III, 625, Die Phafe der Identität 207 muß; ee er muß ſich aus ſich ſelbſt erzeugen. Ein Volk hat 2 viele Angelegenheiten der Wirklichkeit: es hat feine Geftalt, fein ganzes Inneres der Welt einzubilden, damit es ſich ſelbſt gegen⸗ ſtaͤndlich ſei; die wahre Weiſe aber, wie es ſich gegenſtaͤndlich iſt, iſt die, ſich zu wiſſen. Athene hat aufgehoͤrt, von einem Volke verehrt du werden; aber die Werke dieſes Geiſtes ſtehen unübertroffen noch | heute gegenwärtig vor uns.“ 92 Dieſes Athen konnte ſich zu der weltgeſchichtlichen Perſoͤnlichkeit aufs | gipfeln, die hoͤchſte Individualität und griechifcher Gemeingeiſt, die Subjekt und Subſtanz in Einem iſt: Perikles, der „größte aller hr Staatsmänner, die je geweſen find, einer aus dem Götterkreiſe der griechiſchen Individualitäten, der Zeus derſelben, wie er von den Griechen ſelbſt genannt wurde“. 99 „Er hatte ein gründliches Ber wiußtſein über den ſubſtanziellen Charakter feines Vaterlandes, und die Größe feines Geiſtes beſteht in dieſem Bewußtſein.“ “ Perikles iſt die Perſon gewordene ſchöne Freiheit Griechenlands. „Athen ſtand zu jener Zeit in feiner höchſten Blüte. Ein Genie wie Perikles hat dieſe Demokratie zuſammenhalten können; denn auch dort, wo viele beſchließend ſind, muß ſich überall eine individuelle Spitze bilden. In der Republik iſt dies die eigentümliche Perſönlichkeit, die ſich nur dadurch erhält, daß fie das iſt, was ihr eingeräumt wird.“ 95 Nur in Perikles ſehen wir dies erreicht, daß eine hoͤchſte Spitze da war und zugleich in ihr das Volk herrſchte.“ 9 Deer böchfte Gipfel iſt der Anfang des Verderbens. Aber ehe die Sonne der ſchönen Freiheit Griechenlands unterging, erleuchteten ihre abendlichen Strahlen noch einmal eine weltgeſchichtliche Per⸗ ſoͤnlichkeit, den „Gipfel des eigentlichen Griechentums“. 97 Alexan⸗ der der Große iſt die „politiſche Individualität“, die Griechen⸗ lands Macht und Bildung einte, ehe es endgültig zuſammenbrach. 98 Er hat bewirkt, daß ſich die Reife und Hoheit der griechiſchen Bil⸗ L, III, 628. ., III, 621 B, yo, » ., III, 621. „ L, III, 6%, ., 111,641. 9 Vgl. oben S. 188. ML, III, 647. Gaof. 208 Zweite Stufe: Die griechifche Welt dung über den Oſten verbreitete, und Aſien zu einem gleichſam helle— niſchen Lande umgeſtempelt. „Das war ſeine große unſterbliche Tat, das Werk der ſchönſten Individualität, wie er der ſchönſte individuelle Held war.“ 99 Groß als Feldherr, weiſe in feinen Anordnungen, tapfer im Gewühl des Kampfes, innerlich frei und gereinigt durch das Element des philoſophiſchen Gedankens, ehrerbietig gegen ſeine alten Generäle, milde gegen ſeine Freunde, ein weitſchauender Ent⸗ decker und Städtegründer, ein freigebiger Gönner der Künſte und Wiſſenſchaften, iſt dieſes „Herrſchergenie“ erhöht durch „ſchöne Menſchlichkeit und Individualität“. 100 „Bei ihm ſehen wir noch eimnal das Intereſſe des Individuums und das des Staates im Gleichgewicht.“ 101 „Sowie Achill ... die griechiſche Welt beginnt, ſo beſchließt ſie Alexander, und dieſe Jünglinge geben nicht nur die ſchönſte Anſchauung von ſich ſelbſt, ſondern liefern zu gleicher Zeit ein ganz vollendetes fertiges Bild des griechiſchen Weſens.“ 102 Indem Alexander dem griechiſchen Volk verhalf, eine „letzte würdige Exiſtenz in der Welt einzunehmen“, iſt er der „Repräſentant Gries lands“. 103 4. Die Phaſe des Widerſpruchs Das Prinzip, auf dem der griechiſche Staat in der vollkommenſten Reife ſeiner Ausbildung beruhte, war die „Einheit des ſubjektiven und objektiven Willens“. 104 Dieſe Identität iſt eine unmittelbare und ungebrochene, auf der ſelbſtverſtändlichen und noch nicht be— zweifelten Geltung der gewohnheitsmäßigen Sitte, nicht auf dem durch kritiſche Reflexion hindurchgegangenen Bewußtſein der In⸗ dividuen beruhende. „Recht und Sittlichkeit wird hier von der freien Individualität gewollt; dies Wollen iſt aber noch nicht als moraliſch beſtimmt. 105 Ein ſolches Staatsweſen verdankt ſeinen Zuſammen⸗ ®® L, III, 650, 100 L, III, 649 f. 651. 653 =B, 353f, 355f, % J, III, 6550 f. n L, HI, 652 = 5, 355: , Y ‚ ‚ DE 105 A. a. O. Die Phaſe des Widerfpruchs 209 ba | nicht zum wenigſten dem Druck, den ſein Selbſtbehauptungs⸗ * trieb von äußeren Feinden aus zuhalten hat. So wie dieſer Druck 3 aufhört, erzeugt ſich der Gegenſatz, den es ſoeben durch feinen Sieg aufgehoben hat, innerhalb ſeiner ſelbſt von neuem. „Der innere Zer⸗ 4 fall iſt die unmittelbare Folge dieſes ſeines Sieges. Hier iſt die Spannung nach außen weggefallen, und das Volk zerfällt nach innen.“ 100 Das der erreichten Identität latente und fie ſprengende „Prinzip des Verderbens“ aktualiſiert ſich als Widerſpruch des all⸗ gemeinen Staatswillens auf der einen und der ſich gegenſeitig be⸗ kaͤmpfenden griechiſchen Staaten ſowie der ſich innerhalb der ein⸗ zelnen Städte befehdenden Faktionen auf der andern Seite. Der allgemeine Ausbruch der Feindſeligkeiten im Peloponneſiſchen Krieg zeigt das Prinzip des Verderbens in voller Wirkſamkeit. Die Eini⸗ gung Griechenlands durch Alexander den Großen war wie die übrigen ihr vorangehenden Einigungen eine momentane. Denn die griechiſche Sittlichkeit der ſchönen Freiheit war ihrem Weſen nach unvermögend, auf die Dauer einen gemeinſamen Staat zu bilden. 197 „Es iſt noch kein Recht des abſtrakt Allgemeinen vorhanden, noch keine Regierung als beſondere Organiſation, unter der das beſondere Intereſſe ebenſo im Zaum gehalten würde, wie es auch befriedigt werden könnte.“ 108 So können ſich die beſonderen Eigentümlichkeiten der griechiſchen Staaten, das Ganze zerſetzend, gegeneinander wen— den. „Das ſchleppt ſich ſo fort bis etwa zum Jahre 146 v. Chr. Was wir in dieſer Zeit ſehen, iſt ein trauriger, nur diplomatiſcher Zuſtand, eine unendliche Verwickelung mit den mannigfaltigſten auswärtigen Intereſſen, ſo daß nur ein ganz künſtliches Gewebe und Spiel, deſſen Fäden immer neu kombiniert werden, den Staat er⸗ halten konnte. Dazu treten die beſonderen Individualitäten, die jetzt durch ihre partikulären Intereſſen und Leidenſchaften den Staat innerlich zerreißen und Parteien bilden, deren jede ſich nach außen % L, III, 331 = B, 298. % L, III, Szaff. - B, 345ff. “ L, III, 604. teeſe, Geihictsphilofophie Hegels 14 — 210 Zweite Stufe: Die griechiſche Welt Bedeutung zu geben ſucht, um die Gunſt der Könige bettelt und den Staat ihren Intereſſen aufopfert.“ 109 Als politiſch kann das „Prinzip des Verderbens“ nicht ausreichend beſtimmt werden. Dem politiſchen Verfall und Untergang liegt eine tiefere Urſache zugrunde: „Das Prinzip des freien Gedankens, der Innerlichkeit des Menſchen hat den Bruch hervorgebracht.“ 110. Dieſes Prinzip der für ſich freiwerdenden Innerlichkeit bezeichnet Hegel auch als das der „ſubjektiven Freiheit“ oder auch als Prinzip der „Moralität“. Erinnern wir uns des Unterſchiedes zwiſchen „Sitt⸗ lichkeit“ und „Moralität“. 111 „Sittlichkeit iſt die ungetrennte Eins heit des allgemeinen Inhalts und des individuellen Wollens. Es iſt dies die ſchon erwähnte ſchöne Mitte zwiſchen der Gebundenheit in der Natur und der Erkenntnis des Guten und Böſen, auf Grund deren das Gewiſſen entſcheidet, ob es gut oder böſe ſein will. Das ſittliche Weſen kennt dieſe Entzweiung nicht; es wählt nicht, iſt gut an ſich.“ 112 Das Prinzip der auf ſubjektiver Ver⸗ innerlichung beruhenden, alle Entſcheidungen aus ſich ſelber nehmenden Moralität, zu dem ſich das Prinzip der ſchönen Sittlichkeit vertiefen mußte, erhält im geiſtigen Leben die Führung. Die Läuterung, Vertiefung und Höherbildung des Prinzips der ſchönen Freiheit er folgt um keinen geringeren Preis als den ſeiner Zerſtörung. „Auf dem Standpunkte der ſchönen geiſtigen Einheit konnte der Geiſt nur kurze Zeit ſtehen bleiben, und die Quelle des weiteren Fortſchrittes und des Verderbens war das Element der Subjektivität, der Mora⸗ lität, der eigenen Reflexion und der Innerlichkeit.“ 118 Ehe der freie Gedanke ſich aber zu einer neuen Geſtalt organiſieren kann, muß er kritiſch auflöſen, was bis dahin „ohne weiteres Nachdenken“ in Geltung ſtand. „Das Prinzip des Gedankens iſt ſtörend für die Beſtimmung, auf der das Beſtehen der ganzen griechiſchen Welt 10 L, III, 656. 1 L., III, 638 B, 347 f. 1 Bol, oben S. 201 f. 1 L, III 604. 11 L, III, 639 f. B, 344f. Die phaſe des Wiberfpruche 211 1 5; * 3 35 Dies hoͤhere Prinzip iſt von der Art, daß es zu verföhnen iſt, feine Verföhnung aber nur auf einem höheren Standpunkte finden kann, als die Form des griechiſchen Gelſtes iſt; dabei ift es von der Beſchaffenheit, daß es aus dem griechiſchen Geiſte hervorgehen muß. Denn der Geiſt iſt der Gegenſtand der Griechen, und dieſer Stand⸗ punkt enthalt in feiner Entwickelung, daß der Gedanke, die Subjek⸗ tivität ſich entwickelt. Das Prinzip des freien Gedankens alſo, der Innerlichkeit hat den Bruch hervorgebracht. Früher galten die Ge⸗ ſetze und Sitten unbedingt, die menſchliche Individualität ſtand in Einheit mit dem Allgemeinen. Die Götter ehren, für das Vater⸗ land ſterben, war ein allgemeines Geſetz, und jeder erfüllte den allgemeinen Inhalt ohne Unterſuchung. Da aber ging der Menſch in ſich, fing an zu forſchen, ob er ſich dem Inhalt fügen wolle und müſſe. Dieſer erwachte Gedanke brachte den Göttern Griechenlands und der ſchönen Sittlichkeit den Tod.“ 114 Als „wunderbares Schick ⸗ ſal“ des Menſchen bezeichnet es Hegel, daß das „höhere Prinzip für das frühere, niedere, immer als Verderben erſcheint, als ſolches, wodurch die Geſetze der beſtehenden Welt verneint, nicht anerkannt werden “. 115 Dieſem Schickſal iſt auch die welthiſtoriſche Geſtalt des Griechentums in dem Prozeß der Selbſtbewegung des Weltgeiſtes anheimgefallen. „Gerade die ſubjektive Freiheit, welche das Prinzip und die eigentümliche Geſtalt der Freiheit in unſerer Welt, welche die abſolute Grundlage unſeres Staates und unſeres religiöſen Lebens ausmacht, konnte für Griechenland als das Verderben auftreten. Die Innerlichkeit lag dem griechiſchen Geiſte nahe, er mußte bald dazu kommen; aber fie ſtürzte feine Welt ins Verderben, denn die Verfaſſung war nicht auf dieſe Seite berechnet, weil ſie nicht in ihr vorhanden war.“ 116 „Das Prinzip der ſubjektiven Freiheit iſt für dieſe Verfaſſung noch ein heterogenes Prinzip.“ 117 Es äußert ſich alſo das Prinzip der Innerlichkeit auf doppelte Weiſe: 44 L, 111,640, 1 L, III, 602. 640, L, III, 606 = B, 330. ½ L, III, 600, 14* 212 Zweite Stufe: Die griechiſche Welt einmal als die „beſondere Idee der Subjektivität“, die durch die Leidenſchaften und die Willkür der Partikularitäten dem Organis- mus des Staatsganzen und ſodann als die „allgemeine Idee des Wahren“, die der griechiſchen Schönheitswelt den Untergang be— reitet. 118 0 Viel verdankt die Ausbildung des Gedankens den Sophiſten. Bei ihnen fängt das Räſonnieren und Reflektieren über das Ber ſtehende an. „Indem ſich der Gedanke an alles wagt, macht er alle Gegenſtände ideell, durchdringt ſie und löſt ſie auf.“ 119 Die Sophiſten find nicht Gelehrte, deren Gegenſtand die wiſſenſchaft—⸗ liche Forſchung iſt. Hegel nennt fie „gebildete Meiſter der Gedanken— wendung“, die auf alle Fragen eine Antwort zu geben, für alle Intereſſen politiſchen und religiöfen Inhalts allgemeine Geſichts— punkte aufzuzeigen, in allem eine zu rechtfertigende Seite zu ent⸗ decken und dadurch die Welt der Griechen in Erſtaunen zu ſetzen vermochten. Der Menſch in feinem Belieben und beſonderen Inter— eſſen, der ſubjektive Menſch war ihnen das Maß aller Dinge. „Der Menſch als beſondere Individualität iſt ihnen das Ziel, und die Nützlichkeit für ſein natürliches Daſein der höchſte Geſichtspunkt geworden. Sie erklärten hiermit das Belieben für das Prinzip deſſen, was recht iſt, und das dem Subjekt Nützliche für den letzten Beſtimmungsgrund.“ Der Gedanke wird zum Mittel für die Pro— pagierung der politiſchen Leidenſchaften. Und „dieſes Dafürhalten des Individuums“ mußte den objektiven Geiſt der griechiſchen Ge— ſellſchaft zerſetzen. 120 Auch für Sokrates iſt der Menſch das Maß aller Dinge. Aber nicht der Menſch mit der Beliebigkeit und Willkür ſeiner beſonderen Intereſſen und Leidenſchaften, ſondern als der „Geiſt in ſeiner Tiefe und Wahrheit“. Sokrates erfaßt die „freie Unabhängigkeit des Gedankens“ in der Tiefe der den Menſchen verpflichtenden Allge— meinheit. Die Frageſtellung, was recht und gut, was moraliſch, nicht 118 L, III, 641 = B, 348. 1 L, III, 642. 12 L, III, 642 f. = B, 349f. N 213 0 = . der Beſonderheit nützlich fei, iſt für ihn der „letzte Zweck“ bes Denkens. Die Bedeutung der Sophiſten iſt eine vorwiegend nega⸗ tive. Als „Erfinder der Moral“, der das Gewiſſen als Maß des . Rechten und Sittlichen aufſtellte, begründet Sokrates das neue poſitive Prinzip der ſubjektiven Innerlichkeit. Er wird damit zu F einer in der Entwicklung des Geiſtes epochemachenden, meltgefchichte lichen Perſoͤnlichkeit. Sein Prinzip erweiſt ſich als „revolutionär“ gegen die ſubſtantielle Sittlichkeit der griechiſchen Geſellſchaft. „Wenn Sokrates ſelbſt zwar noch ſeine Pflichten als Bürger er⸗ füllte, ſo war ihm doch nicht dieſer beſtehende Staat und deſſen Religion, ſondern die Gedankenwelt die wahre Heimat. Indem er es der Einſicht, der Überzeugung anheimgeſtellt hat, den Menſchen zum Handeln zu bringen, hat er das Subjekt entſcheidend gegen Vaterland und Sitte geſetzt und ſich ſelbſt ſomit zum Orakel im griechiſchen Sinne gemacht.“ 121 Die neue Ausgabe ſchenkt uns jene ergreifenden Satze über die Tragik des Sokrates, die uns einen tiefen Einblick verſtatten, wie ſehr Hegel der Gradlinigkeit eines flachen Fortſchrittsoptimismus abgeneigt war. „An Sokrates ſehen wir die Tragödie des griechiſchen Geiſtes aufgeführt. Er iſt der edelſte der Menſchen, moraliſch untadelig; aber er hat das Prin⸗ zip einer überſinnlichen Welt zum Bewußtſein gebracht, ein Prinzip der Freiheit des reinen Gedankens, das abſolut berechtigt, ſchlechthin an und für ſich iſt, und dies Prinzip der Innerlichkeit mit ſeiner Wahlfreiheit bedeutete die Zerſtörung für den atheniſchen Staat. So iſt ſein Schickſal das der höchſten Tragödie. Sein Tod kann als höchſtes Unrecht erſcheinen, da er feine Pflichten gegen das Vaterland vollkommen erfüllte und ſeinem Volke eine innere Welt aufſchloß. Auf der anderen Seite aber hatte auch das atheniſche Volk vollkommen recht, wenn es das tiefere Bewußtſein hatte, daß durch dieſe Innerlichkeit das Geſetz des Staates in ſeinem Anſehen geſchwächt und der atheniſche Staat untergraben wurde. So hoch⸗ n L, III, 643 ff. B, 350f. 214 Zweite Stufe: Die griechiſche Welt berechtigt alſo auch Sokrates war, ebenſo berechtigt war das atheniſche Volk gegen ihn. Denn ſein Prinzip iſt ein Prinzip der Revolutibn der griechiſchen Welt. In dieſem großen Sinne hat das atheniſche Volk ſeinen Feind zum Tode verurteilt, und der Tod des Sokrates war die höchſte Gerechtigkeit. So hoch die Gerechtigkeit des Sokrates war, ſo hoch war auch die des atheniſchen Volkes, als es den Zerſtörer ſeiner Sittlichkeit tötete. Beide Teile hatten recht. Sokrates iſt alſo nicht unſchuldig geſtorben; dies wäre nicht tragiſch, ſondern bloß rührend. Sein Schickſal aber iſt tragiſch im wahr⸗ haften Sinne. Unſer Staatsweſen iſt ganz anders als das des atheniſchen Volkes, da es ganz gleichgültig ſein kann gegen das innere Leben, ſelbſt gegen die Religion. Nachher hat das atheniſche Volk das Urteil bereut, und auch das war gehörig. Es lag hierin das Hochtragiſche, daß die Athener zu dem Gefühle kommen mußten, daß eben das, was ſie in Sokrattes verdammten, ſchon in ihre Bruſt gedrungen ſei. In dieſem Gefühle haben ſie die Ankläger des Sokrates verdammt und dieſen für unſchuldig erklärt. Sie ſahen ein, daß ſie ebenſo mitſchuldig oder ebenſo freizuſprechen ſeien, weil das Prinzip des Sokrates bei ihnen ſchon feſte Wurzel gefaßt habe, ſchon ihr eigenes Prinzip geworden ſei, nämlich das Prinzip der Subjektivität. Dies Prinzip ſehen wir in ſeiner tiefſten, berechtigtſten Form als den Grund für das Unglück des griechiſchen Volkes. Das Entſcheidende des Willens iſt, gleich dem Dämon des Sokrates, in das ſubjektive Innere als ſolches gelegt.“ 122 Mit Sokrates iſt das Schickſal Griechenlands beſiegelt. Platos Repriſtination der urſprünglichen griechiſchen ſubſtantiellen Sitt⸗ lichkeit vermochte den zermalmenden Lauf dieſes Schickſals nicht mehr aufzuhalten. „Dieſe beſonderte Individualität iſt gerade das, was nur aus Griechenland hervorgehen, was aber die griechiſche Welt nicht aushalten konnte. Platos tiefer Sinn hat dies ſehr wohl erfaßt und deshalb die freie Subjektivität von ſeinem Staate aus⸗ 122 L, III, 645 f. — B, 351 enthält darüber nur eine kurze Notiz. Die Dialettit des grieciihen Beiftes 215 ſchließßen wollen. Aber in diefer felbfibewußiten Perfön- lichkeit liegt der Keim und das Prinzip für den Geiſt der höheren Freiheit, der in die Weltgeſchichte eintreten ſollte. Ebenſo nun, wie die beſonderen Perfönliche keiten der Individuen freigeworden ſind und dies von dem griechiſchen Leben nicht ertragen werden konnte, fo wenden ſich auch die beſonderen Eigentümlichkeiten der griechiſchen Staaten, das Hanze zerſetzend, gegeneinander.“ 128 Es iſt dieſes letzteren Umſtandes bereits gedacht. 12 „Aus dieſem allen erhellt, daß ſolch ein zer⸗ riſſener Zuſtand eine Gewalt fordert, die das Alte ſtrafen und ſeine Ohnmacht offenbaren muß. Gegen dieſe ſelbſtſüchtigen Partikulari⸗ täten, die Feſtmachung in dieſen Endlichkeiten kann nur auf gewalt⸗ tätige Weiſe aufgetreten werden. Dieſer Leidenſchaft und Zerriſſenheit, die Böfes und Gutes niederwirft, tritt ein blindes Schickſal, eine äußere Gewalt gegenüber, um den ehrloſen Zuſtand jammervoll zu zertrümmern; denn Heilung, Beſſerung und Troſt ſind unmöglich. Das Schickſal muß hart dareingreifen, und dies zertrümmernde Schickſal ſind die Römer.“ 125 Der nähere Verlauf der dritten Periode der Geſchichte der helle⸗ niſchen Welt, welche das Unglück Griechenlands und ſeine Berüh⸗ rung mit dem Volke enthält, welches nach den Griechen das welt⸗ hiſtoriſche fein ſollte, iſt für den Geſchichtsphiloſophen ohne Belang. / 5. Die Dialektik des griechiſchen Geiſtes Am Ende der griechiſchen Welt darf ſich der Blick wiederum auf das geſchichtsphiloſophiſche Grundprinzip richten, das in jener nicht minder als in der orientaliſchen Welt von Hegel zu vollkommenſter Diurchführung gebracht worden iſt: die Dialektik der Geiſt⸗ Natur. Sie zeigt uns, daß das Flüſſigwerden der Begriffe — 8 a o ä * L, in, ossf. Sperrung vom Verf. 12, Bol, oben S. 20 f. 1 L, II, 6538 — B, 359. 6 216 Zweite Stufe: Die griechiſche Welt zu ihrem Weſen gehört. Die Begriffe der Natur, der Unmittelbar: keit, der Mitte, des Geiſtes, der Freiheit verharren nicht in ſtarrer Eindeutigkeit, ſondern ſind, in beſtändiger Umwandlung, gleichſam lebende Weſen, die auf jeder neu erreichten Stufe des geiſtigen Pro— zeſſes ein anderes Ausſehen gewinnen. Die Einheit (Identität) von Geiſt und Natur iſt in der orien⸗ taliſchen Welt eine andere als in der griechiſchen Welt. In jener iſt ſie Verſenktheit des Geiſtes in die Natur, in dieſer iſt ſie Harmonie des Geiſtes mit der Natur. Dort iſt die Natur herr— ſchend, hier anregend, immer in dem Doppelſinn der phyſiſchen Natur und der in dieſe verſenkten „natürlichen Geiſtigkeit“. Dort herrſcht kraſſer Aberglaube, rohe Sinnlichkeit, grober Naturdienſt, knechtender Deſpotismus, Unorganiſiertheit des politiſchen, Uns differenziertheit des perſönlichen und kulturellen Lebens. Hier iſt das gerade Gegenteil der Fall. Denn der Geiſt iſt das Herrſchende und geſtaltet die Natur nach ſeinem Bilde. Dennoch bezeichnet Hegel die aus dem Geiſt geborene Einheit des ſchönen griechiſchen Men— ſchen, der ſchönen griechiſchen Religion und des ſchönen griechiſchen Staates wiederum als Natur. Dieſe Natur iſt nicht die primitive des in ſie verſenkten orientaliſchen Menſchen. Sie beſteht vielmehr in der Unmittelbarkeit der Geltung der neu errungenen in— dividuellen Geiſtigkeit. 12s Dieſe Unmittelbarkeit iſt im Verhältnis zu der orientaliſchen eine Unmittelbarkeit höherer Ordnung, als ſie durch den Widerſpruch hindurchgegangen und geiſtig vermittelt iſt. Unmittelbarkeit aber und deshalb Natur bleibt ſie vom Standpunkt der zu erreichenden ſubjektiven Innerlichkeit aus, für die alles Geltende nicht ein einfach und ſchlechthin durch die Sitte Ge— gebenes, ſondern ein durch ſelbſtbewußte Tat frei zu Erzeugendes iſt. „Der moraliſche Menſch iſt nicht der, welcher bloß das Rechte will und tut, nicht der unſchuldige Menſch, ſondern der, welcher das Bewußtſein ſeines Tuns hat.“ 127 Den griechiſchen Geiſt bezeichnet 126 Vgl. oben S. 202 ff. 17 L, III, 644 = B, 350. 4 „ Te E I 1 S Di, N. n E " 1 * 27282 ; * 8 32 * * Pe * * £ n N Br: do, Dinfeftil bes griechifchen Geifies 217 Hegel mit Vorliebe als Mitte. Aber auch der ägpptifche Geiſt iſt Mitte“. Die Mitte des ägyptiſchen Geiſtes blickt rückwärts auf das Aſiatentum. Es iſt der kämpfende Geiſt, der ſich von der Natur losringt und ſich gegen die Unterwürfigkeit ſträubt. Die Mitte des griechiſchen Geiſtes blickt vorwärts auf das Chriſtentum. Es iſt der Geiſt, der die Natur überwunden hat und im Bewußtſein feines Sieges ausruht. Die Freiheit des orientaliſchen Geiſtes iſt Freiheit „an ſich“, die bloße Möglichkeit der Freiheit, weil der Geiſt aus ſeiner Natürlichkeit noch nicht herausgegangen iſt, ſeine elemen⸗ tariſche Natur noch nicht überwunden hat. Die Freiheit der grie⸗ chiſchen Welt iſt bedingte und beſchränkte Freiheit, inſofern der Geiſt über die Natur zwar Herr ward, ihrer aber als eines Mittels ſeiner Selbſtdarſtellung noch nicht entraten kann. So iſt der Dreitakt der unmittelbaren Identität von Geiſt und Natur, des Widerſpruchs von Geiſt und Natur und der durch den Widerſpruch vermittelten Iden⸗ tität von Geiſt und Natur weder ein einmaliger noch ein ſich ein⸗ fach wiederholender, ſondern ein im Wandel und Reichtum der Ge⸗ ſchichte fortſchreitender und ſich ſtändig verändernder. 123 7 Überblicken wir von hier aus noch einmal die „Tragödie des grie⸗ chiſchen Geiſtes“, ſo erſcheint Hegels Dialektik, die aus jeder er⸗ reichten Identität einen ihr immanenten und ſie auflöſenden Wider⸗ ſpruch hervorgehen und deſſen Verſöhnung in einer höheren Identität ſich vollziehen läßt, in einem neuen Licht. Sie offenbart ſich als eine der großartigſten Intuitionen des den⸗ kenden Geiſtes, indem ſie ausſpricht, daß leben⸗ diger Geift, um zu bejahen, verneinen, um auf: zubauen, einreißen, um neu⸗ſchaffend fortzuſchrei⸗ ten, in höchſtem Maße zerftörend wirken, um zu gewinnen, verlieren, um ſich lebend zu erhöhen, ſich opfern und ſterben muß. „Erſt muß das Herz der 12 Es iſt hoffnungsloſer Unverſtand, wenn die Hegelkritik ſich nicht ent rechen kann, von dem eintönigen Geklapper der dialektiſchen Methode zu reden. 218 Zweite Stufe: Die griechiſche Welt Welt brechen, ehe ihr höheres Leben vollkommen offenbar wird.“ 129 Auf dieſer tiefgründigen Einſicht beruht es zweifellos in nicht ge⸗ ringem Maße, daß Hegel in der chriſtlichen Religion den volkstüm⸗ lich⸗mythologiſchen Ausdruck, die bildmäßige Umkleidung ſeiner tief⸗ ſten philoſophiſchen Erkenntnis hat finden können. Die Dialektik des Geiſtes iſt der Rhythmus der unerſchöpflich ſtrömenden Fülle des Lebens ſelbſt, des „bacchantiſchen Taumels, an dem kein Glied nicht trunken iſt“. 130 Man verſteht Hegel nicht, wenn man unter dem täuſchenden Schleier ſeiner reichlich forma⸗ liſtiſchen Ausdrucksweiſe das drängende Leben nicht ſieht, das dieſer Philoſoph des Lebendigen ſelbſt durch die charaktervolle Methode der Dialektik kaum zu bändigen vermag. 1 L, III, 647. % Phänomenologie ed. G. Laſſon (Jubiläumsausg. 1907), S. 31. III. Dritte Stufe: Die römische Welt 1. Die Herausbildung des römiſchen Prinzips Das Prinzip, das aus der griechiſchen Welt hervorging, aber inner⸗ halb ihrer nicht mehr realifierbar war, ſondern ihren Göttern und ihrem Staat den Untergang brachte, iſt das Prinzip der Subjektivität, der Innerlichkeit. Dieſes revolutionäre Prinzip zu „verſöhnen“, d. h. es in Einklang und Einheit mit dem Geſamtgeiſt des Staates zu bringen, iſt die Aufgabe des nächſten welthiſtoriſchen Volkes, der Römer. Es gilt, in dem Prozeß der Selbſtbewegung des Geiſtes eine neue Identität des ſubjektiven und objektiven Geiſtes zu er⸗ reichen, die alsdann wiederum der Zerſetzung durch die Aktualiſie⸗ rung eines ihr innewohnenden Widerſpruchs anheimfällt, deſſen Ver⸗ ſöhnung den Untergang der roͤmiſchen Welt und das Emporkommen des Chriſtentums zur Vorausſetzung hat. Als „allgemeines Prinzip der römiſchen Welt“ bezeichnet Hegel die „ſubjektwe Innerlichkeit“. „Dieſe Innerlichkeit, dieſes Zurückgehen in ſich ſelbſt, das wir als das Verderben des griechiſchen Geiſtes geſehen, wird hier der Boden, auf dem eine neue Seite der Welt⸗ geſchichte aufgeht.“? Während nun das griechiſche Prinzip der ichönen Individualität ſich in den Reichtum des ſubjektiven, objek⸗ tiven und ſubjektiv⸗objektiven Kunſtwerkes entfaltet und auseinander⸗ breitet, nimmt das römiſche Prinzip der Innerlichkeit eine andere Geſtaltung. „Dies iſt der allgemeine Gang der römiſchen Welt: der Übergang vom heiligen Innern zum Entgegengeſetzten. Die Ent⸗ 1 L, III, 686 = B, 363. L, III, 662 = BB, 361. — 220 Dritte Stufe: Die römiſche Welt wicklung iſt hier nicht derart wie in Griechenland, daß das Prinzip nur feinen Inhalt entfalte und auseinanderbreite; ſondern fie iſt Übergang zum Entgegengeſetzten, welches nicht als Verderben ein— tritt, ſondern durch das Prinzip ſelbſt gefordert und geſetzt iſt.“ Dieſes Entgegengeſetzte der Innerlichkeit iſt die „deſpotiſche Ges walt“. Subjektive Innerlichkeit und ſtaatliche Zwangsgewalt ſtehen in einem polaren Spannungsverhältnis. Die Dynamik dieſes Span⸗ nungsverhältniſſes macht zu höchſt die Größe und Eigenart des römiſchen Geiſtes aus. „Die ſtarre Perſönlichkeit ... löſt ſich auf im Gehorſam gegen den Staat, identifiziert ſich mit ihm; und dieſe abſtrakte Einheit, vollkommene Subordination mit und unter dem Staate macht die römiſche Größe aus. Ihre Eigentümlichkeit iſt dieſe harte Starrheit in der Einheit der Individuen mit dem Staate, dem Staatsgeſetz und Staatsbefehl. Die Helden Roms fallen alle nach dieſer Seite hin; man muß ſie nicht allein in dem Verhältnis nach außen ſehen, wie ſie den Staat ohne Weichen und Wanken vor Augen haben, mit ganzem Sinn und Gedanken nur ihm angehören, als Feldherren für ihn kämpfen, als Geſandte für ihn auftreten, ſondern auch in Zeiten des Aufruhrs im Innern. Hier zeigt ſich das Verhältnis der Perſönlichkeit zum Staat als dieſe Stärke, der Rom feine Erhaltung zu verdanken hat.“! Die Inner⸗ lichkeit nämlich, die die römiſche Welt realiſierte, hat, das ſei gleich hier bemerkt, noch nichts zu tun mit Empfindungsreichtum und Gemütstiefe. Die emotionale Seite der Innerlichkeit bleibt außer Betracht. Was Hegel ſtets im Auge hat, iſt die zunehmende Atomi⸗ ſierung der römiſchen Geſellſchaft in formal-rechtlich gleichſtehende Perſonen. „Die Entwicklung beſteht in der Reinigung der Innerlich⸗ keit zur abſtrakten Perſönlichkeit, welche im Privateigentum ſich die Realität gibt, und die ſpröden Perſonen können dann nur durch deſpotiſche Gewalt zuſammengehalten werden.“? Die erpanfive Kraft des Perſonalismus erfordert die Gegenkraft der fie bändigenden L, III, 686 = B, 364. L, III, 672 f. B, 371. , III, 686 = B, 364. is DEE Die Phaſe der Identität 221 * Staatsgewalt. Darauf beruhen Weltgeltung und Kataſtrophe des Ronmertums. Bei feinem Hinhoͤren erlauſchen wir noch einen anderen Rhythmus, der durch Hegels Geſchichtsphiloſophie geht, als den der Dialektik der Geiſt⸗Natur. Es iſt der Rhythmus von Weltepochen, die man als vorwiegend ſtatiſche und vorwiegend dynamiſche bezeich⸗ nen konnte. Die orientaliſche Welt mit ihrem „ſtatariſchen“ And vegetabiliſchen Charakter iſt die des ruhig⸗dumpfen Verſenkt⸗ ſein des Geiſtes in die Natur. Der ägyptiſche Geiſt, als Über gang vom Orient zum Abendland, offenbarte ſich uns in der Raſt⸗ lloſigkeit und eruptiven Gewalt des ſich gegen feine Naturverſenktheit aaufbäumenden Geiſtes. Die griechiſche Welt zeigt in ihrer höch- ſten Blüte den Geiſt, der im Bewußtſein feines Sieges und feiner x Überwindung ſich in herrlichſten Kulturſchöpfungen geruhſam und heiter entfaltet. Die römische Welt gewinnt wieder den Charakter des Drangvollen, des unendlich Spannungsreichen, des Krampf⸗ haften, des ſtets Unbefriedigten, des unlösbaren Widerſpruchs, an deſſen Auflöfung fie ſich wie die ägyptiſche zerreibt. Die chriſt⸗ liche Welt ſteht, wie wir noch ſehen werden, abermals gleich der griechiſchen unter dem Geſichtspunkt des Friedens und der Ver⸗ ſöhnung. f Wie aber ſteht es nun mit dem Prinzip der Dialektik innerhalb der römiſchen Welt? Dieſe Frage müſſen wir vornehmlich im Auge behalten. 2. Die Phaſe der Identität Die Periodizität des neuen welthiſtoriſchen Volkes iſt die uns be reits bekannte. Die erſte Periode umfaßt die Anfänge Roms und die Zeit der Erſtarkung des Volkes. Die zweite Periode, die Welt⸗ herrſchaft der Republik, iſt die „ſchönſte Zeit“ Roms, die Zeit der welterobernden Ausdehnung. Der höchſte Gipfel iſt auch hier wie⸗ derum der Punkt des Sinkens, der Anfang des Verderbens. Wäh⸗ "PR 222 Dritte Stufe: Die römische Welt rend in der erſten Periode die „im Weſen entgegengeſetzten Be— ſtimmungen noch in ruhiger Einheit ſchlafen, bis die Gegenſätze in ſich erſtarken und die Einheit des Staates dadurch die kräftige wird, daß ſie den Gegenſatz in ſich geboren und als beſtehend hat“ (was wir oben das polare Spannungsverhältnis nannten), tritt auf dem Höhepunkt der zweiten Periode die innere Zerrüttung ein, „indem der Gegenſatz ſich zum Widerſpruch in ſich und zur völligen Un⸗ verträglichkeit entwickelte“. Die dritte Periode, der ſchrankenloſe Deſpotismus des Kaiſertums, prächtig und glänzend nach außen, iſt die Periode der innerlichen Gebrochenheit, des Verfalls, des Abſterbens.“ — | So wenig wie die griechiſche Welt hat fich das römiſche Reich aus einem „natürlich patriarchaliſch zuſammengehörenden Stamme“ entwickelt. „Der römiſche Staat beruht geographiſch wie auch hiſtoriſch auf dem Momente der Gewaltſamkeit.“ Hegel betont das Gemachte und Gewaltſame an den Anfängen Roms.? „Keine Familie, keine Vermiſchung zum friedlichen Leben iſt der Anfang dieſes Staates; ſondern eine Räuberbande vereinigt ſich zum Zwecke der Gewalt. Man mag an einen alten Namen denken, der wenig⸗ ſtens die Grundlage machte, von Aneas und Numitor fabeln; das Bewußtſein der Römer ſelbſt und das eigentliche Geſchichtliche iſt, daß Räuber und räuberiſche Hirten ſich hier zuſammenrotteten und ſich in Gegenſatz zu allen Nachbarn ſtellten.“s Rom hat ſich als „Räu⸗ berſtaat“, als „Kriegsſtaat“ konſtituiert durch den Zuſammenlauf von allerlei Geſindel und durch die Verſchleppung von Bewohnern zerſtörter Städte.? Das Moment der Gewaltſamkeit iſt die ſchickſal⸗ hafte Beſtimmung des Römertums. Ein Staat, der auf Gewalt beruht, muß mit Gewalt zuſammengehalten werden. Härteſte Diſziplin, Aufopferung für den Zweck des Staates, ſtrengſte Sub⸗ ordination, Ausbildung des Militär- und Rechtsweſens, ein prak⸗ e L, III, 686f. = B, 364f. L, III, 665 = B, 363. 365, [, III, 665, ® L, III, 668. 688 = B, 367. 381. Doi Phafe der Identität 223 +2 5 4 til | und nüchterner Verſtand, Phantaſie⸗ und Gemütloſigkeit, * das Zurücktreten idealer Beſtrebungen wie der Kunſt und Philoſophie vor Geſichtspunkten der Nützlichkeit und Zweckmäßigkeit charakte⸗ krliſieren den roͤmiſchen Geiſt. 10 „Wir finden hier kein freies Leben, das Freude an dem Theoretiſchen hatte; ſondern es iſt nur ein uns lebendiges Leben, das praktiſch ſich erhalt.“ 11 Der Geiſt „ſelbſtiſcher Härte“, der Abhängigkeit und der Unter⸗ ordnung, nicht das fchöne freie Verhaltnis der Liebe und der Empfin⸗ dung, beherrſcht auch das roͤmiſche Ehe⸗ und Familienleben. „Es iſt ein Verhältnis der Sklaverei, worin Frau und Kinder zu dem Manne ſtehen.“ 12 „Die unſittliche aktive Härte der Römer nach dieſer Privatſeite entſpricht notwendig der paſſiven Härte ihres Verbandes zum Staatszweck. Für die Härte, welche der Römer im Staate erlitt, war er entſchädigt durch dieſelbe Härte, die er nach ſeiten ſeiner Familie genoß, — Knecht auf der einen Seite, Deſpot auf der andern.“ 18 Hegel ſieht hier die Grundverhaͤltniſſe der Sitt- lichkeit entartet und entſittlicht. 14 Aber er konſtatiert auch einen für den römifchen Geiſt durchgehends geltenden Dualismus, wenn er, um das grundlegende Prinzip der Innerlichkeit zu wahren, über die durch die „Entehrung einer Frau“ veranlaßte Vertreibung der Kö⸗ nige ſeitens der Patrizier bemerkt: „Die tiefſte Verletzung in ſolchen Zeiten iſt die der Ehre, weil dieſe das Tiefſte, Innerſte der damaligen Menſchen iſt, wie in ſpäteren Zeiten das Gewiſſen. Das Prinzip der Innerlichkeit und Pietät (pudor) war insbeſondere bei den Römern das Religiöfe und Unantaſtbare. Wir ſehen bei dieſer Gelegenheit die hohe Geltung, in der bei ihnen die Heiligkeit der Ehe ſtand.“ 15 Ein ähnlicher Dualismus gilt von der römiſchen Religion. Außerlich betrachtet ſcheint ſie dieſelbe zu ſein wie die der Griechen, deren Mythologie die Römer übernommen haben. Aber wie ſich ſchon bei jenen zeigte, daß ſie den aus der Fremde übernommenen % L, III, 667. 669. 674 f. = B, 357 f. 372f. I., III, 662. 1 L, III, Söof, * L, III, 671 = B, 369f. 371. 1 A. a. O. 1 L, III, 692 - B, 384. 224 Dritte Stufe: Die römische Welt Göttern den eigenen Geiſt einhauchten, jo find auch die Götter Roms nicht die heiteren Phantaſiegeſtalten der ſchönen Freiheit Griechenlands. „Die römiſchen Götter haben für uns etwas Kaltes und Trocknes; ſie ſind nicht das Spiel ſinniger Phantaſie wie bei den Griechen, ſondern höchſt proſaiſche Weſen.“ 16 Sie ſind „kalte Allegorien“, „abſtrakte“, perſonifizierte „Zuſtände“, die als nutzen⸗ oder ſchadenbringend erſcheinen. Sie ſind die Erzeugniſſe eines „‚Eal- ten Verſtandes“. Die römiſche Frömmigkeit trägt das Gepräge eines geifte, empfindungs- und gemütloſen „Formalismus“. „Die rö⸗ miſche Religion iſt die... ganz proſaiſche der Beſchränktheit, der Zweckmäßigkeit, des Nutzens.“ !“ Es find die Zuſätze der neuen Aus: gabe, die demgegenüber an der Religion der Römer den „Charakter der Innerlichkeit“ hervorheben, die „Ernſthaftigkeit“, eine „une begreifliche Gravität“, eine Innerlichkeit, die abſtrakt, ſtumm und ſtumpf bleibt, die noch nicht „Gewiſſen“ iſt, aber ſich dem nähert, was dieſes Wort meint, eine ernſthafte Gebundenheit und umſtänd⸗ liche Feierlichkeit, die ſich deutlich unterſcheidet von der ſinnlichen Trägheit des Orientalen und dem zweckloſen Leichtſinn des Griechen. 18 „Die unterſchiedenen Elemente der römiſchen Religion ſind nach dem Geſagten die innerliche Religioſität und eine voll— kommen äußerliche Zweckmäßigkeit.“ 19 „Die innere politiſche Entwicklung zeigt den Sturz des König⸗ tums durch das zur Selbſtändigkeit gediehene Patriziat, die Ein- führung der republikaniſchen Verfaſſung, an deren Spitze Konſuln ſtehen, den Kampf der Patrizier und Plebejer, die Erhebung der Lateiner und Bundesgenoſſen gegen die Römer, „bis die Gleichheit der Privatperſonen im ganzen römiſchen Gebiet hergeſtellt (auch eine Unzahl von Sklaven wurde freigelaffen) und durch einfachen Deſpotismus zuſammengehalten wurde“. Königtum, Republik und Kaiſerreich ſind die verſchiedenen politiſchen Formen der Entwicklung, 1 L, III, 676f. * L, III, 677. 679f.= B, 373. 375 f. 377 f. 1, III, 676, 68 ff. , III, 684 = B, 379. Be: Die Phafe der Identitat 225 in denen ein und dasſelbe Prinzip der durch Gewalt begrenzten * Innerlichkeit ſich auswirkt. 20 Die republikaniſche Staatsverfaſſung bat nichts gemein mit der demokratiſchen Gleichheit und dem ſchoͤnen lberalen Zuſammenhang der griechiſchen Polis. Der „Hauptcharakter des Staatslebens“ iſt vielmehr die Ariſtokratie, die Herrſchaft einer durch virtus und fortitudo zuſammengeſchloſſenen mächtigen Gruppe über die große Maſſe des Volkes. In der Ariſtokratie, die eine in ſich feindſelige, nur durch Not, Unglück und Gewalt zu bindende Gegenſaͤtzlichkeit in ſich enthält, entfalten die Römer ihre Eigentümlichkeit und Größe. „In Griechenland war die Demos kratie die Grundbeſtimmung des politiſchen Lebens, wie im Orient der Deſpotismus; hier iſt es nun die Ariſtokratie, und zwar eine ſtarre, die dem Volke gegenüberſteht. Auch in Griechenland hat ſich die Demokratie, aber nur in Weiſe der Faktionen entzweit; in Rom ſind es Prinzipien, die das Ganze geteilt halten, ſie ſtehen einander feindſelig gegenüber und kämpfen miteinander: erſt die Ariſtokratie mit den Königen, dann die Plebs mit der Ariſtokratie, bis die De⸗ mokratie die Oberhand gewinnt; da erſt entſtehen Faktionen, aus denen jene ſpatere Ariſtokratie großer Individuen hervorging, welche die Welt bezwungen hat. Dieſer Dualismus iſt es, der eigentlich Roms innerſtes Weſen bedeutet.“ 22 Die erſte Periode der roͤmiſchen Geſchichte bringt es zu einem „zeitweiligen Gleichgewicht“ der jo miteinander ringenden Extreme. Es iſt die Zeit, wo die rechtliche Befreiung der Plebs durch ihren Anteil an den höheren Staatswürden und am Grund und Boden vollbracht war. „Durch dieſe Vereinigung des Patriziats und der Plebs gelangte Rom erſt zur wahren inneren Konſiſtenz, und erſt von da ab hat ſich die römiſche Macht nach außen entwickeln können. Es tritt ein Zeitpunkt der Befriedigung in dem gemeinſamen In⸗ tereſſe ein und der Ermüdung an den inneren Kämpfen.“ Die im 2 L, III, 686, 692 = B, 364. 384f. u L, III, 667. 671. 672. 693 = B, 367. 380, 385, 2 . III, 662 f. B, 361f. eeeſe, Befhitsphilofopdie Hegele 15 226 Dritte Stufe: Die römiſche Welt Innern aufgeſpeicherte Energie entlädt ſich nach außen. Glück, Reichtum, Ruhm, Not, Diſziplin und Kriegskunſt begünſtigen den inneren Zuſammenhalt. 23 Es treten die Charaktere auf, die „das, was ſie ſind, nur für den Staat ſein wollen“. 24 In dem Patriotis⸗ mus, in der „abſoluten Aufopferung für das Eine“ hat der römiſche Staat feinen Halt. In der neuen Ausgabe bezeichnet Hegel die Ariſtokratie als die ſchlechteſte Verfaſſung, weil ſelbſt im günſtigſten Falle jener Ausgleich nicht als beſtimmte, dritte Macht vorhanden iſt. „Das Gleichgewicht iſt nur palliativ und temporär, und der Bruch zeigt ſich hernach nur um ſo fürchterlicher.“ 28 Zu ſeinem Gleichgewicht erſtarkt treten die Römer in die zweite Periode ihrer Geſchichte ein. „Patrizier und Plebejer, miteinander ausgeſöhnt, kommen als ein einiges Volk in Berührung mit aus⸗ ländiſchen Nationen; ſie treten vornehmlich mit Sizilien, Spanien und Karthago, dann mit Makedonien, Griechenland, Kleinaſien, Syrien, Agypten, kurz mit dem großen Rund des Mittelländiſchen Meeres, mit all dieſen mächtigen, gebildeten Völkern faſt zu gleicher Zeit in feindliche Beziehungen.“ ?7 Es kommt die Zeit der Puniſchen Kriege und der Zerſtörung Korinths. „Kathagos Fall und Griechen⸗ lands Unterwerfung waren die entſcheidenden Momente, von welchen aus die Römer ihre Herrſchaft ausdehnten. In dieſer Periode des Sieges ziehen die ſittlich großen und glücklichen Individuen, vor nehmlich die Scipionen, unſeren Blick auf ſich. Sittlich glücklich waren fie, wenn ſchon der größte der Scipionen äußerlich unglück- lich als Verbannter endete, weil ſie in einem geſunden und ganzen Zuſtand ihres Vaterlandes für dasſelbe tätig waren.“ 28 Was Pe⸗ rikles für Athen, bedeuten alſo die Scipionen für Rom. Sie ſind die Exponenten der höchſt erreichbaren Identität des ſubjektiven und objek⸗ tiven Geiſtes, von Individuum und Staat, zu der es Rom gebracht hat. Ein ausgeführteres Bild der Seipionen hat Hegel nicht hinterlaſſen. 23 L, III, 699 ff. B, 300 f. „ L, III, 701. 2 L, III, 699. “ L, III, 698f. 2 L, III, 201. 26 L, III, 703; nur der erſte Satz auch B, 394. 227 4 3. Die Phaſe des Widerſpruchs Dem Siegerglück folgt nicht (wie bei den Griechen auf die mediſchen Kriege) der „ſchoͤne Glanz in Bildung, Kunſt und Wiſſenſchaft, worin der Geiſt innerlich und idealiſch genoß, was er vorher prak⸗ tiſch vollführt hatte“. Die geiſtige Kultur Roms iſt arm und un⸗ ſchoͤpferiſch, nachahmend und empfangend gegenüber der Griechen⸗ lands. Die Romer find das Volk der „abſtrakten Herrſchaft“, fie haben keine konkrete innere Lebendigkeit des Geiſtes, der ſich in originalen Schöpfungen der Phantaſie und des Denkens zum Be⸗ wußtſein bringt. Sie erobern, plündern, erpreſſen, häufen Sieges⸗ beute auf Siegesbeute, unterjochen Nationen, veranſtalten Triumphe, . Tier⸗ und Menſchenhetzen. Prunkendes Schaugepränge, Luxus und Schwelgerei kennzeichnen die Außerlichkeit ihres Geiſtes und künden das nahende Verderben. „Cato ſagte nach jeder Beratung des Se⸗ nato: ceterum censeo Carthaginem esse delendam, und Cato war ein echter Römer. Das römiſche Prinzip ſtellt ſich dadurch als die kalte Abſtraktion der Herrſchaft und Gewalt heraus, als die reine Selbſtſucht des Willens gegen andere, welche keine ſittliche Erfül⸗ lung in ſich hat, ſondern nur durch die partikulären Intereſſen In⸗ halt gewinnt. Der Zuwachs an Provinzen ſchlug um in eine Ver⸗ mehrung der inneren Partikulariſation und in das daraus hervor⸗ gehende Verderben.“ 29 An die Stelle des früheren Gegenſatzes der Patrizier und Plebejer tritt der Gegenſatz der partikulären Intereſſen und der patriotiſchen Geſinnung. 30 „Es erſcheint ... jetzt neben den Kriegen um Eroberung, Beute und Ruhm das fürchterliche Schau⸗ ſpiel der bürgerlichen Unruhen in Rom und der einheimiſchen Kriege.“ 31 Das müßhſam erreichte ſtaatliche Gleichgewicht gerät ins Wanken. Die gebundenen Gegenſätze entwickeln ſich zum unverträg⸗ lichen Widerſpruch. „Es tritt... die Partikularität in ihrem Gegen: % , III, 680 f. 704 f. 710f. - B, 378 f. 395f. 400. ® L, III, 206 = B, 394. * L, III, 706 = B, Zoaf. 15* 228 Dritte Stufe: Die römiſche Welt ſatze gegen das Allgemeine auf.“ „Die zurückgehaltene Beſonderheit allein bricht los.“ ?? Dieſe kurzen Sätze der neuen Ausgabe formu⸗ lieren das Prinzip des Verderbens, das nun ungehemmt ſeinen Lauf nimmt. 33 Der Zeit der inneren Auflöſung gehören die „koloſſalen Individualitäten“ der Gracchen, des Marius, des Pompejus, des Cäſar, des Cicero an, die aus der Zerrüttung des Staates mit dem Bedürfnis hervorgehen, die „Einheit des Staates herzuſtellen, die in der Geſinnung nicht mehr vorhanden war“. 34 Es war der kurz⸗ ſichtige Irrtum Ciceros, daß er glaubte, die alte Staatsform der Republik könne durch „momentane Nachhilfe“ und hierfür geeignete Perſonen erhalten werden. Nachdem die patriotiſche Hingebung der Bürger an den Staatszweck gewichen und „an Stelle der Ge⸗ ſinnung der Geſamtheit“ die Partikularität getreten, da ferner kein die Geſamtheit bindender „geiſtiger Mittelpunkt“ vorhanden war, ſo war es nicht die Zufälligkeit der Perſon Cäſars, ſondern welt⸗ geſchichtliche Notwendigkeit, daß das Scheinweſen der Republik ge⸗ ſtürzt werden mußte und der Staat nur noch im Willen und in der Militärgewalt eines einzigen Individuums ſeinen Halt finden konnte. Die Erſcheinung Cäſars hat die „höhere Berechtigung des Welt⸗ geiſtes für ſich“. 55 Mit Cäſar beginnt die dritte Periode der römiſchen Welt. Er iſt ein „Muſter römiſcher Zweckmäßigkeit“, der mit tätigem, prak⸗ tiſchem, leidenſchaftsloſem Verſtand den Zuſammenhalt der römi⸗ ſchen Welt durch die Gewalt gegen die Partikularität durchgeſetzt, indem er die inneren Gegenſätze beſchwichtigt, durch Eroberungs⸗ kriege in Gallien, Britannien und Germanien einen „neuen Schau⸗ platz für die Weltgeſchichte“ eröffnet und an die Spitze der römischen Welt ſich ſtellend ſich zum Herrſcher der Welt gemacht hat. 3% Deutſchland, Frankreich, Dänemark, Skandinavien bilden das „Herz Europas“, die Welt, die Julius Cäſar aufgeſchloſſen hat. „Dieſe 5 L, III, 705f. ®® L, III, 706ff.=B, 396ff. “ L, III, 208 B, 398, L, III, z708ff. 712 BB, 398 ff. 401. ®L, III, zııf,=B, 400f. ee * A Zu ah Wil ee Die Pele bes Miderfprucht 229 . Tat Cäſars, hier die Beziehung aufgetan zu haben, iſt die Mannestat, wie die Jünglingstat, Vorderaſien abendländiſch gemacht zu haben, das Unternehmen Alexanders des Großen war.“ 97 Die neue Ausgabe faßt zuſammen: „Die römische Welt: herrſchaft wurde fo einem einzigen zuteil. Dieſe wichtige Verän⸗ derung muß nicht als etwas Zufälliges angeſehen werden, ſondern fie war notwendig und durch die Umſtände bedingt. Indem Cäſar ſeine Partikularität über die vielen Willküren geſtellt, Rom von den vielen niedrigen und kleinlichen Partikularitäten gereinigt und ſich an ihre Spitze geſetzt hat, hat er das Notwendige getan. Die Par⸗ tikularitäten laſſen ſich nur auflöſen entweder durch Gewalt oder durch die Aufhebung im Geiſte.“ 33 Die nachfolgende Entwicklung der Kaiſerzeit bringt prinzipiell nichts Neues. Sie zeigt nur in vergrößertem Maßſtab, was ſchon bei Cäſar feſtzuſtellen iſt, das übermäßige Erſtarken des deſpotiſch re⸗ gierenden Individuums. Es folgen nun die Sätze, die zur ſpäteren Beantwortung der Frage, welcher Ort dem römiſchen Geiſt in der dialektiſchen Selbſtbewegung des Weltgeiſtes angewieſen werden muß, von auferordentlicher Wichtigkeit find: „In dem Individuum des Imperators iſt die partikuläre Subjektivität zur völlig maß⸗ loſen Wirklichkeit gekommen. Der Geiſt ift ganz außer ſich gekommen, indem die Endlichkeit des Seins und des Wollens zu einem Unbeſchränkten gemacht iſt. Der Wille des Kaiſers hat keine Grenze, als daß er Menſch war... Diefe Kaiſer ſtellen das Außerſichgekommenſein des Geiſtes dar, die wiſſende, wollende, unbeſchränkte Endlichkeit. Die partifuläre Subjektivität in ihrer völligen Losgebundenheit bat keine Innerlichkeit... Sie iſt die Begierde, die Luſt, die Leidenſchaft, der Einfall, kurz die Willkür in ihrer gänz⸗ lichen Unbeſchränktheit. An dem Willen anderer hat ſie ſo wenig eine Schranke, daß vielmehr das Verhältnis von Willen zu Willen das L, I, 20. = B, 153. L. III, 211, 230 Dritte Stufe: Die römiſche Welt der unbeſchränkten Herrſchaft und Knechtſchaft iſt. Soweit die Menſchen wiſſen auf der bekannten Erde iſt kein Wille, der außer dem Willen des Imperators läge.“ 39 Die neue Ausgabe bringt den ſo gearteten Geiſt auf die kurze und ſchlagende Formel: „Die bloße Endlichkeit iſt Zweck.“ 40 Wie auf der einen Seite der „abſtrakte Staat“, der die Politik und die Gewalt über die konkrete Individualität ſetzt und dieſe unter⸗ ordnet, ſich zur Perſon des Einen Imperators aufgipfelt, jo vol⸗ lendet ſich auf der andern Seite das „abſtrakte ſtarre Subjekt“ in der Ausbildung des Privatrechts. 1 „Dieſem Einen ſtehen die In⸗ dividuen als Privatperſonen gegenüber, als eine unendliche Maſſe von Atomen.“ 42 Das Privatrecht ſetzt die Freiheit und Reali⸗ tät der Perſon in die äußerliche Sache des Eigentums. Und der Staatsorganismus löſt ſich in die „Atome der Privatperſonen“ auf, die nur in rechtlichen Verhältniſſen zueinander ftehen. +3 Es iſt das für den römiſchen Volksgeiſt konſtitutive „Prinzip der abſtrakten Innerlichkeit“, das ſich in dem formal- rechtlichen Begriff der Perſon realiſiert und damit zu ſeiner letzten und höchſten Bedeutſamkeit gelangt.“ Mit der Konſtituierung der Sphäre des Rechts hat die rö⸗ miſche Verſtandesbeſtimmtheit der Nachwelt ein „großes Geſchenk“ gemacht und gegenüber der orientaliſchen und griechiſchen Welt einen nicht zu unterſchätzenden Fortſchritt erzielt. Hier kommen wir auf einen wichtigen Abſchnitt zurück, durch den die orientaliſche Welt Hegels in der neuen Ausgabe bereichert worden iſt. Es iſt der Abſchnitt über die Verſtaatlichung der Moralität.“ Recht und Ge: ſetz bilden das Rückgrat jeder Verfaſſung. Auf ihnen beruht die Zwangsgewalt des Staates. Sie ſind das „äußere Daſein der Frei- heit, wodurch ſich die Freiheit zu einer Sache macht“. Von der % L, III, 714 B, 404. Sperrung vom Verf. % L, III, 218. 4 L, III, 662, 717 = B, 361. 406. L, III, 215f. “ L, III, 7216 = B, 405f. A. a. O. 46 L, II, zooff. Bi, . * * 1 1 3 BR, Pa 7 ’ 3 N 1 * * 1, 1 N * r f zu: a, — He Az m ee 1 9 * 3 Phaſe 231 18 7 * 1 f Außeren Iwangsfphäre des Rechtlichen zu ſcheiden iſt das innere Diaſein der Freiheit, die Moralität, die Sittlichkeit im engeren Sinn, die „durchaus dem freien Geiſte anheimzuſtellen“ iſt, die nur dem „Subjekte eigentümlich“ ſein und nicht erzwungen werden kann. Die Moralität iſt das „Feld meiner Einſicht, Abſicht und Beſtim⸗ i mung meiner ſelbſt“. Es ift das Gebrechen der orientalifchen Sltaatsweſen, jene objektive von dieſer ſubjektiven Freiheit nicht zu Aunterſcheiden, ſondern fie durch Vereinerleiung des moraliſch Sitt⸗ lichen mit dem Rechtsgebot ineinanderfließen zu laſſen. Darum hat der Begriff der Ehre in ihnen keine Daſeinsberechtigung. Denn die Ehre betrifft den „unantaſtbaren Kreis deſſen, was ich für mich bin“. 46 Auch die griechiſche Welt hat dieſen Mangel der orien⸗ f taliſchen nicht überwunden. Denn Sitte und Geſinnung iſt dem Griechen zugleich juriſtiſches Recht. Erſt die Römer haben durch die Entdeckung und Feſtſtellung von dem, was juüriſtiſch rechtlich ſei, dieſe „große Trennung“ vollbracht. „Sie ſind das Opfer ge⸗ worden für die Freiheit, die der Nachwelt zuteil geworden iſt. Sie haben in jener Trennung gelebt, aber noch nicht zugleich Geiſt, Gemüt und Religion gehabt. Dies hat ſich daher ganz abgetrennt, und ſie haben für andere die innere, geiſtige Freiheit gewonnen, die von jenem Gebiete des Außerlichen und Endlichen ganz frei geworden iſt. Geiſt, Gemüt, Geſinnung und Religion haben nun nicht mehr zu befürchten, daß ſie mit jenem abſtrakten juriſtiſchen Verſtande verwickelt werden.“ !7 Der Abſtraktion des dürren Verſtandes mit feinen formalsrechtlichen Kategorien iſt die römifche Welt auf⸗ geopfert worden, damit die Bahn frei werde für das Prinzip der unendlichen Subjektivität und Freiheit. „Abſtrakte Freiheit“ hat Hegel die römische Freiheit genannt, weil fie nur die Sprö⸗ digkeit und Härte der im Privatrecht fixierten Perſon als Letztes kennt, die gleichgültig iſt gegen die konkreten Beſtimmungen des lebendigen Geiſtes, mit denen es die Individualität zu tun hat.““ % . 8. O. , III, 675 = B, 373. , III, 662. 674 = B, 361. 372. 232 Dritte Stufe: Die römiſche Welt Auf dieſer Atomiſierung beruht denn auch das Grundgebrechen des römiſchen Staatsweſens: der „gänzliche Mangel an der Idee einer Organiſation“. Zwiſchen dem Kaiſer und dem Volk ſteht keine „feſte, rechtliche und ſittliche Mitte“. 49 „Wir ſehen keinen politiſchen Kör⸗ per mehr, ſondern einen Herrſcher und ſonſt nur Privatperſonen. Der politiſche Körper iſt ein faulender Leichnam, der voller ſtinkender Würmer iſt, und dieſe Würmer ſind die Privatperſonen.“ 50 Drei Momente haben den Untergang Roms herbeigeführt. Zu vör⸗ derſt, eine allen ſittlichen Inhalts bare Ordnung und Herrſchaft, die zur Losbindung aller Mächte des Privatintereſſes und der Pri⸗ vatluſt führte. Zweitens, der Geiſt, der „ſich in ſich als in ein Höheres zurückzieht“. Das geſchieht einerſeits durch die Philo⸗ ſophien des Stoizismus, Epikureismus und Skeptizismus. Ihre Be⸗ deutung iſt eine vorwiegend negative, indem ſie einer Welt, die nichts Feſtes mehr hat, den „Rat der Verzweiflung“ geben. Sie laufen nämlich darauf hinaus, den „Geiſt in ſich gleichgültig zu machen gegen alles, was die Wirklichkeit darbietet“. Andrerſeits ge⸗ ſchieht es durch das Chriſtentum. „Beide unterminieren das Be⸗ ſtehende und ſind das Revolutionäre gegen das römiſche Weſen.“ Drittens, der äußerliche Einbruch der nordiſchen und öſtlichen Barbaren in der Völkerwanderung, eines Stromes, dem das rö- miſche Imperium keinen Damm mehr entgegenſtellen kann. 51 4. Die Dialektik des römiſchen Geiſtes Die hiermit vollzogene Analyſe zeigt nun, daß Hegel das dialektiſche Prinzip in der römiſchen Welt nicht mit der Vollkommenheit heraus⸗ zuarbeiten vermochte, wie ihm dies in der griechiſchen gelungen iſt. Es handelt ſich nicht um die Frage der hiſtoriſchen Richtigkeit. Es handelt ſich um den philoſophiſchen Gehalt, um die Eigentümlichkeit % L, III, 703 f. 709. 716f. = B, 398, 406, ®° L, III, 716. „ L, III, zı8f.=B, 406f, ee 233 N W Hegels, die ſich in ſeiner Geſchichtsbetrachtung äußert. E Sie ſpitzt ſich auf das Problem der Dialektik zu, in deſſen Auf⸗ bellung wir eine der Hauptaufgaben der Hegelforſchung ſehen. Das geiſtige Prinzip, das das Perſerreich, als erſtes welt⸗ geſchichtliches Volk, über Agypten hinweg dem Griechentum vers machte, war das des aufdämmernden Individualismus, der der uns mittelbaren Verſenktheit des Geiſtes in die Natur ein Ende bereitet. Die griechiſche Welt hat das Prinzip des ſich in ſeinem Eigen⸗ wert und ſeiner Selbſtändigkeit erfaſſenden Geiſtes zum Prinzip der ſchoͤnen Sittlichkeit und Freiheit fortgebildet, das ſich in einer Kultur auswirkt, die die Natur vom Geiſt beherrſcht und gemeiſtert zeigt. Die Quelle des weiteren Fortſchritts und Verderbens war das Element der Subjektivität und Innerlichkeit. Es zerſtörte die Identität des ſubjektiven und objektiven Geiſtes, d. h. die ſtaatlich⸗ kulturelle Einheit und Geſchloſſenheit, die dem Griechentum erreich⸗ bar war. Der Widerſpruch, das Prinzip des Verderbens, war das Übermächtigwerden der partikulären Intereſſen und Leidenſchaften, Individuen und Faktionen, die kein Verhältnis mehr zum Gemein⸗ geiſt hatten und der Idee des den einzelnen verpflichtenden Ganzen verluſtig gingen. Von innen aber und in ſeiner Tiefe geſehen war das Prinzip des Verderbens ein neues geiſtiges Prinzip, nämlich das der freien Subjektivität und Moralität, des ſeiner ſelbſt gewiſſen, autonomen Gedankens, der nichts auf Treu und Glauben hinnimmt, ſondern Eritifch ſichtet, verwirft und bejaht kraft eigener Vollmacht. Dieſes revolutionäre Prinzip der ſubjektiven Innerlichkeit ſoll in der nächſten, der römiſchen Welt zur Verſöhnung, d. h. in Ein⸗ klang mit dem Geſamtgeiſt kommen. Es zeigt ſich aber, wie wir ſahen, daß es nirgends recht zur Verſöhnung kommt, daß dem rö⸗ miſchen Volksgeiſt die Identität verſagt bleibt, zu der es der grie⸗ chiſche brachte. Das neue Prinzip der Innerlichkeit erſcheint nirgends wie das der jchönen Individualität in ſiegreichem Kampf mit einer elementariſchen Natur, der es ſich einbildet und ſeinen Herrſcher⸗ [74 234 Dritte Stufe: Die römiſche Welt willen aufprägt. Nicht umſonſt betont Hegel die dualiſtiſche Geteiltheit der römiſchen Welt. Neben der unſittlichen Härte des altrömiſchen Ehe- und Familienlebens äußert ſich das Prinzip der Innerlichkeit als Unantaſtbarkeit des monogamiſchen Verhältniſſes. Neben dem öden Formalismus und dem hausbackenen Nützlichkeits⸗ ſtandpunkt der Religion ſteht das Prinzip der Innerlichkeit als ge⸗ wiſſenhafter Ernſt und feierliche Gravität. Und endlich reinigt ſich, wie Hegel ſagt, das Prinzip der Innerlichkeit zur abſtrakten, im Privatrecht verſachlichten Perſon, die in ihrer Sprödigkeit und Exkluſivität keinen geiſtig⸗individuellen, lebendigen Gehalt mehr in ſich hat. Dieſe unzählig vielen Rechtsperſonen, in die die römiſche Welt allmählich zerfällt, können alsdann nur durch die ihnen gegen: überſtehende deſpotiſche Gewalt eines überragenden Einzelwillens zuſammengehalten werden. Die Verſöhnung iſt im günſtigſten Fall, in der glücklichſten Periode der römiſchen Geſchichte, ein temporäres, mühſam genug errungenes „Gleichgewicht“ der auseinanderſtreben⸗ den Kräfte, dem ein nur um ſo fürchterlicherer Bruch nachfolgt. Der Widerſpruch, das Prinzip des Verderbens, das den Bruch herbei⸗ führte, iſt dasſelbe wie das der griechiſchen Welt: die „Partikulari⸗ tät“ der privaten Intereſſen und Leidenſchaften, die die patriotiſche Geſinnung, den „Sinn für den Staat“ und den „Zweck für das Vaterland“ s? untergraben, indem fie die „reine Selbſtſucht des Willens“ an ſeine Stelle ſetzen. Dies Prinzip des Verderbens war in der griechiſchen Welt die Oberflächenerſcheinung eines neuen, revolutionär⸗ſchöpferiſchen Prinzips, das in der Tiefe bohrte und deſſen vornehmſter Sprecher Sokrates war. Gilt dasſelbe nun auch von dem Prinzip des Verderbens in der römiſchen Welt? Die Frage iſt zu bejahen. a Das Griechentum hat den in ſeiner Individualität ſich regenden Geiſt des ausgehenden Orients zum Geiſt der ſchönen Sittlichkeit und Frei⸗ heit erhöht. Der Geiſt der ſchönen Individualität hat ſich dann 52 L, III, 706 = B, 394. 397. Die Dialektik des römischen Geiſtes 235 * landen der griechiſchen Welt ſelber zum Prinzip der ſubjektiven N Innerlichkeit vertieft, ohne daß ſie dieſen neuen Geiſt ertragen f konnte. Wie die griechiſche gegenüber der orientaliſchen Welt, fo 4 hat auch das Römertum das von den Griechen her überkommene Prinzip der Innerlichkeit nicht jo gelaſſen, wie es war. Es hat dieſes Prinzip fortgebildet zur Autonomie der durch das Recht ge⸗ heiligten Perſon. „Es iſt der Stolz der Einzelnen, abſolut zu gelten als Privatperfonen, — denn das Ich erhält unendliche Berechtigung; aber der Inhalt derſelben und das Meinige iſt nur eine äußerliche Sache, und die Ausbildung des Privatrechts, welches dieſes hohe Prinzip einführte, war mit der Verweſung des politiſchen Lebens ver⸗ bunden.“ 53 Das Prinzip des Verderbens iſt alſo, wie geſagt, in der griechiſchen und römiſchen Welt genau das gleiche, aber nur als Oberflächenerſcheinung der losgebundenen, die Staatseinheit zerſtö⸗ renden Partikularität. Der ſchöpferiſch⸗ revolutionäre Tiefengehalt iſt in der roͤmiſchen Welt ein anderer, neuer: die „unendliche Berechti⸗ gung“ oder, wie Hegel in der neuen Ausgabe nun auch ſagt: der „unendliche Wert des Individuums“.““ Dieſer Wert iſt allerdings erſt noch ein negativer. Wie die Konſtituierung der Sphäre des Rechts mit ihren äußerlichen, geiſt⸗ und gemütloſen ab⸗ ſtrakten Verſtandesbeſtimmungen weſentlich die negative Bedeu⸗ tung hatte, die Freiheit der unendlichen Subjektivität zu ermöglichen, die der Nachwelt zuteil geworden iſt, ſo iſt auch der in der Rechts⸗ ſphäre erreichte Wert der Perſönlichkeit noch ohne inhaltliche Er⸗ füllung, ein abſtrakter und formeller.“ „Das Element der Inner⸗ lichkeit iſt realiſiert in der Perſönlichkeit der Individuen.“ “ Aber ſie iſt eine „leere Innerlichkeit“. 57 „Dieſe Innerlichkeit aber kann nicht leer bleiben; ſie muß ſich vollführen; ſie muß ſich einen Gegen⸗ ſtand und Inhalt geben.“ 's Die poſitive Erfüllung der perſonhaften Innerlichkeit war innerhalb der römiſchen Welt ſelber nicht mehr 2 L., III, 716 = B, 406. L., III, 723. Sperrung vom Verf. , III, 724 = B, 499. A. a. O. , III, 724. 236 Dritte Stufe: Die römiſche Welt möglich. Ein Erfüller wie Sokrates iſt ihr nicht erſtanden. Das philoſophiſche Denken iſt von der Bläſſe der Negation angekränkelt. Der Geiſt zieht ſich in ſich als in ein Höheres zurück, indem er auf alles Außere, auf die ganze Welt Verzicht leiſtet. „Ihre (der philo⸗ ſophiſchen Schulen) gemeinſame Anſchauung iſt das Zurückziehen des Geiſtes aus allem Außeren, in dem Selbſtgenügen des Geiſtes.“ 59 Poſitiv kann der unendliche Wert des Individuums erſt in einer neuen weltgeſchichtlichen Geſtalt verwirklicht werden, dem Chriſtentum. Nachdem hiermit das Problem der Identität und des in der Zer⸗ ſtörung ſchöpferiſchen Widerſpruchs ſeine Aufhellung gefunden hat, erhebt ſich noch eine andere Frage von nicht geringerer Wichtigkeit. Wir ſprachen bisher ſtets von der Dialektik der Geiſt-Natur als dem gedankenhaften Kerngehalt der Hegelſchen Geſchichtsphilo⸗ ſophie. Der römiſche Volksgeiſt iſt uns in ſeinem dialektiſchen Gang von der Identität zum Widerſpruch deutlich geworden. Wo aber ſteckt das Moment der „Natur“, das in der orientaliſchen und griechiſchen Welt eine ſo große Rolle ſpielte? Iſt es von Hegel in der römiſchen Welt unterſchlagen? Iſt er dem grundlegenden Prinzip feiner Geſchichts⸗ philoſophie untreu geworden? Das iſt von vornherein ſehr unwahr⸗ ſcheinlich. Aber, was iſt dann in der Geſtalt des römiſchen Geiſtes „Natur“? Die Antwort auf dieſe letzte Frage können wir erſt im Zuſammenhang der Erörterungen über das Chriſtentum gewinnen. Hegel hat früher vom „Umſchlagen“ des morgenländiſchen Prinzips geſprochen. 60 Er meinte damit, daß die Verſenktheit des Geiſtes in die ihn umklammernde und knechtende „Natur“ nun umgekehrt einer vom freien Geiſt beherrſchten Natur zu weichen habe. Wir haben jetzt den Punkt erreicht, an dem abermals eine gewaltige Umlagerung in der Dialektik der Geiſt-Natur einſetzt. Und wir können mit dem Auf: treten der chriſtlichen Religion ſinngemäß von einem Umſchlagen des römiſchen Prinzips ſprechen. se L, III, 725. e A. a. O. 0 Vergl. oben S. 172. IV. Vierte Stufe: Die chriſtliche Welt 1. Das Chriſtentum a) Die Herausbildung des chriſtlichen Prinzips Der römische Geiſt hat in dualiſtiſcher Zuſpitzung zwei Endpunkte erreicht, die Herrſcherwillkür des Imperators und die rechtliche Atomiſierung der abſtrakten Perſönlichkeit. Der Zuſtand des Rechts iſt damit vollendete Rechtloſigkeit. „Das Subjekt iſt nach dem — | u” — Prinzipe feiner Perſonlichkeit nur zu dem Beſitze berechtigt, und die Perſon der Perſonen zum Beſitz aller, jo daß das einzelne Recht zugleich aufgehoben und rechtlos iſt. Dieſer Widerſpruch iſt das Elend der römiſchen Welt.“! Es zeigt ſich nun aber, daß dieſer Widerſpruch zwiſchen der durch das Recht ſanktionierten, unendliche Berechtigung beanſpruchenden Perſon und der „zur Unendlichkeit ge⸗ ſteigerten Endlichkeit“ des Imperators eine gemeinſame Wurzel hat, nämlich die Verabſolutierung des endlichen Sub⸗ jekts überhaupt. Auf ihr beruht die Ratloſigkeit, der Schmerz, die Trauer, das ſtumpfe fataliſtiſche Leiden, die Unſeligkeit, Zerriſſen⸗ heit und Sehnſucht der römiſchen Welt. Die Verabſolutierung des endlichen Subjekts iſt der Grund, weshalb der unendliche Wert des Individuums mit negativem Vorzeichen als leere Innerlichkeit ver⸗ bleibt, die keine bejahende Erfüllung findet.? Sie iſt aber auch die „Zucht der Welt“, durch die das „Subjekt von ſich ſelbſt fort⸗ und zu einer abſoluten Grundlage hingezogen“ wird.“ Der Boden für L. III, 724 = B, 409. L, III, 720 = B, 407; L, III, 223 f.; vgl. beſonders oben S. 229. I, III, 727. 238 Vierte Stufe: Die chriſtliche Welt eine höhere geiſtige Welt ward damit bereitet. „Ihr (der römiſchen Welt) ganzer Zuſtand gleicht daher der Geburtsſtätte und ihr Schmerz den Geburtswehen von einem anderen höheren Geiſt, der mit der chriftlichen Religion geoffenbart worden.““ Die ſtoiſche Phi— loſophie hatte dem neuen, höheren Geiſt Vorläuferdienſte geleiſtet. Sie hat die römiſche Innerlichkeit und Subjektivität zur Form der Allgemeinheit gereinigt und damit den „Boden des Gedankens“ ges wonnen, auf dem Gott als der Eine und Unendliche gewußt werden konnte.? Aber an der Welt in ihrer konkreten Beſtimmtheit hatte ſie, wie wir ſahen, verzweifelt. Darüber mußte der Geiſt hin⸗ ausgehen. „Der Abend hat ſich nach einer tieferen Unermeßlichkeit geſehnt und ſolche im Morgenlande gefunden;... der Geiſt, in die Endlichkeiten der römiſchen Welt gebannt, in das Außerliche und die endlichen Zwecke ver— loren, hat ſich nach dem Einen, dem in und für ſich Seienden ge— ſehnt. Er verlangte aber nach einer tieferen, rein innerlichen Allge⸗ meinheit, nach einem Unendlichen, das zugleich die Bes: ſtimmtheit in ſich hätte.“ Mit der Unendlichkeit, die das Prinzip der für ſich ſeienden Endlichkeit in ſich ſchließt, und der Endlichkeit, deren Weſen und Gehalt die Unendlichkeit iſt, iſt auf dem Boden der ſubjektiven Innerlichkeit die chriſtliche Reli⸗ gion, „dieſe entſcheidende Angelegenheit der Weltgeſchichte“, auf: getreten.“ Endlichkeit und Unendlichkeit find jetzt die „regierenden Kategorien der Welt“. | Die bisher regierenden Kategorien, mit denen wir es in der Philo⸗ ſophie der Weltgeſchichte zu tun hatten, waren Natur und Geift, Soll etwa an die Stelle der Dialektik der Geiſt-Natur eine neue Dialektik, die von Endlichkeit und Unendlichkeit treten? Und bisher bewegten wir uns in dem dialektiſchen Gang der Geiſt-Natur auf dem Boden des geiſtig⸗-geſchichtlichen Daſeins der Menſchheit. Soll 4 L, III, 721 B, 408. I, III, 731 B, 4220, I, III, 731 Bi 2 E Die Sperrung vom Verf. ' L, III, 720 = B, 407, , III, 723. keit ein ſupranaturaliſtiſches Prinzip eingeführt werden, das Hegels Geſchichtophiloſophie auf das unheilvollſte verwirren koͤnnte? So einleuchtend es auf den erſten Blick erſcheint, dieſe Frage zu bejahen und Hegel der Inkonſequenz zu zeihen, ſo ſind ſie bei näherem Zu⸗ ſehen auf das beſtimmteſte zu verneinen. Hegel geht den einmal eingeſchlagenen Weg in bewunderungswürdiger Folgerichtigkeit zu Ende, auch da, wo er von ihm abzubiegen ſcheint. Um dieſe Theſe zu erhaͤrten, müſſen wir uns aber erſt vergegenwärtigen, wie Hegel in feiner Geſchichtsphiloſophie das Weſen der Religion, als Idealbegriff gefaßt, erläutert hat. Hegel nimmt bei der Erörterung der orientaliſchen Naturreligionen mehrfach Gelegenheit, ſich über das Weſen echter und wahrhafter Religioſität zu verbreiten. Zu dem, „was wir Religion nennen“, gehort die „Innerlichkeit des Geiſtes“, gehört individuelle Freiheit und Geiſtigkeit. Die Religion gehört damit einer Sphäre des Lebens an, über die eine äußere, treibende Gewalt, ſei es die des Staates, fei es die der Natur, keine Macht mehr hat.“ Weſentlich für die Religion des geläuterten Geiſtes iſt zweitens, daß in ihr das Individuum einen „unendlichen Wert“ gewinnt. 10 Damit tritt die Religion in eine Sphäre, die ſich ausgleichend und verſöhnend über alle Ungleichheiten des Menſchenlebens wölbt. In ihr ſind alle Menſchen gleich. „Aber nicht nur gleich ſind ſie; ſon⸗ dern in der Religion und durch die Religion ſind alle gewürdigt, einen abſoluten Wert zu haben, der von dem beſonderen des Standes ganz frei iſt.“ 11 Die Religion iſt der Ort der unantaſtbaren Men⸗ ſchenwürde. Zur Religion, wie Hegel fie verſteht, gehoͤrt drittens, daß fie es nicht mit einem dem Menſchen im tiefſten Grunde fremden, | ſupranaturaliſtiſchen Inhalt zu tun hat. Vielmehr kommt ihm in , II, 320f. % A. a. O. U L, II, 377 = B, 206, * Dos Chuiſentum 230 * nunmehr etwa der Boden der Immanenz verlaſſen und bei der An— naäberung an die chriſtliche Religion mit der Kategorie der Unendlich⸗ * N 240 Vierte Stufe: Die chriſtliche Welt der Religion „ſein innerſtes Weſen“ zum Bewußtſein. 1? „Uns iſt die Religion das Wiſſen des Weſens, das eigentlich unſer Weſen iſt, und daher die Subſtanz unſeres Wiſſens und Wollens, das die Be⸗ ſtimmung erhält, ein Spiegel dieſer Grundſubſtanz zu ſein.“ 18 Hegel ſagt hinſichtlich des Menſchen geradezu: Gott iſt das „Weſen ſeines Geiſtes“. 14 Damit formuliert Hegel in feiner Sprache — weit ent⸗ fernt von der illuſioniſtiſchen Auffaſſung der Religion im Sinne Feuerbachs — den der Myſtik geläufigen Gedanken von der weſenhaften Einheit des Menſchen mit Gott. Charakteriſtiſch für Hegels Religionsauffaſſung iſt aber nun vie r⸗ tens die Wendung zum Perſonalismus. Zu jener „Grundſubſtanz“ gehört, daß „dieſes Weſen ſelbſt Subjekt mit göttlichen Zwecken ſei, welche der Inhalt des menſchlichen Handelns werden können“. 15 Hegel bemängelt an der indiſchen Naturreligion, daß das „Gött⸗ liche nicht zum Subjekte, zum konkreten Geiſt individualiſiert“ iſt. 16 Über der Vielgeſtaltigkeit der griechiſchen Götterindividua⸗ litäten aber ſchwebt als die „Idee des Einen“ das abſtrakte, geiſt⸗ loſe Fatum. „Das Höhere, daß die Einheit als ein Subjekt, als der eine Geiſt gewußt wird, war den Griechen noch nicht bekannt.“ 17 Troeltſch bemerkt gelegentlich, daß Hegels Lehre als „immanen⸗ ter Theismus“ zu verſtehen fei.t? Dieſer paradoxe Ausdruck be⸗ zeichnet treffend die eigentümliche Syntheſe, die Hegel zwiſchen Myſtik und Perſonalismus auf der Baſis des Immanenzgedankens vollzogen hat. Nach dieſen Vorausſetzungen kann die Einführung der Kategorie der Unendlichkeit nur bedeuten, daß in der chriſtlichen Re⸗ ligion „der Menſch das Bewußtſein vom Geiſte in ſeiner Allgemein⸗ heit und Unendlichkeit erhält“. 19 Es handelt ſich nicht um die Ein⸗ 12 L, II, 320. 4 L, II, 303 = B, 218; L, III, 581 = B, 320, L, IV, 878, 16 L, II, 303 = B, 218 f. % L, II, 354 = B, 198. 7 L, III, 595 f. B, 323. a Ernft Troeltſch, Zur zeligiöfen Lage, Religionsphiloſophie und Ethik. 1. ſammelte Schriften 1913, II, S. 33. W L, III, 221 BB, 408, Das Chriſtentum 241 fabru | 85 gänzlich neuen, ſupranaturaliſtiſchmagiſchen Faktors, * 7 ſondern um den mit ſich identiſch bleibenden Geiſt, der ſich in der ihm weſenseigenen Unendlichkeit erfaßt. Und es entſpricht genau den 5 bisherigen Beſtimmungen vom Weſen der Religion, daß in ihr dem 5 Menſchen nicht ein fremdes Prinzip, ſondern die Subſtanz des eigenen, innerſten Weſens zum Bewußtſein kommt, wenn Hegel fortfaͤhrt: „Das abfolute Objekt, die Wahrheit, iſt der Geiſt, und weil der Menſch ſelbſt Geiſt iſt, ſo iſt er ſich in dieſem Objekte gegen⸗ wärtig und hat jo in feinem abfoluten Gegenſtande das Weſen und fein Weſen gefunden.“ 20 Damit aber die Gegenſtändlichkeit des abſoluten Objektes nicht ein ftarres und fernes Gegenüber ſei, fon: dern das endliche Subjekt ſich mit ihr als identiſch erfahren kann, muß der Geiſt ſich dialektiſch verhalten. Mit Hegels eigenen Worten: „Damit aber die Gegenſtändlichkeit des Weſens aufgehoben werde und der Geiſt bei ſich ſelber ſei, muß die Natürlichkeit des Geiſtes, worin der Menſch ein beſonderer und empiriſcher iſt, negiert werden, damit das Fremdartige getilgt werde und die Verſöhnung des Geiſtes ſich vollbringe.“ 21 7 b) Die Dialektik des chriſtlichen Geiſtes Die Verſoͤhnung des endlichen Subjekts mit dem ihm im religiöſen Bewußtſein und zwar im Gefühl des ſchmerzlichen Gegenſatzes als Außeres gegenüberſtehenden Unendlich⸗Einen oder Gott iſt nur mög⸗ lich unter der Voraus ſetzung, daß beide „an ſich“ identiſch find. Die Verſöhnung nach vorausgegangener Trennung iſt aber nicht mehr unmittelbare Identität, ſie iſt keine „natürliche Einheit“, ſondern vermittelt durch den Widerſpruch, in den die vorausgeſetzte Identität mit ſich ſelber gerät, um ihn aufzuheben. Der mit ſich identiſche Geiſt tritt in den Widerſpruch und die Verſöhnung ſeiner als un⸗ endlichen und endlichen Geiſtes. Seine Endlichkeit iſt ſeine Natürlichkeit, ſeine — Natur und — in 1 1 A. a. O. 1 A. a. O. Leefe, Geſchichtophiloſo phie Hegels 10 242 Vierte Stufe: Die chriſtliche Welt ſelbſt, mit der er kämpfen, die er negieren, von der er ſich losreißen muß, um ſich in ſeiner Unendlichkeit erfaſſend ſich mit ſich ſelbſt zu verſöhnen und damit alsdann die „abſolute letzte Befriedigung des ganzen Weſens des Menſchen“ ?? herbeizuführen. Die neue Aus⸗ gabe ſchenkt uns den Abſchnitt, der alle Momente dieſer Dialektik zuſammenfaßt. „Der Geiſt muß ſich zum Einen erheben, feine Be: friedigung muß vollzogen werden. Die abſtrakte Innerlichkeit des Subjekts muß ſich objektivieren. Das Eine iſt das Objektive; es iſt für die Subjektivität ein Außeres, gegen ihre Endlichkeit ein Un⸗ endliches. Das Gefühl dieſes Gegenſatzes iſt ſchmerzlich; feine. Ver⸗ ſöhnung aber entſteht nur in der Gewißheit, mit dem Einen ver⸗ wandt zu ſein und es in ſich aufnehmen zu können. Der Friede dieſer Verſöhnung beſteht in der Vereinigung des Unendlichen und End— lichen. Das Bedürfnis danach iſt das Bewußtſein der Einheit beider Extreme. Dazu gehört die abſolute Möglichkeit dieſer Verſöhnung oder die Einheit der göttlichen und menſchlichen Natur; dieſe Eins heit muß möglich, d. h. beide müſſen an ſich identiſch ſein. Die Einheit ſelbſt aber iſt wiederum Gott; denn wenn das Eine nur die eine Seite ausmachte und draußen ſtehen bliebe, jo hätte es ſich ein Anderes gegenüber und wäre ſomit gar nicht unendlich. Der Menſch, wie er ſeiner Natur nach iſt, ſteht nicht in dieſer Einheit; nicht von Natur iſt er gut, ſondern ſeine bloße Natürlichkeit iſt die Un⸗ geiſtigkeit, und erſt dadurch, daß er dieſe wegarbeitet, kommt er zur Verſicherung jener Einheit, zum Glauben. Hierin, in dieſem myſti— ſchen Weſen, in dieſer Einheit mit Gott iſt ihm wohl. Erſt durch die Befreiung von ſeiner Natürlichkeit kommt er in die Einheit mit Gott.“ 28 Wie ſehr aber die Kategorie der Unendlichkeit, mit der wir es in der Dialektik des Endlich-Unendlichen ſtändig zu tun haben, als immanentes und nicht als ſupranaturaliſtiſches Prinzip zu faſſen iſt, erhellt noch einmal mit beſonderer Deutlichkeit aus folgender Stelle: „Der Menſch, als endlicher für ſich betrachtet, 2 L, III, 729 = B, 411. ®L, III, 733. Sperrung vom Verf. Das Chriſtentum 243 tt zugleich auch Ebenbild Gottes und Quell der Unendlich— keit in ihm ſelbſt; er iſt Selbſtzweck, hat in ihm ſelbſt unend⸗ lichen Wert und die Beſtimmung zur Ewigkeit. Er hat ſeine Heimat ſomit in einer überſinnlichen Welt, in einer unendlichen Innerlich⸗ keit, welche er nur gewinnt durch den Bruch mit dem natürlichen Daſein und Wollen und durch ſeine Arbeit, dieſes in ſich zu brechen. Dies iſt das religiöfe Selbſtbewußtſein.“ 21 Es kann alſo nach dem Bisherigen keine Rede davon ſein, daß an die Stelle der Dialektik der Geiſt⸗Natur eine andere und völlig neue, die des endlich⸗unendlichen Geiſtes tritt. Vielmehr vollendet ſich die Dialektik der Geiſt⸗Natur in der Dialektik des endlich⸗unend⸗ lichen Geiſtes. Die Dialektik der Geiſt⸗Natur, mit der wir es in der orientaliſchen und griechiſchen Welt zu tun hatten, verläuft innerhalb der Endlichkeit. Der endliche Geiſt muß erſt einmal aus ſeiner Naturverſenktheit zu ſich ſelber kommen. Hat ſich der Geiſt aber als der Natur, der phyſiſchen wie feiner eigenen elemen- tariſchen Natur gegenüber ſelbſtändiges und ihr überlegenes Prinzip erfaßt, ſo wird er ſich in ſeine Endlichkeit feſtlaufend wiederum zur Natur, von der er ſich als von ſeiner Fremdartigkeit losreißend die Kraft gewinnt, unendlicher Geiſt zu ſein. Das Bewußtſein ſeiner Endlichkeit — im ganzen Ausmaß der geiſtig⸗natürlichen Welt — iſt nunmehr ſeine „Natürlichkeit“. Die Dialektik des endlich⸗- unendlichen Geiſtes iſt die Dialektik der Geiſt⸗Natur, in der der Geiſt ſelbſt zur Natur, d. h. zur Unfreiheit des endlichen Geiſtes herab⸗ geſetzt und zum Geist, d. h. nunmehr zur Unendlich: keit feines eigentlichen, letzten und tiefſten Geift- und Frei⸗Seins erhöht wird! Es läßt ſich jetzt erſt auch klar überſehen, welche Stelle der ro mi⸗ ſchen Welt in dem dialektiſchen Gang des Weltgeiſtes zukommt. Der griechiſche Geiſt war dadurch beſchränkt und bedingt, daß er % L, III, 245 BB, 425. Sperrung vom Verf. 16* 244 Vierte Stufe: Die chriſtliche Welt in Religion und Kunſt das Naturelement als „weſentliches In⸗ grediens“ hatte. „Der Geiſt herrſchte wohl darüber, aber die Einheit des Herrſchenden und Beherrſchten war ſelbſt noch natürlich.“ 25 Es iſt gezeigt worden, wie der Begriff der Natürlichkeit ſich ge⸗ wandelt hat, wie er in der griechiſchen etwas anderes bedeutet als in der orientaliſchen Welt. ?° Nun wandelt ſich in der römiſchen Welt der Begriff der Natürlichkeit abermals. Er gewinnt die Bedeutung der ſich in ihrer Endlichkeit verabſolutierenden Subjektivität. „Nun tritt (mit dem römiſchen Volk) ... das Bewußtſein der Endlichkeit für ſich auf... das Element des Endlichen und damit die Ab⸗ ſtraktion des Verſtandes, die abſtrakte Perſon als Letztes tritt hier hervor ...“ 27 Und wenn wir fragten, wo in der Geſtalt des rö⸗ miſchen Geiſtes das Moment der „Natur“ ſteckt, das in der orien⸗ taliſchen und griechiſchen Welt eine ſo große Rolle ſpielt, ſo kann die Antwort nur lauten, daß der römiſche Geiſt in ſeinem ganzen Umfang oder, richtiger geſagt, der Geiſt auf der Entwicklungsſtufe der römiſchen Weltkultur ſelber „Natur“ iſt, inſofern er endlich iſt und auf dem Standpunkt der Endlichkeit beharrt. — Über Hegels Wertung der chriſtlichen Religion iſt, ſoweit ſie in feiner Geſchichtsphiloſophie zum Ausdruck kommt's, noch Wichtiges hinzuzufügen. Hegel ſagt: „Gott wird nur ſo als Geiſt erkannt, indem er als der Dreieinige gewußt wird. Dieſes neue Prinzip iſt die Angel, um welche ſich die Weltgeſchichte dreht. Bis 25 L, III, 223 = B, 408. ** Vgl. oben ©. 216, “ L, III, 674 = B, 372. 26 H. Scholz bemerkt a. a. O. S. 6 ſehr richtig, daß auch Hegels Kunſt⸗ und Reli: gionsphiloſophie „Bruchſtücke einer großen Geſchichtsphiloſophie“ ſind. Wenn ich mich gleichwohl im weſentlichen auf Hegels geſchichtsphiloſophiſches Hauptwerk⸗ beſchränkte, ſo liegt in dieſer Entſagung das Eingeſtändnis, daß meine Arbeit ein Anfang iſt, der der Fortführung bedarf. Es galt zunächſt, die Tragweite des Problems der Dialektik überhaupt erſt einmal zu erkennen, feine prinzipielle Bedeutſamkeit zu erhellen und dieſer erſtaun— lichen Präziſions- und Filigranarbeit des Hegelſchen Denkens nachzuſinnen. r, * wi » . j 2 7 e 1 Das Chriſtentum 245 bierher und von daher geht die Geſchichte.“ ?” Die neue Ausgabe verſtärkt: „Wer von Gott nicht weiß, daß er dreieinig iſt, der weiß nichts vom Chriſtentum.“ 0 Dieſe Erkenntnis iſt der „Schlüſſel zur Weltgeſchichte“. 1 Es hieſſe aber Hegel völlig mißverſtehen, wollte man ſolche und ähnliche Sätze als eine Apologie der kirchlichen Trinitäts⸗ und Chriſtuslehre auffaſſen. Das Chriſtentum als hiſto⸗ riſche Erſcheinung und als Kirchenlehre iſt für Hegel in jedem Be⸗ tracht Mythus geweſen. Nur ſehen wir Hegel um den affirma⸗ tiven „Gehalt“ dieſes Mythus bemüht.“? Der chriſtliche Mythus iſt für ihn die Vernunft in der Form der ſinnlichen Vorſtellung oder des Glaubens. Unter der Hülle der zufälligen und einmaligen Er⸗ ſcheinung, des Zeitlich⸗Vergänglichen und Geſchichtlich-Tatſächlichen, des Sinnlichen und Konkret⸗Anſchaulichen den ſpekulativen Gehalt, d. h. den notwendigen und ewigen Sinn entdecken, heißt, ſich vom Glauben zur Vernunft, vom Mythos zum Logos erheben. ?? Was iſt Vernunft? „Die Vernunft überhaupt,“ ſagt Hegel, „iſt das Weſen des Geiſtes, des göttlichen wie des menſchlichen.“ Was iſt aber der Geiſt? „Er iſt das Eine, ſich ſelbſt gleiche Unendliche, die reine Identität, welche zweitens ſich von ſich trennt, als das Andere ihrer ſelbſt, als das Fürſich⸗ und Inſichſein gegen das Allgemeine. Dieſe Trennung iſt aber dadurch aufgehoben, daß die atomiſtiſche Subjek⸗ tivität, als die einfache Beziehung auf ſich, ſelbſt das Allgemeine, mit ſich Identiſche it... Der Geiſt ſtellt ſich als fein Anderes ſich gegenüber und iſt aus dieſem Unterſchiede Rückkehr in ſich ſelbſt. Das Andere in der reinen Idee aufgefaßt iſt der Sohn Gottes, aber dies Andere in ſeiner Beſonderung iſt die Welt, die Natur und der endliche Geiſt: der endliche Geiſt iſt ſomit ſelbſt als ein Moment Gottes geſetzt. So iſt der Menſch alſo ſelbſt in dem Begriffe Gottes enthalten, und dies Enthaltenſein kann ſo ausgedrückt werden, daß die Einheit des Menſchen und Gottes in der chriſtlichen Religion L, III, 222 = B, 408. L, III, 222. 1 L, I, 22f. Enzyklopädie a. a. O., Vorrede zur zweiten Ausgabe S. 14 f. 18. 20. L., I, 114. . 246 Vierte Stufe: Die chriſtiche Welt geſetzt ſei.“ 4 Dieſe dialektiſche, lebendige Bewegung des unendlich einen Geiſtes in ſich ſelbſt, der ſich zu der unendlichen Fülle aller konkreten Beſtimmtheiten der natürlichen und geiſtigen Welt beſon⸗ dert, ſich aber in dieſem „Anderen“, dem Endlichen, nicht verliert, ſondern dasſelbe negierend in ſich zurückkehrt, dieſe „Bewegung der Idee“ iſt der ſpekulative Gehalt des Mythus vom Vater, Sohn und Geiſt, die Drei und doch Eines ſind. So entdeckt die Philoſophie in dem Mythus die „Idee der Vernunft“. 35 „Die Natur Gottes, reiner Geiſt zu ſein, wird dem Menſchen in der chriſtlichen Religion offenbar.“ 36 Sie iſt ihrem Gehalte nach weder etwas Vergangenes noch etwas Zukünftiges, ſie iſt das Zeitloſe im Zeitlichen, „ein Gegenwärtiges, in dem ſich der Geiſt fortwährend ergründet“. 37 Es war die „Beſchränktheit“ der jüdiſchen Religion, daß das „Eine keine Beſtimmtheit hat und das Konkrete, Beſtimmte aufer dieſem Einen fällt“. 8 „Der Geiſt wird nur als dies Beſtimmte aufgefaßt, und Gott iſt nur der Gott des jüdiſchen Volkes. Doch iſt in dieſer Religion zugleich auch die Vorſtellung der allgemeinen menſchlichen Natur aufbewahrt worden, und die Sehnſucht nach einer Verſöhnung, einer Innerlichkeit, in der das Subjekt mit dem Einen vereinigt iſt.“?9 Das „Elend“ der römiſchen Welt iſt die „Stumpfheit in einem blinden Fatum“, das der jüdiſchen Re⸗ ligion die „unendliche Energie der Sehnſucht“. 40 Und darin beſteht die „welthiſtoriſche Bedeutung und Wichtigkeit“ des jüdiſchen Vol⸗ kes, daß aus ſeiner Sehnſucht, über den Schmerz der zwieſpältigen Trennung, der „Entzweiung“ des fürſichſeienden Subjekts mit dem unſinnlichen „Gott des Gedankens“, der das Eine und Allgemeine iſt, hinauszukommen, das Höhere aufgegangen iſt, daß der „Geiſt zum abſoluten Selbſtbewußtſein gekommen iſt, indem er ſich aus dem Andersſein, welches ſeine Entzweiung und Schmerz iſt, in ſich % L, III, 734 = B, 413f. “ L, III, 227f.; L, I, 35f. “ L, III, 734 = B, 413. 7 L, III, 222. ®L, III, 727; vgl. oben S. 182. L, III, 727. . 730 B, 412. Das Chriſtentum 247 ine reflektiert“. „Am reinſten und ſchönſten finden wir die an * gegebene Beſtimmung des jüdiſchen Volkes in jenen Davidiſchen Palmen und in den Propheten ausgeſprochen, wo der Durſt der Seele nach Gott, der tiefſte Schmerz derſelben über ihre Fehler, das Verlangen nach Gerechtigkeit und Frömmigkeit den Inhalt aus⸗ machen.“ al Auf die Entzweiung der auf dasſelbe Ziel hin konvergierenden rö- miſchen und jüdiſchen folgt die Verſöhnung der chriſtlichen Welt, auf den Zwieſpalt die Identität des Endlichen und Unend⸗ lichen, des Subjekts und Gottes. Und zwar Eonkretifiert ſich die „Idee der Verſoͤhnung“ für das ſinnlich vorſtellende Bewußtſein zur Anſchauung einer menſchlichen Geſtalt. „Danach hat die Welt 1 ſich geſehnt, daß der Menſch . . . als Moment des göttlichen Weſens — gefaßt werde und wiederum Gott umgekehrt aus ſeiner abſtrakten Form zur Anſchauung in der Erſcheinung des Menſchen komme. Dies iſt die Verſöhnung mit Gott, der ſo als die Einheit der göttlichen und menſchlichen Natur vorgeſtellt wird.“ !2 Der Stifter der chriſtlichen Religion hat — nach Ausweis der Evangelien — das „Prinzip“ derſelben als die Unendlichkeit des Geiſtes und ſeine Erhebung in die geiſtige Welt als das allein Wahrhafte ausge⸗ ſprochen. „Das Selbſtbewußtſein des Geiſtes hat ſich in ihm mit einer ungeheuren Energie ausgeſprochen, die alle äußere Wirklichkeit vergißt und uns jetzt noch in Erſtaunen ſetzt. Ein Menſch ſtellt ſich dort unter einen Haufen und redet ohne Furcht von einer Seligkeit, die ausſchließlich denen zuteil wird, die nach dem Reiche Gottes trachten. Das Reich Gottes wird allein als das Weſen ausgeſprochen, und alles, was Chriſtus ſagt, drückt eine Entſagung gegen alle welt⸗ lichen und ſittlichen Bande aus. Gegen die Welt iſt das Auftreten dieſer Innerlichkeit völlig revolutionär.“ 13 Die philoſophiſche Be⸗ trachtung hat dagegen kein weiteres Intereſſe an Chriſtus als einer „geweſenen hiſtoriſchen Perſon“, d. h. an dem, was er „geiſtlos I, III, 727f.=B, 410. L, III, 235. L, III, 739. N 248 Vierte Stufe: Die chriſtliche Welt betrachtet“ iſt. „Macht exegetiſch, kritiſch, hiſtoriſch aus Chriſtus, was ihr wollt .. , es fragt ſich allein, was die Idee oder die Wahr⸗ heit an und für ſich iſt.“ Das „letzte Bedürfnis des Geiſtes“ iſt darein zu ſetzen, daß der Menſch den „ſpekulativen Begriff des Geiſtes in ſeine Vorſtellung bekomme“. Und das leiſtet nicht die Hiſtorie, ſondern einzig die philoſophiſche Ausdeutung des Mythus vom Gottesſohn, vom Logos, der Fleiſch ward, litt, ſtarb, auf⸗ erſtand und gen Himmel fahrend erhöht ward zur Rechten Gottes, um als „Geiſt“ in ſeiner Gemeinde zu wohnen und in die Herzen der Gläubigen einzukehren. Wie der Mythus vom Sündenfall mit dem Heraustreten des Menſchen aus der „natürlichen Einheit“ mit Gott auf den unſeligen Standpunkt der Trennung des fürſichſeienden Geiſtes keine zufällige und einmalig⸗tatſächliche, ſondern die „ewige Geſchichte des Geiſtes“ iſt, ſo iſt auch der ſpekulative Gehalt des Chriſtus⸗Mythus die „ewige Geſchichte des Geiſtes“, der nur, in⸗ dem er ſich feiner Endlichkeit entäußert, ſich von feinen Beſonder⸗ heiten und Natürlichkeiten ſcheidet, zur „Einheit der Verſöhnung“ des Individuellen und Göttlichen zurückkehrt. „Die Gewißheit der Einheit Gottes und des Menſchen iſt der (ſpekulative!) Begriff Chriſti, des Gottmenſchen.“ Die Idee der Verſöhnung des Sinn⸗ lichen mit dem Gedanken, der Einzelheit mit dem Einen, des End: lichen mit dem Unendlichen iſt in ihm rein und vollſtändig zur ſinnlich-anſchaubaren Erſcheinung gekommen.““ Dem Problem des erſcheinenden Gottes hat Hegel ganz beſondere Aufmerkſamkeit zugewandt. Das zeigen mannig⸗ fache Zuſätze der neuen Ausgabe, wo in der griechiſchen Welt Grie⸗ chentum und Chriſtentum miteinander verglichen werden.““ „Gott muß erſcheinen, muß die Weiſe des Erſcheinens für ſinnliche An⸗ ſchauung haben; denn das Weſen muß überhaupt erſcheinen; es iſt nichts, wenn es nicht erſcheint.“ 6 „Nichts iſt weſentlich, was nicht 4 L, I, 105f.; L, III, 728 f. 735. 737f. 741 B, 410f. 414f. 418 f. ® L, III, 577 f. 579f. 587. 589. 595 f. 596ff. % , III, 580, Das Chriſtentum 249 * erſcheint. r In dem Anhang über das mongoliſche Prinzip bemerkt er Hegel, daß das Abſolute, Gott, in der unmittelbar finnlichen Form eines natürlichen Menſchen, des Dalai Lama, verehrt wurde. Es iſt ein „langer, weiter Weg der Abſtraktion“ nötig geweſen, bis man ſſich zu dem Gedanken erheben konnte, daß „das Abſolute der Geiſt fe” und daß es nur im „Denken, in der innerlichen Vorſtellung“ gewuſit werden kann. 46 Ein Markſtein auf dieſem Wege und eine Annäherung zum christlichen Ziel ift die Religion der Griechen. Der Grieche hat Gott als Geiſt, oder den Geiſt, nicht eine Naturmacht, aals Gott verehrt.“ 4 Dieſer geiſtige Gott der Griechen erſcheint 4 als der zu künſtleriſch⸗ſchöner Geſtalt verklärte Menſch. Aber daß 4 der jo erſcheinende Gott die „ausſchließliche, höchſte Weiſe, in der das Gottliche geſetzt iſt“, bleibt, iſt der Mangel der griechiſchen Religion. Denn damit bleibt der griechiſche Gott für den Menſchen noch ein „Jenſeitiges“. „Der Geiſt aber iſt abſolut dies, in dem Erſcheinen in ſich, bei ſich ſelbſt zu ſein. Wenn aber das Erſcheinen die perennierende Form iſt, ſo iſt der Geiſt, der erſcheint, in ſeiner verklärten Schönheit ein Jenſeitiges für den ſubjektiven Geiſt, und die wahrhafte Verſöhnung des Geiſtes mit ſich ſelbſt in feinem Andersſein kann noch nicht vorhanden ſein.“ In der chriſt⸗ lichen Religion iſt der erſcheinende Gott nicht ein durch das Me⸗ dium der Kunſt geſehenes Ideal, ſondern der Menſch Chriſtus und — da die Verſöhnung ja nicht bloß an dem einen gottmenſchlichen In⸗ dividuum ſtatthaben ſoll, ſondern an allen — die durch ihn repräſen⸗ tierte menſchliche Natur in ihrer Außerlichkeit und Endlichkeit. „In der chriſtlichen Religion heißt es: Gott iſt im Fleiſche erſchienen; und das Chriſtentum iſt, Chriſtus als Gott und Gott als Chriſtus zu verehren.“ 1 Aber während in der griechiſchen Religion die Er: ſcheinung das „Ganze des Göttlichen“ ausmacht, wird in der chriſt⸗ lichen das Erſcheinen „nur als Moment des Göttlichen“, als ein B, 326. ®L II, 335 = B, 232 f. % gl. oben S. 198. L, III, 5sof. Sperrung vom Verf. , III, 579; L, III, 735 = B, 414. c >. * Pd 3,9. Vierte Stufe: Die chriſtliche Welt Aufzuhebendes und Aufgehobenes geſetzt. Chriſtus iſt geſtorben und erhoben zur Rechten des Vaters, d. h. der erſcheinende Gott ift. geſetzt als Moment. 2 „Und auf dieſen Unterſchied kommt es dann an, daß der Geiſt ſich hat zum chriſtlichen Geiſte bilden müſſen, weil im griechiſchen Bewußtſein das Erſcheinende, der Gottmenſch, nicht bloß ein Moment des höchſten und wahrhaften, an und für ſich ſeienden Geiſtes geworden und geweſen iſt. Das iſt die Haupt⸗ ſache: der erſcheinende Gott, d. h. Gott nach der Beſtimmung zu erſcheinen, iſt nicht der abſolute Gott. Dieſer muß erſcheinen, — alſo, daß er erſcheint, iſt weſentlich nur ein Moment der ganzen Totalität.“ 3 Was Hegel mit dem allem ſagen will, iſt alſo dies: Der chriſtliche Geiſt iſt durch ſeine Dialektik dem griechiſchen unendlich über— legen. Der philoſophiſche Gehalt des Mythus vom erſcheinenden Gott iſt im Chriſtentum die Dialektik des Einen unendlich-endlichen Gei— ſtes, der aus ſeiner unmittelbaren Identität heraustretend durch den Widerſpruch von Weſen und Erſcheinung hindurch muß, um ſich mit ſich ſelbſt zu verſöhnen, d. h. die Erſcheinung zum Moment ſeiner Weſen und Erſcheinung in ſich begreifenden Totalität zu machen. Es iſt der Geiſt, der ſich verhüllt, indem er ſich offenbart, der verneint, indem er bejaht, der verliert, indem er gewinnt, der ſich erniedrigt, indem er ſich erhöht, es iſt der mit einem Worte nur im Widerſpruch und ſeiner Verſöhnung lebendige Geiſt, der der All⸗Eine iſt. — Hegels All-Geiſt-Lehre verleugnet nie und nirgends ihre Herkunft aus der pantheiſtiſchen Myſtik. Mein Aug' erhebt ſich zu des ew'gen Himmels Wölbung, Zu dir, o glänzendes Geſtirn der Nacht! Und aller Wünſche, aller Hoffnungen Vergeſſen ſtrömt aus deiner Ewigkeit herab. 52 L, III, 580 B, 326. ®® L, III, 580. 1 Chriſtentum 251 . * N 4 Der Sinn verliert ſich in dem Anſchaun, | Was mein ich nannte, ſchwindet. Ich gebe mich dem Unermeßlichen dahin, | Ich bin in ihm, bin alles, bin nur es. 1 Mit dieſen Verſen des an Hölderlin gerichteten Gedichtes Eleuſis⸗ preiſt Hegel die ſelige Selbſtvergeſſenheit, das Erlöfchen des Ich⸗ Gedankens in der Hingabe an die Einheit des ewigen Ganzen. Dieſe Muſtik iſt der bleibende Grundton der Philoſophie Hegels.“ “ Nur iſt nicht zu vergeſſen, daß Hegel durch das Prinzip der Dialektik dieſe Muyſtik ethiſch ganz außerordentlich geſtrafft und fie mit . Kulturbejahung in einem Maße geſättigt hat, die fie als dein in der Religionsgeſchichte geradezu einzigartig daſtehendes Phä⸗ nomen erſcheinen läßt. Dieſe Myſtik erbaut ſich ferner auf dem Boden des zuerſt durch Sokrates, dann vor allem durch die großen Denker des 17. und 18. Jahrhunderts erarbeiteten Autonomie: und Immanenzgedankens. „Der Menſch iſt als die un⸗ endliche Macht des Entſchließens anerkannt.“ 9s Damit verbindet Hegel den ſtark betonten Perſonalis mus der chriſtlichen Re⸗ ligion, „daß das Subjekt an ſich einen unendlichen Wert hat“. 5% Er hat das Chriſtentum ſeines tranſzendent⸗ſupranaturaliſtiſchen, richtiger vielleicht möchte man ſagen: magiſchen Charakters ent⸗ kleidet, dagegen die Wiedergeburt des Menſchen aus dem Geiſt, die ihn über das „bloß Natürliche“ erhebt, und den Lei⸗ dens⸗ und Opfergedanken, der das „triumphierende Her⸗ vorgehen aus dem Leiden“ zur Kehrſeite hat, in den Mittelpunkt feiner Betrachtung gerückt.? Indem er alle dieſe Momente in der Dialektik des endlich⸗unendlichen Geiſtes zu einer unlösbar lebendigen Einheit verknüpfte, hat er das Abendland mit Kronenberg a. a. O. II, S. 669. 739. Vergl. auch oben S. 240. 242. L, III, 746 = B, 426; vgl. dazu im folgenden das Germanentum. ., I, 116; L, III, 738. 1, III, 738; L, IV, 821: „Der Menſch als dieſer iſt ſinnlich, äußerlich, natürlich und das bloß Natürliche iſt in der chriſtlichen Religion ganz tief geſtellt.“ 252 Vierte Stufe: Die chriſtliche Welt dem Morgenlande verſöhnt und in dieſer Verſöhnung den innerſten und eigentlichſten Gehalt des Chriſtentums geſehen, um das ſich die Weltgeſchichte dreht. Freilich, des Chriſtentums, wie er es ver⸗ ſtand. Denn ſein Chriſtentumsbegriff iſt nicht aus der Analyſe der durch den Kanon des Neuen Teſtaments abgegrenzten hiſtoriſchen Erſcheinung hervorgegangen, ſondern ein ſynthetiſcher Begriff, in dem Antike, Urchriſtentum und neuzeitliches Denken ſich zu einer neuen Syntheſe zuſammenſchließen, einer Syntheſe, die an charakter⸗ voller Geſchloſſenheit und überſchauender Weite der Gedanken zu dem Großartigſten gehört, was die Energie eines Denkers je ge⸗ ſchaffen hat. 2. Die Geſamtanlage der Geſchichtsphiloſophie Hegels Es eröffnet ſich von dem erreichten Punkt eine umfaſſende Ausſicht auf das Wunderwerk des dialektiſchen Gedankenbaus, den Hegel in ſeiner Geſchichtsphiloſophie errichtet hat und deſſen Architektonik wir endgültig zu überſehen vermögen. 58s Dieſer Bau iſt ſtufenförmig angelegt. Und zwar handelt es ſich um vier Stufen, von denen — das iſt das Bedeutſame — die dritte der erſten und die vierte der zweiten genau entſpricht. Aus dem Untergrunde der anorganiſchen Dumpfheit und Re heit des Geiſtes erhebt ſich als erſte und unterſte Stufe die orien- talifche Welt. Der Geiſt befindet ſich in unmittelbarer Identität mit der Natur, in die er verſenkt und durch die er geknechtet iſt. Maßlos und unermeßlich wie die Natur iſt auch der in fie verſin⸗ kende Geiſt. Hegel ſpricht hinſichtlich ſeiner von „jener morgenlän⸗ diſchen Unendlichkeit“, die nicht in der Weiſe des Gedankens, ſon⸗ dern der Phantaſie vorhanden iſt, die die begrenzten Anſchauungen 58 Auf Grund der ſtattgehabten Einzelanalyſe komme ich im folgenden zu einer andern ſich aus dem Weſen der Dialektik ergebenden Gliederung der Entwicklung, als ſie von E. Troeltſch, Über den Begriff einer hiſtoriſchen Dialektik a. a. O. S. 415 ff., in Umriſſen ſkizziert worden iſt. Be, Die Gefamtanlage det Gefchichtäphilefephie hegel 253 Ä 10 Maſloſe erweitert. „Dem Morgenlande gehoren die maßloſen 2 2 Anſchauungen an, die alles Begrenzte über ſich ſelbſt hinaustreiben“. Damit iſt die „Verkehrung alles Endlichen“ gegeben, d. h. die Un⸗ fähigkeit, daß „die Perſon fich als Individuum wiſſe“. “ Soweit aber innerhalb der orientaliſchen Welt der Geiſt ſich gegen die Natur erhebt und zum Bewußtſein eigener Dignität erwacht, iſt er ein Geiſt, der ſich in Kampf und Widerſpruch, in drangvoller Unruhe und ſteter SGaͤrung verzehrt, ohne zur Klarheit über ſich ſelbſt zu kommen. Die zweite Stufe iſt die griechiſche Welt. Sie zeigt uns den SGeiſt, der durch den Widerſpruch feiner ſelbſt hindurchgegangen, d. bh. über die Fremdartigkeit feiner elementariſchen Natur Herr 4 geworden iſt. An die Stelle der natürlichen, unmittelbar gegebenen tritt die durch den Widerſpruch vermittelte, die erkämpfte Einheit von Geiſt und Natur. Wie die phyſiſche Natur Griechenlands nicht mehr die orientaliſche iſt mit der Maßloſigkeit ihrer Perſpektiven und der Unermeßlichkeit ihrer Horizonte, fo iſt auch der griechiſche Geiſt begrenzt durch ſeine Individualität. „Der Grieche hat das Begrenzte geehrt und zugleich beſeelt.“ ““ Hegel ſpricht von der „gleichſchwebenden Freiheit des griechiſchen Geiſtes“. 1 Er iſt die Verſöhnung des Widerſpruchs, die Klarheit nach der Gärung, die Ruhe nach Kampf und Empörung. Das „eigentliche Aufſteigen und \ die wahre Wiedergeburt des Geiſtes“ ift in Griechenland zu fuchen. ©? Die Seligkeit der Harmonie durchdringt alle Schöpfungen der ſchonen Individualität und Freiheit, in denen die Macht und Herr⸗ lichkeit des „zweimal geborenen“ 63 Geiſtes offenbar wird. „Dieſes Reich iſt demnach wahre Harmonie.“ 4 Die dritte Stufe iſt die römische Welt. Der Geiſt iſt gleich dem orientaliſchen wiederum ganz in die Natur verſenkt. Die Natur⸗ verſenktheit des Geiſtes aber iſt auf dieſer Stufe die Endlichkeit ſeiner eigenen Zwecke, in die er gebannt und verloren iſt. Die er⸗ 3 ® L, III, 674. 726. 731 = B, 372. 420. % L., III, 674. * L., III, 674 = B, 372. , III, 528 B, 296. ® Bol. oben S. 192, Anmerkung 34. ., I, 239 B, 157. 254 Vierte Stufe: Die chriſtliche Welt rungene Individualität und Innerlichkeit des Geiſtes iſt geſichert, aber auch eingeſchloſſen in die abſolute Grenze der „ſpröden Einzel— heit“. 5 Den römiſchen Geiſt hat Hegel als abſtrakten, nüchternen, zweckbewußten Verſtand charakteriſiert. und es muß hier daran erinnert werden, was der Verſtand im Sinne Hegels bedeutet. Das Weſen des Verſtandes konſtituiert die Unterſcheidung der in ihrem Fürſichſein ſich erfaſſenden Subjektivität von den Gegenſtänden der „Außenwelt“, die ſich in dem Zuſammenhang von Urſache und Wirkung zu einem „Syſtem von Verhältniſſen ausbreitet, worin meine Einzelheit ſelbſt ein Glied, eine damit zuſammenhängende Einzelheit iſt“. s Der Verſtand iſt das „Feſthalten der Unter- ſchiede“.“7 Die „Natur des Verſtandes überhaupt“ erweiſt ſich als „einſeitige und in der Einſeitigkeit verhauſende“. 8 Der Verſtand atomiſiert und mechaniſiert. So verhauſt der römiſche Geiſt in der undialektiſchen Einſeitigkeit ſeiner Endlichkeit, die ſein Unglück und Elend iſt. Wie in der orientaliſchen Welt von der „Verkehrung alles Endlichen“, ſo könnte man hier von der Verkehrung alles Unend⸗ lichen reden, die in der Unfähigkeit beſteht, daß die Perſon ſich bloß und nur als ſich ſelbſt genugſames, autarkes Individuum und nicht auch in ihrer univerſaliſtiſchen Beſtimmung, am Leben des un: endlich-ewigen Geiſtes teilzunehmen, erfaßt. Daher, wie in der orientaliſchen Welt, auch keine wahrhafte Verſöhnung. Daher die Schilderung der römiſchen Welt, die in hervorſtechenden Zügen ſich auffallend nahe mit der der orientalifchen berührt und deren düſtere Farbengebung von dem lichten Glanz der griechiſchen ſich ſeltſam abhebt: ihre Unfreiheit, ihre Geiſt- und Gemütloſigkeit, ihre Außer⸗ lichkeit und Geſinnungsloſigkeit, ihre ſchließliche Rechtloſigkeit, der ſchrankenloſe Deſpotismus, ihre Kulturarmut, das „ſtumpfe Lei⸗ den“ einer in die „abſolute Zerriſſenheit des Innern“, in Trauer und Unſeligkeit verſenkten Welt. 69 5 JI, III, 726. , II, 352 f. = B, 19 f L V 913, 16, 97 E Das ss L, III, 566. ®L, I, 242. . 5 255 725 die wahre Wiedergeburt des Geiſtes enthält, fo erhebt ſich mit dem Chriſtentum der Geiſt abermals aus der Totenſtarre, in die er auf der vorhergehenden Stufe gebannt war, zu neuer Lebendigkeit, zu vollſter Verſoͤhnung, zu fchöpferifcher, breit ſich auswirkender Entfaltung. Es iſt der Geiſt in ſeiner abſoluten Freiheit und Vollen⸗ dung, in der Totalität des verföhnten Widerſpruchs, der unendliche Geiſt, der endlich, und der endliche Geiſt, der — ſeine „Natürlich⸗ keit“, d. h. das Endliche, Unfreie und Ungeiſtige ſeiner ſelbſt auf⸗ hebend o — unendlich, der Gott, der Menſch, und der Menſch, der Gott, das Weſen, das Erſcheinung, und die Erſcheinung, die das Weſen iſt, — ſo, wie in der griechiſchen Welt Geiſt und Natur verſchieden und doch Eines ſind, die Natur verkörperter Geiſt und der Geiſt vergeiſtigte Sinnlichkeit. Und wie die griechiſche Welt auf der Höhe ihrer Kultur eine in ſich befriedigte, harmoniſche, allen dualiſtiſchen, die ägyptiſche und römiſche Welt zerklüftenden Zwie⸗ ſpalts ledige iſt, ſo erreicht das Chriſtentum die „abſolute letzte Befriedigung des ganzen Weſens des Menſchen“. Mit der Einheit Gottes und des Menſchen „iſt der Welt Friede und Verſöhnung geworden “. 71 Wenn Hegel auf das Chriſtentum, das auch in der neuen Ausgabe als dritter Unterabſchnitt der römiſchen Welt abgehandelt wird, die germanifche Welt als vierten Teil feiner Philoſophie der Welt: geſchichte folgen läßt, ſo bedeutet doch die germaniſche Welt gegen⸗ über dem Chriftentum nicht das Aufkommen einer neuen welt⸗ geſchichtlichen Geſtalt. Vielmehr gilt: „Das Prinzip des germa⸗ niſchen Reiches ſoll der chriſtlichen Religion angemeſſen ſein. Die Beſtimmung der germaniſchen Völker iſt, Träger des chriſtlichen Prinzips abzugeben.“ ?? Man wird daher Chriſtentum und germa⸗ L III, 2 = B, 414. ., III, 235 = B, 414. 1, IV, 763. 7288 B, 435. 449. 256 Vierte Stufe: Die chriſtliche Welt niſche Welt zuſammenfaſſen und ſie mit Hegels eigenen Worten als „chriſtliche Welt“ bezeichnen dürfen.7? Und wie es ſich auf der zweiten Stufe der griechiſchen Welt darum handelte, daß ſich das Prinzip der ſchönen Freiheit dem geſamten Kultur- und Verfaſſungs⸗ leben des griechiſchen Staates einbildete und in ihm auswirkte, ſo wird es ſich auf dieſer oberſten Stufe darum handeln, daß das chriſtliche Prinzip, „das Prinzip der abſoluten Freiheit in Gott“ da, dem weltlichen Daſein eingebildet und dieſes durch es geſtaltet werde. „Das Geſchäft der Geſchichte iſt .., daß das religiöſe Prinzip, das dem Herzen der Menſchen inwohnt, auch als weltliche Freiheit hervorgebracht werde. So wird die Entzweiung zwiſchen dem Innern des Herzens und dem Daſein aufgehoben. Für dieſe Verwirklichung iſt jedoch ein anderes Volk, oder ſind andere Völker berufen, nämlich die germaniſchen. Innerhalb des alten Roms ſelbſt kann das Chriſtentum nicht ſeinen wirklichen Boden finden und ein Reich daraus geſtalten.“ 75 Indem ſo der Geiſt im Wechſel von Identität und Widerſpruch, Verſöhnung und Zwieſpalt ſich ſelber ſucht und findet, ſteigt er ſtufenförmig empor aus verworfenſter Knechtſchaft zur abſoluten Freiheit, von der geiſtloſen Außerlichkeit des in die Natur verſenk⸗ ten Geiſtes zur geiſterfüllten Innerlichkeit des endlich-unendlichen Subjekts, das die Welt in ſich trägt. Mit dem architektoniſchen Stil des ſtufenförmigen Aufbaus und ſeiner Entſprechungen iſt die Morphologie der weltgeſchichtlichen Dia⸗ lektik endgültig feſtgeſtellt. 3. Das Germanentum a) Das Problem der abendländiſchen Kultur Die Periodizität in der Geſchichte der chriſtlich-germaniſchen Welt iſt nicht wie bei den Griechen und Römern durch die doppelte Be— 78 L, I, 137; L, IV, 762 = B, 436; L, IV, 794°. [, 111, 746 5, 426; 7 L, III, 748 = B, 427. 7 Dat Germanentum 257 F Ne nach außen, rückwärts zu dem früheren und vorwärts zu dem ſpaͤteren welthiſtoriſchen Volke beſtimmt. Mit dem früheren als ſie ſelber ein in ſich vollendetes Volk geworden und zu ſolcher Starke gediehen waren, um das bisher die Welt beherrſchende Prin⸗ 3 zip verdrängen zu koͤnnen. Anders die germaniſchen Völker. Inner⸗ lich roh, wild und unfertig begannen ſie damit, die antike Welt zu uͤberſchwemmen und ſich zu unterwerfen. Dann erſt haben fie ſich ganz allmählich an der überkommenen Kultur, Religion, Philoſophie, Kunſt, Geſetzgebung und Sprache durch Aufnehmen und Überwinden des Fremden gebildet. „Die Beziehung nach außen (Kreuzzüge, Er⸗ oberung von Amerika uſw.) begleitet hier nur die Gefchichte, bringt nicht weſentliche Veränderungen in der Natur der Zuſtände mit ſich, 3 ſondern trägt vielmehr das Gepräge der inneren Evolutionen an ſich.“ Es fehlt zweitens die Beziehung nach vorwärts zu einem ſpäteren welthiſtoriſchen Volk, das an die Stelle der germaniſchen Völker getreten iſt oder auch nur treten könnte. „Die chriſtliche Welt iſt die Welt der Vollendung; das Prinzip iſt erfüllt, und da⸗ mit iſt das Ende der Tage voll geworden: Die Idee kann im Chriſtentum nichts Unbefriedigtes mehr ſehen. So hat die Chriſten⸗ heit kein wahrhaftes Verhältnis nach außen, ſie hat kein abſolutes Außen mehr, ſondern nur ein relatives, das an ſich überwunden iſt und in Anſehung deſſen es nur darum zu tun iſt, auch zur Erſchei⸗ nung zu bringen, daß es überwunden iſt.“! Die neue Ausgabe fügt verftärfend hinzu: „Mit dem Eintritt des chriſtlichen Prinzips iſt die Erde für den Geiſt geworden; die Welt iſt umſchifft und für die Europäer ein Rundes. Was noch nicht von ihnen beherrſcht wird, iſt entweder nicht der Mühe wert oder aber noch beſtimmt, beherrſcht zu werden. Das Verhältnis nach außen iſt ſo nicht mehr das Beſtimmende; die Revolutionen gehen im Innern vor.“? Die weltgeſchichtliche Bedeutung der germaniſchen I, IV, 758 f. 76 f. 275 B, 435 ff. L, IV, 763. Leefe, Geſchichtorhiloſoptie Hegels 17 258 Vierte Stufe: Die chriſtliche Welt Völker beſteht vielmehr darin, das Prinzip der chriſtlichen Religion allen Gebieten des Welt-, Staats- und Kulturlebens einzubilden, eine vom Geiſt des Chriſtentums durchdrungene Kultur zu ſchaffen. „Der germaniſche Geiſt iſt der Geiſt der neuen Welt, deren Zweck die Realiſierung der abſoluten Wahrheit als der ‚un: endlichen Selbſtbeſtimmung der Freiheit iſt . . . Dieſe Idee ſoll .. in die wirkliche Welt eingebildet werden... Der Grundſatz der geiſtigen Freiheit ſowohl in weltlicher als religiöſer Hinſicht, das Prinzip der Verſöhnung, wurde in die noch unbefangenen ungebil⸗ deten Gemüter jener Völker gelegt, und es wurde dieſen aufgegeben, im Dienſte des Weltgeiſtes den Begriff der wahrhaften Freiheit nicht nur zur religiöfen Subſtanz zu haben, ſondern ſich auch durch ihn zu geſtalten, damit der wahrhafte Begriff in ihnen realiſiert und in der Welt aus dem ſubjektiven Selbſt⸗ bewußtſein frei produziert werde.“? Das bedingt einerſeits eine ganz beſtimmte Faſſung des chriſtlichen Prinzips, von der bisher noch nicht die Rede war, und andrerſeits eine Geartetheit des ger⸗ maniſchen Geiſtes, die dieſen zur Aufnahme und Ausgeſtaltung des chriſtlichen Prinzips wie prädeſtiniert erſcheinen läßt. Mit bewunderungswürdigem hiſtoriſchen Scharfblick hat Hegel näm⸗ lich das Prinzip der neuen Religion als „ganz abſtrakte Intenſität“ näher charakteriſiert.“ Das Prinzip der chriſtlichen Religion ſei in der Verkündigung Jeſu mit „unendlicher Energie, aber abſtrakt ausgeſprochen“. Und zwar inſofern, als der der inner: lich⸗geiſtigen Überwelt zugewandte Heroismus dieſer Verkündigung die innerweltlichen Kulturwerte vollkommen vergleichgültigt. „Hierin liegt eine Abſtraktion von allem, was zur Wirklichkeit gehört, ſelbſt von den ſittlichen Banden. Man kann ſagen, nirgends ſei ſo revolu⸗ tionär geſprochen als in den Evangelien, denn alles ſonſt Geltende iſt als ein Gleichgültiges, nicht zu Achtendes geſetzt.“? „Je tiefer L, IV, 763 = B, 435. Sperrung vom Verf. L, IV, 775. L, III, 738 ff. B, 416ff. der chriſtlichen Religion.” ® Vor der großen Gefahr, die darin liegt, richtet Hegel mit feiner Schilderung des ſchmählichen Untergangs des mit allen materiellen und geiſtigen Gütern geſegneten byzan⸗ tiniſchen Reiches ein Warnungszeichen auf. „Die Geſchichte des hochgebildeten oſtroͤmiſchen Reiches, wo, wie man glauben ſollte, der Geiſt des Chriſtentums in ſeiner Wahrheit und Reinheit aufgefaßt werden konnte, ſtellt nur eine tauſendjährige Reihe von fortwaͤhrenden Verbrechen, Schwächen, Niederträchtigkeiten und Cha⸗ rakterloſigkeit dar, das ſchauderhafteſte und deswegen unintereſſan⸗ teſte Bild. Es zeigt ſich daran, wie die ſchriſtliche Re⸗ ligion abſtrakt fein kann und als ſolche ſchwach iſt, eben weil fie fo rein und in ſich geiftig ift... Die Religion iſt ein Inneres, das lediglich dem Gewiſſen angehört; dem ſtehen alle Leidenſchaften und Begierden gegenüber, und damit das Herz, der Wille, die Intelligenz wahrhaft werden, müſſen ſie durchgebildet werden. Das Rechte muß zur Sitte, zur Ge⸗ wohnheit werden, die wirkliche Tätigkeit muß zu einem vernünf⸗ tigen Tun erhoben ſein, der Staat muß eine vernünftige Organi⸗ ſation haben, und dieſe macht erſt den Willen der Individuen zu einem wirklich rechtlichen. Das Licht in das Dunkle ſcheinend gibt wohl Farbe, aber nicht ein vom Geiſt beſeeltes Gemälde. Das byzantiniſche Reich iſt ein großes Beiſpiel, wie die chriſtliche Res ligion bei einem gebildeten Volke abſtrakt bleiben kann, wenn nicht die ganze Organiſation des Staates und der Geſetze nach dem Prinzipe dieſer Religion auch rekonſtruiert wird.“? Die neue Ausgabe fügt hinzu: „Dies oſtrömiſche Reich war der Bewahrer des Chriſtentums. Induſtrie, Handel, Wiſſenſchaft blühen dort, und man hätte glauben ſollen, dort hätte das Chriſtentum vorzüglich Wurzel ſchlagen müſſen. 1, I, 0.“ L, IV, 770f. = B, 430f. Spertung vom Verf. 17* 260 Vierte Stufe: Die chriſtliche Welt Die Bildung des Menſchen iſt aber für das Chri— ſtentum unwichtig, wenn nur eine vernünftige Verfaſſung da iſt, die die Freiheit aufkommen läßt. Und dies war im oſtrömiſchen Reiche nicht der Fall.“s Damit alſo das Chriſtentum von der luftigen Höhe der reinen Abſtraktion herunterſteige und zu einer konkreten, erdenhaften Geſtalt werde, iſt nach Hegel in allererſter Linie erforderlich, daß das Staats- und Verfaſſungsleben eines Volkes dem chriſtlichen Prinzip adäquat ſei. Sie find der ſtärkſte und auf die Dauer ſchlechthin unentbehr⸗ liche Rückhalt aller religiöſen, ſittlichen und kulturellen Werte, deren Exiſtenz und Wirkungskraft mit der des Staates bedroht iſt. Die Daſeinsbedingung des Chriſtentums als einer Kulturmacht in der Welt iſt eine Organiſation des Staates, die vollſte Freiheit ge— währt und dabei — ſonſt würde dieſe ſich ſelbſt aufheben — die Willkür im Zaume hält. Eine ſolche Organiſation des freien Gehor— ſams erblickt Hegel zum Unterſchied vom orientaliſchen Deſpotismus, der griechiſchen Demokratie und der römiſchen Ariſtokratie in der monarchiſchen Staatsform, die herauszubilden die germaniſche Welt befähigt und berufen war. „Der Gehorſam gegen die weltliche Ordnung... muß mit dem individuellen ſubjektiven Zwecke ver— mittelt fein, und das private Intereſſe muß innerhalb dieſer Außer: lichkeit ſeine Befriedigung erhalten. Daher muß auch das Recht und der Staat an ſich in ſeinen Zwecken gerecht ſein, auch unab— hängig von Privatintereſſen und partikulärer Meinung. Der Staat muß für ſich ſtark, ein Reich äußerer wirklicher Notwendigkeit ſein, das nicht unmittelbar der Sittlichkeit, nicht direkt der Religion be— darf, eine feſte Natur, die dem Selbſtbewußtſein gegenüberſteht. Dieſes muß ſich ihr unterwerfen als einer Macht über ſich. So muß der Staat an ſich vernünftig fein, auch wenn er von der ſub⸗ jektiven Meinung nicht anerkannt würde; er muß an ſich gerecht ſein, auch mehr und weniger mit Einſicht, ſo daß ſich der Begriff ® L, IV, 771, Sperrung vom Verf. Das Germanentum 261 all . befriedigen kann. Aus dieſen weſentlichen Momenten folgt, * daß, indem der Staat ſich als dieſe Natur entwickelt, alle Momente der Idee ſelbſt entwickelt und herausgeboren find. Dies iſt das Prinzip der Monarchie neuerer Zeit.“ Es war inſonderheit die Auf: 4 gabe der Deutſchen, in dieſem Sinne dem „Geſetze der Freiheit zu ſeiner Wirklichkeit zu verhelfen“. „Das Prinzip des freien Geiſtes zur Exiſtenz zu bringen, das Prinzip der allgemeinen Ausjöhnung hervorzurufen, hat der Weltgeiſt den Deutſchen aufgegeben. In ihr Herz hatten dieſe Völker das Prinzip des Chriſtentums aufgenom⸗ men, welches das Prinzip der Freiheit iſt; aber ſchon deswegen war es ihnen auch nur in den einzelnen Individuen wirkſam, es war nur abſtrakt. Frömmigkeit war in der Welt, aber noch keine Sittlichkeit. Die Individuen können fromm, aber dabei doch voll⸗ kommen unſittlich fein, wie es im byzantiniſchen und im fränkiſchen Reiche der Fall war. Daß die Frömmigkeit Wirklichkeit erhalte, dazu gehört Sittlichkeit des Subjekts, und dazu gehört wieder Sittlichkeit, Organiſa⸗ tion der Verfaſſung.“ 0 Was hat nun andrerſeits die germaniſchen Völker in ſo hervor⸗ ragendem Maße, wie es nach Hegel der Fall iſt, befähigt, das chriſt⸗ liche Prinzip nicht nur aufzunehmen, ſondern es der gedachten Ge⸗ ſtaltung zuzuführen? Es iſt der unbändige Freiheitsdrang dieſer Volker, den hervorzuheben Hegel nicht müde wird, der „abſolute Eigenſinn der Subjektivität“, 11 der alle Schrecken der Zerſplitte⸗ rung in partikuläre Leidenſchaften auszukoſten hat, der aber auch mit zunehmender Durchdringung durch das chriſtliche Prinzip die Freiheit und Gehorſam ſichernde Staatsform der Monarchie hervor⸗ bringen wird. „Was die germaniſchen Völker vereinigt, iſt das 1 Chriſtentum. Die Grundlage des een und der Verfaſſung iſt die Entwicklung der Freiheit.“ 1? L, IV, 760. 0 L, IV, Sof. Sperrung vom Verf. , IV, 759 = B, 487. 1 L., IV, 758. / T 262 Vierte Stufe: Die chriſtliche Welt Es war bereits geſagt worden, daß die chriſtliche Welt der grie⸗ chiſchen auch darin entſpricht, daß es ſich beide Male um die Ein⸗ bildung des herrſchenden Prinzips in die Geſamtheit des Staats⸗ und Kulturlebens handelt. 18 Nur iſt auf der neuen Stufe dieſer Prozeß unendlich erſchwert und verlangſamt. Dem unentwickelten, mit leidenſchaftlichſter Zügelloſigkeit und roheſter Kulturbarbarei gepaarten Freiheitsſinn der neuen Völker treten Dogma und Kul⸗ tus der chriſtlichen Religion als ſublimſte Frucht einer ausgereiften Kultur gegenüber. Es geſchieht im Seitenblick auf die griechiſche Welt, wenn Hegel in der neuen Ausgabe von dieſem Zuſammen⸗ treffen ſagt: „Dieſes, das Heterogenſte, wurde nun auf die ger⸗ maniſchen Völker gelegt, in ſie hineingearbeitet. Es iſt keine ruhige Entwickelung eines Prinzips, wobei Fremdes nur das Verhältnis eines Erregers hat, ſondern dieſes Heterogene wurde als ein un— geheures Gewicht auf die Menſchen gelegt. Es iſt die größte Ent⸗ zweiung, die die Geſchichte aufzuweiſen hat.“ 11 „Wir werden gleich im Anfang der chriſtlichen Zeit den ungeheuern Widerſpruch zwiſchen ihrem Prinzip und der Roheit und Wildheit finden, die im Anfang bei den chriſtlichen Völkern beſtand.“ 15 Aus dieſer Entzweiung zur Einheit zu kommen, das religiöſe Prinzip mit dem weltlichen zu verſöhnen, iſt der Sinn der durch Brüche und Kataſtrophen füh⸗ renden Entwicklung, die die Verſöhnung, die im chriſtlichen Prinzip an ſich vollbracht iſt, zur konkreten, das Weltleben erfaſſenden und durchdringenden Wirklichkeit werden läßt. Der Gang der ger— maniſchen Geſchichte iſt alſo ein dialektiſcher. Sie gliedert ſich in drei Perioden. | Die erfte Epoche, der Anfang, hat es mit dem Auftreten und der erſten Chriſtianiſierung der germaniſchen Nationen im römiſchen Reiche zu tun. „Es herrſcht zuerſt die rohe Einheit des Geiſtigen und Weltlichen, die unmittelbar und ſehr verſchieden von der aus dem Geiſtigen hervorgebrachten iſt.“ !“ Die chriſtliche Welt iſt eine 18 Pgl. oben S. 256. 1 L, IV, 787. 16 L, I, 112. 1 L, IV, 764. 1 Die zweite Epoche, das Mittelalter, zeigt das Auseinanderbrechen 1 dieſer unmittelbaren Identitat in die Gegenſaͤtze von Staat und Kirche, von weltlich⸗vernünftigem und geiſtig⸗geiſtlichem Prinzip, und weiterhin in den Gegenſatz innerhalb jeder dieſer beiden Größen, da jede ſelbſt die Totalität iſt. „Die chriſtliche Freiheit iſt zum Gegenteil ihrer ſelbſt verkehrt, ſowohl in religiöſer als in weltlicher 4 Hinſicht, einerſeits zur härteſten Knechtſchaft, anderſeits zur uns ſittlichſten Ausſchweifung und zur Roheit aller Leidenſchaften.“ 5 Das Ende der zweiten und zugleich der Anfang der dritten Periode Er iſt die Regierung Karls des Fünften. 4 Die dritte Epoche, die neue Zeit, bringt endlich die Verſöhnung des Gegenſatzes, die große Rechtfertigung und Anerkennung der m L, IV, 64 = B, 438f. L, IV, 759. 763 ff. - B, 437ff. „Weltlichkeit“, die „Wiederherſtellung der chriſtlichen Freiheit“. „Das chriſtliche Prinzip hat nun die fürchterliche Zucht der Bil⸗ dung durchgemacht, und durch die Reformation wird ihm ſeine Wahrheit und Wirklichkeit zuerſt gegeben... Dieſe dritte Periode der germaniſchen Welt geht von der Reformation bis auf unſere Zeiten. Das Prinzip des freien Geiſtes iſt hier zum Panier der Welt gemacht, und aus dieſem Prinzipe entwickeln ſich die allge⸗ meinen Grundſäͤtze der Vernunft.“ In einer der Vernunft gemäß eingerichteten NE kommt die Freiheit des Geiſtes zur Realität, 18 b) Die Herausbildung des germaniſchen Prinzips und die Phaſe der abſtrakten Identität aber die erſte Periode der germaniſchen Geſchichte iſt nach Hegel im ganzen wenig zu ſagen. Das Wichtigſte iſt die Grund⸗ 264 Vierte Stufe: Die chriſtliche Welt beſtimmung des Charakters dieſer germaniſchen Völker, die Hegel im Unterſchied von der römiſchen Innerlichkeit als „Innigkeit“ und „Gemüt“ bezeichnet. Der germaniſchen „Gemütlichkeit“, wie Hegel hierfür auch ſagt, eignet zunächſt noch nicht die Beſtimmtheit eines beſonderen Inhalts und Zwecks, auch nicht eine beſtimmte Form des Willens und des Intereſſes. Die germaniſche Uranlage des Ge- müts iſt das Prinzip des „Wohlmeinens“, ein unbeſtimmtes In⸗ Sich-Befriedigtfein, die „ſubjektive Freiheit als Eigenſinn“. 19 „Dazu gehört, daß der eigene Wille des Menſchen ganz in ihm iſt, daß er ſeine Befriedigung habe in der Unbeſtimmtheit. Befriedigung in einer beſtimmten Sache haben, iſt keine Gemütlichkeit, wohl aber Befriedigung im unbeſtimmten Ganzen, und zwar in ſich, ohne be⸗ ſonderen Zweck und Intereſſe, das iſt Gemütlichkeit.“ 20 Das ger⸗ maniſche Gemüt iſt das Gefäß, das alsdann den beſonderen Inhalt der chriſtlichen Religion aufzunehmen vermag. „Daß das ein⸗ zelne Subjekt, das abſolut Endliche, identiſch ſei mit dem abſolut Unendlichen, das iſt die Verſöhnung, die jetzt im Gemüte vor⸗ handen iſt.“ 21 Die Aufgabe iſt weiterhin die, daß das religiöſe Sub⸗ jekt auch „objektive Form“ gewinnt. Es muß „wirkliches, konkretes Subjekt“, es muß „weltliches Subjekt“ werden, das nach allge: meinen Intereſſen und Zwecken handelnd ſich darin befriedigt. 2? Bevor dies der Fall iſt, d. h. in feiner erſten unentwickelten Er⸗ ſcheinung iſt jenes Prinzip „ganz abſtrakt“, ſo daß Hegel geradezu von einem Zuſtande der „Stumpfheit“ ſpricht. „Wo der Menſch unentwickelt iſt, das Gemüt ihn allein erfüllt als allgemeiner Zu⸗ ſtand ohne Intereſſe, da nennen wir dieſen Zuſtand Stumpfheit, was mit abſtrakter Gemütlichkeit einerlei iſt, und dies iſt der Cha⸗ rakter der erſten Deutſchen. So ſchön wir ihn auch ausmalen, ihre Freiheit iſt nichts als eine Unfähigkeit, ſich für Zwecke zu bemühen. Darauf zielt alles, was wir von den älteſten Deutſchen hören oder 1 L, IV, 780 = B, 445 f. e L, IV, 780, 1 L, IV, 781. Sperrung vom Verf. * L, IV, 781 = B, 446, N > 4 * . \ * 3 a ir ‚3 > 9 * . * \ ee EL u A L ö * N — e . r 1 r ene * * . u 8 * > Er N i 4 1 * — 265 * leſen. 23 Ihre Freiheit äußert ſich demgemäß darin, daß jedes In⸗ dividuum als ein freies für ſich beſteht, während die politiſche Ge⸗ meinſamkeit eine ſehr lockere iſt. 1 Aber ihnen iſt das Ziel gegeben, den abſtrakten Unterſchied zwiſchen Iſolierung und Gemeinſamkeit zu einer einheitlichen Geſtalt zuſammenzutun, d. h. „ſich dem Staate entgegenzubilden“. ® In dieſer Fortbildung zum Staate ſind drei Beſtimmungen hervorzuheben. Erſtens, die Bildung von Vollsgemeinden, die nur freie Männer zu Mitgliedern haben. „Das Überwiegende war für die Germanen das poſitive Beſtehen des Individuums. Der freie Mann gilt als beſtehend und bleibt, er mochte getan haben, was er wollte. Die Gemeinde war nicht Herr über das Individuum; denn das Element der Freiheit iſt das Erſte bei ihrer Vereinigung zu einem geſellſchaftlichen Verhältnis. Dies abſolute Gelten des In⸗ dividuums macht eine Hauptbeſtimmung aus, wie ſchon Tacitus bemerkt hat.“ Die deutſchen Völker ſind von jeher wegen ihres Freiheitsſinnes berühmt geweſen.?“ Zweitens, die Bildung von freien, ftändigen Mittelpunkten als Fürſten, Heerführern, Königen. Der Anſchluß der Individuen an ein führendes Subjekt beruht auf freiwilligem Gehorſam. Das freiwillige, unverbrüchliche Dienſtver⸗ hältnis iſt die Treue. „Sie iſt das zweite Panier der Germanen, wie die Freiheit das erſte war.“ 27 Drittens, die Bildung des aus dieſen beiden Vorausſetzungen hervorgehenden Staates. Zum Be⸗ griff des Staates gehört, daß die Pflichten und Rechte nicht mehr der individuellen Willkür überlaſſen, ſondern als rechtliche Beſtim⸗ mungen fixiert und in der übergeordneten Autorität des Staates, der die „Seele und der Herr des Ganzen bleiben muß“, verankert ſind. „Das Individuum hat ſeinen Dienſt nicht nur gegen ein In⸗ dividuum, ſondern gegen die eigene Freiheit auszuüben.“ Da aber dem germaniſchen Staatsbewußtſein als das letzte Ziel, wovon die * L, IV, 782 = B, 446f. L, IV, 283 = B, 442. , IV, 783f. * L, Iv, 784f. =B,447. [, IV, 785f.=B, 448. 266 Vierte Stufe: Die chriſtliche Welt Bildung eines Staates ausgeht, die „Vereinigung der Treue“ vor⸗ ſchwebt, ſo iſt das Eigentümliche der germaniſchen Staaten das „Überwiegen der Beſonderheit“. Die Folge davon war die Zerſplit⸗ terung und Einhauſung des Staates in eine unendliche Zahl von Privatrechten und Privatverpflichtungen. „Die Geſetze ſind ſchlecht⸗ hin partikulär und die Berechtigungen Privilegien.“ ?s Die neue Ausgabe vertieft die hieraus hervorgehende Zerrüttung mit eindring⸗ lichen Zügen: „So find die einzelnen Verfaſſungen aus Privatver⸗ hältniſſen hervorgegangen; der Staat iſt aus Privatrechten zu⸗ ſammengeſetzt, und die einzelnen Berechtigungen ſind ungleich und in ſich inkonſequent, unerachtet ein Ganzes da iſt. In Deutſchland hat man eine peinliche Gelehrſamkeit von Einzelheiten, Abhängig⸗ keiten und Hörigkeiten zu verfolgen, wo die Geſchichten anderer Völker das Bild eines ſtarken Ganzen liefern. Es iſt eine unendliche Menge von Formen der Abhängigkeiten und Dienſte in Rückſicht auf das Eigentum, das ſich auch geographiſch zerſplitttert. Es gibt keine einfachen allgemeinen Grundgeſetze; alles, was zu leiſten und zu fordern iſt, iſt partikulär und Privateigentum, und dem Staate bleibt wenig oder nichts übrig. Auch die Geſchäfte und Amter wer⸗ den partikulär. Was die Dienſtmannſchaft zu genießen berechtigt iſt, wird zu ihrem Privateigentum, und was das Individuum zu leiſten hat, wird in ſeine Willkür geſtellt. Hiermit iſt dann ein voll⸗ ſtändiger Mangel an Staatsgeſinnung und eine Einwurzelung in Privatvorteile und Zerſplitterung herbeigeführt, die durch hinzus kommende partikuläre Leidenſchaften im großen und kleinen noch vermehrt wird.“ Auch die Kirche wird in das Verderben der Partikularität mithineingeriffen. 29 „Ein langer Prozeß erſt kann die Reinigung zum konkreten Geiſte zuſtande bringen.“ Und rohe Gemüter ſind einſtweilen das „Material“, das dem chriſtlichen Geiſte gemäß werden und in das dieſer ſich hineinbilden ſoll. ' — 2 L, IV, 786f. 788. 797 B, 448 f. 451. L, IV, 787f. % ., IV, 788 f. = B, 449f. A Er u u N ee Merowingerreiches erhebt fich die glanzende Schöpfung Karls des Großen: „Dieſes erſte Sichzuſammennehmen des Chriſten⸗ tums zu einer ſtaatlichen Bildung, die aus ihm ſelbſt hervorging, während das Römiſche Reich von dem Chriſtentum verzehrt worden war.“ 1 Karl der Große war römiſcher Kaiſer und Schutzherr der römischen Kirche. „Das neue Prinzip des Chriſtentums, das die germaniſche Welt durchdringt, zeigt ſich hier ruhig; Kirche und Staat lebten im Frieden.“ 92 Der nach feinem Tode einſetzende Zer⸗ fall erwies aber den „ſyſtematiſch geordneten Staat“ Karls des Großen als eine vollkommen unmächtige und höchit oberflächliche Einrichtung, die in den „Widerſpruch nach allen Seiten“ aus⸗ ceeinandergeht und nur durch die gewaltige Perſönlichkeit Karls, die der Partikularität Herr zu bleiben vermochte, zuſammengehalten worden war. 93 „Man könnte geneigt fein, die ganze Organiſation des fränkiſchen Reiches, die Schilderung von der ſchönen, ver⸗ nünftigen Verfaſſung der fränkiſchen Monarchie unter Karl dem 5 Großen, die ſich als ſtark, groß und ordnungsvoll nach innen und außen gezeigt hat, für eine leere Träumerei zu halten; dennoch hat ſie beſtanden. Aber dieſe ganze Staatseinrichtung war nur durch die Kraft, die Größe und den edlen Sinn dieſes Individuums ge⸗ halten und war nicht auf den Geiſt des Volkes gegründet, nicht le⸗ bendig in denſelben eingegangen, ſondern nur ein äußerlich Auf⸗ erlegtes, eine aprioriſche Konſtitution, wie die, welche Napoleon Spanien gab, die ſogleich unterging, als ſie nicht mehr durch die Gewalt aufrecht erhalten wurde. Was vielmehr die Wirklichkeit einer Verfaſſung ausmacht, iſt, daß ſie als objektive Freiheit, ſub⸗ ſtanzielle Weiſe des Wollens, als Verpflichtung und Verbindlichkeit in den Subjekten exiſtiert. Aber für den germaniſchen Geiſt, der nur erſt als Gemüt und ſubjektive Willkür war, war noch keine Verpflichtung vorhanden, noch keine Innerlichkeit der Einheit, ſon⸗ I, IV, 803 = B, 462. ., IV, 299. L, IV, 800. 803 f. 8 = B, 459. 402 f. 268 Vierte Stufe: Die chriſtliche Welt dern nur eine Innerlichkeit des gleichgültigen, oberflächlichen Fürfich- ſeins überhaupt. Auf dieſe Weiſe war jene Verfaſſung ohne feſtes Band, ohne den objektiven Halt in der Subjektivität; denn es war überhaupt noch keine Verfaſſung möglich.“ 34 e) Die Phaſe des Widerſpruchs Die zweite Periode, das Mittelalter, iſt beherrſcht von der widerſpruchsvollen Gegenſätzlichkeit, die aus der erſten Am: mittelbarkeit der chriſtlich-germaniſchen Welt hervorgeht. Staat und Kirche, weltliche und geiſtliche Macht, die doch beide die eine chriſt⸗ liche Welt, nur in der Teilung der Gewalten, ſein wollen, ſehen wir in ihrer Auseinanderſetzung begriffen. Die Entwicklung des Staatsgedankens zeigt zunächſt die Reaktion und Feſtigung beſonderer, romaniſcher und im engeren Sinn germaniſcher Nationalitäten gegenüber der allgemeinen, durch das Genie und die übermächtige Gewalt eines großen Mannes zu⸗ ſammengehaltenen Herrſchaft des Frankenreichs. Die Einheit der fränkiſchen Monarchie zerfiel in die Reiche Frankreich, Burgund, Deutſchland, Italien. Dazu treten Spanien und England. 3° Inner halb dieſer einzelnen Reiche ſelbſt bildet ſich die für das Mittel: alter charakteriſtiſche Feudalverfaſſung aus, die bei dem Fehlen einer durch geſetzliche Macht erzwingbaren Staatsgewalt die iſolierten, der allgemeinen Willkür und Schutzloſigkeit preisgege— benen Individuen durch ein auf gegenſeitigen Abhängigkeiten und Verpflichtungen beruhendes Schutzverhältnis organiſiert, ſie freilich damit auch wiederum der Willkür übermächtiger Unterdrücker preis⸗ gibt.“ „Infolge dieſer Verhältniſſe entſtand nun ein Schutzſyſtem derart, daß der Schützende der Mächtige war und die Beſchützten von ſeiner Perſönlichkeit, nicht vom Geſetze abhingen. Die Mäch⸗ tigen haben dabei nur den Zweck, für ſich einen Vorteil daraus zu % L, IV, 808 = B, 466f. 5 L, IV, Soaff. B, 463 ff. » L, IV, 805. Sogff. 860 = B, 463. 467ff. 500. Ss Das Getmanentum 269 4 — Dies iſt der Urſprung des Feudalſyſtems. Die Unter, die Verbindlichkeiten und Pflichten gegen den Staat horten auf; das gegen trat ein Zuſtand der Abhängigkeit von wenigen Mächtigen ein, aus dem eine große Tapferkeit hervorging, die aber nicht für das Gemeinſame, ſondern für das Einzelne ſtritt.“ 9? Könige und Kaiſer waren nicht die Oberhaͤupter eines durch Geſetz und Recht geeinten Staatsganzen, ſondern wie ihre Vaſallen und Dienſtleute felber nur Glieder in einem „Syſtem von Privatabhängigkeit und Privatver⸗ pflichtung“. Es konnte dabei nicht fehlen, daß die Treue gegen das Allgemeine der zufälligen Gewalttat, der Willkür, der Rechtloſig⸗ keit und der eigenſinnigen Roheit des partikularen Intereſſes zum Ddpfer fiel. s „Die germaniſche Chriſtenheit iſt ein allgemeines ö Schlachtfeld für Partikularitäten; fie bietet das Schauſpiel des bellum omnium contra omnes.“ 89 > Die zweite groſſe Bildung des Mittelalters iſt die Kirche. Hegel verfehlt nicht, ihre poſitive Bedeutung zu würdigen. „Man kann von der Kirche Vergehen, Laſter, Verbrechen aufzählen; aber das iſt das Zufällige. Ihr Inhalt iſt die Lehre des Chriſtentums und ihr Werk die ununterbrochene Ausſtellung der geiſtigen Schäge. Wir bemerken in der Chriſtenheit das Bedürfnis, ſich ein Letztes, Volles zu geben, und dies Bedürfnis weiſt auf den Mangel hin, den die Chriſtenheit damals empfand und dem die Kirche abhelfen ſollte. Wir müſſen deshalb auf die Natur der chriſtlichen Kirche zurück gehen und die eigentümliche Form betrachten, wie ihre Bildung in jener Zeit ſich ausgeſtaltet hat. Dieſe eigentümliche Form gehört der Seite an, mit der die chriſtliche Religion jedesmal in der Gegen⸗ wart des Selbſtbewußtſeins einen Fuß hat.“ 40 Noch einmal formu⸗ liert Hegel in prägnanter Kürze das Weſen der chriſtlichen Religion: „Der Menſch wird erſt als geiſtiges Weſen wirklich, wenn er ſeine Natürlichkeit überwindet. Dieſe Überwindung wird nur durch die Voraus ſetzung möglich, daß die menſchliche und göttliche 1, IV, SI. „ , IV, 813 = B, 408 ff. „ L, IV, 814. „ L, IV, 820. 270 Vierte Stufe: Die chriſtliche Welt Natur an und für ſich eins ſeien, und daß der Menſch, inſofern er Geiſt iſt, auch die Weſentlichkeit und Subſtanzialität hat, die dem Begriffe Gottes angehört. In Chriſto iſt dem Menſchen das Be wußtſein dieſer Vereinigung gegeben worden. Die Hauptſache nun iſt, daß der Menſch dieſes Bewußtſein ergreife, und daß es be— ſtändig in ihm erweckt werde.“ 41 Die mittelalterliche Kirche iſt alſo nicht ſchlechthin identiſch mit dem chriſtlichen Prinzip, ſondern eine zeitgeſchichtlich bedingte und individualiſierende, wenn auch not⸗ wendige Formgebung desſelben. Das Mittel, jener Vereinigung oder Verſöhnung teilhaftig zu werden, iſt für den mittelalterlichen Men⸗ ſchen der Kultus. Und der Mittelpunkt des Kultus wiederum iſt die Meſſe. Vom Meßopfer her, als dem Haupt: und Kernſtück des katho⸗ liſchen Kultus, hat Hegel das Weſen des Katholizismus verſtanden wiſſen wollen. „Es iſt platt und irveligiös, Leben, Leiden und Tod Chriſti bloß hiſtoriſch als eine Begebenheit zu nehmen.“ 42 In der Meſſe iſt der Opfertod Chriſti zum dauernden, alle Tage anſchaubaren Vorgang gemacht, der der mithandelnden und mit: erlebenden Gemeinde die ewige Wahrheit zur ſinnlichen Gegenwart bringt. Die konſekrierte Hoſtie iſt der ſich ewigopfernde, gegenwär⸗ tige und zur Anſchauung kommende Gott. „Es iſt darin das Rich⸗ tige erkannt, daß das Opfer Chriſti ein wirkliches und ewiges Ge⸗ ſchehen iſt, inſofern Chriſtus nicht bloß ſinnliches und einzelnes, ſon⸗ dern ganz allgemeines, d. h. göttliches Individuum iſt. So iſt gegen die Konſekration an ſich nichts zu ſagen: es iſt der Geiſt der Kirche, der zur unmittelbaren Gewißheit heraustritt, ſich zu dieſer ſinnlichen Gegenwart und dadurch als ein Dieſes mitteilbar macht.“ Aber das Verkehrte iſt, daß die Gegenwart Chriſti nicht weſentlich in die Vorſtellung und den Geiſt geſetzt, daß das Göttliche nicht als Ge⸗ ſetz und Natur des Geiſtes gefaßt, ſondern als äußerlich-ſinnliches Ding für ſich iſoliert wird und damit aus der Dialektik des unend⸗ lichsendlichen Geiſtes herausfällt.“!) „Nachdem .. die Kirche ſich in 1 L, IV, 821 = B, 476. 4 L, IV, 822. „ L, IV, 823 - B, 476. Be. Ber. Das Germanentum 271 ſich vollbracht hat und zur Herrſchaft in der Welt gekommen iſt, tritt die letzte Spitze ihres Prinzips hervor in dem Hinaustreiben 1 zu dem Wunder der Gegenwart, daß Gott geiſtig und doch als E- Ding gegenwärtig fel; um dieſen Punkt dreht ſich das Ganze.“ 4 In der Veräußerlihung und Verdinglichung des Gei— ſtigen und Göttlichen und der daraus entſpringenden Unfreiheit ſieht Hegel das Weſen der katholiſchen Kirche. „In der katholiſchen Kirche iſt ſo das Außerliche das F Beſtimmende und bringt in das Gebiet der abſoluten Freiheit all das Geiſtloſe und Unfreie, dem wir im Katholizismus auf . Schritt und Tritt begegnen.“ !“ Gelangt das Göttliche überhaupt erſt einmal zur dinglichen Gegenwart, ſo kann nicht fehlen, daß es ſich auch zur unendlichen Mannigfaltigkeit von Mirakeln und E Reliquien, von Marien⸗ und Heiligenbildern und ſonſtigen Gna⸗ denmitteln zerſplittert. Die Kirche iſt eine Welt der Wunder, die dem natürlichen Daſein den letzten Reſt von Gewißheit nimmt. Hat das Heilige den Charakter der äußerlichen Dingheit, und wird durch dieſe, nicht im Geiſte, die Einswerdung des Menſchlichen mit dem Göttlichen vollbracht, fo tritt eine Trennung ein zwiſchen denen, die das heilige Ding und die Wiſſenſchaft des Göttlichen beſitzen, verwalten, ſpenden und ſolchen, die fie empfan⸗ gen. Es iſt die abſolute Entzweiung der mittelalterlichen Kirche in Geiſtlichkeit und Laien, die den blinden Gehorſam und den Zwang des Glaubens, die Inquiſition und den Scheiterhaufen, die Heiligen— verehrung und die Hexenverbrennung, die Kaſuiſtik und die Prak⸗ tiken des Beichtſtuhls, das Meſſehören und das Paternoſterbeten, die Bufübungen und die Pilgerfahrten, ſchließlich auch die Ablaß⸗ krämerei im Gefolge hat.““ „So hat die Kirche die Stelle des Ge⸗ wiſſens vertreten und die Individuen wie Kinder geleitet. Das Gut⸗ werden der Individuen iſt in die Hand eines beſtimmten Standes gelegt, der dadurch eine Hierarchie bildet. Und dieſer Charakter der L, IV, 822, „ L, IV, 823. „ L., IV, 823ff. - B, 477 ff. 491f. 272 Vierte Stufe: Die chriſtliche Welt Außerlichkeit iſt der eigentümliche Charakter dieſer Kirche und ihrer Hierarchie, durch den das Geiſtigſte, das Freieſte zum Knechtiſchſten wird. Das Geiſtige und das geiſtliche Reich ſind ſehr verſchiedene Dinge. Dieſes iſt ein Reich der Knechtſchaft des Geiſtes.“ “7 — Das von der Kirche ideell vertretene Prinzip iſt das der Verſöhnung und Liebe. “s Sie war dazu berufen, die chriſtliche Idee in die Herzen einzubilden und damit gegen die vorhandene Wirklichkeit der wilden ungebändigten Natur der germaniſchen Völker zu reagie⸗ ren.“? Über ihrer pädagogiſchen und religiöfen Aufgabe aber iſt ſie durch Schenkungen und Vermächtniſſe, durch die Häufung von Reichtümern und durch die allgemeine politiſche Entwicklung der Herausbildung geiſtlicher Territorien, zu einer „furchtbaren welt⸗ lichen Macht“ geworden, die, ein Mittelpunkt des Widerſtandes gegen Gewalttätigkeit und Willkür, ſelbſt ſchließlich nur Gewalt gegen Gewalt und Willkür gegen Willkür zu ſetzen vermochte. „Dies ſelben Leidenſchaften, die im weltlichen Leben regieren, wirken auch in der chriſtlichen Kirche des Mittelalters.“ Die Kirche als Reaktion des Geiſtigen gegen die vorhandene Weltlichkeit iſt ſo beſchaffen, „daß ſie das, wogegen ſie reagiert, ſich nur untertänig macht, nicht aber dasſelbe reformiert“. Auf dieſe Weiſe vermiſchte die Kirche ihr weltliches Intereſſe mit ihrem Intereſſe als geiſtlicher, d. h. göͤtt⸗ lich ſubſtanzieller Macht. 50 „Der Papſt hatte ſelbſt ein weltliches Beſitztum und ſtellte ſich dadurch in Beziehung auf Politik und Intrigen den weltlichen Fürſten gleich, bediente ſich das Bannes zu politiſchen Abſichten und maßte ſich die weltliche Gewalt über alle weltlichen Güter, namentlich über die Bistümer an.“ 51 Die Ver weltlichung der Kirche führte zu den das Mittelalter erfüllenden Kämpfen zwiſchen dem weltlichen und geiſtlichen Prinzip, dem Kaiſer und dem Papſt. Die Kaiſer kämpften um die Rechte des Staa⸗ tes. Ihr Beſtreben ging dahin, die ſelbſtändig gewordene weltliche 4 L, IV, 827. 4 L, IV, 820, % L, IV, 805 = B, 463; L, IV, 818. 50 L, IV, 830, 832. 834. 836 = B, 473. 475. 483. „ L, IV, 873. n r wii Eee ET Be a re z 1 71 9 “a , * * > € r ö r r ’ ‚VE . | U Das Germanentum 273 4 | Macht des päpftlichen Stuhles ihrem noch höheren Anſpruch auf die Wahl und Einſetzung des Papſtes in die weltliche Herrſchaft 4 zu beugen. Denn der roͤmiſche Kaiſer iſt das weltliche Oberhaupt und der oberſte Schirmherr der geſamten Chriſtenheit. Er nimmt nach der Theorie unbeſtritten den erſten Rang über allen anderen HPerrſchern ein und beſitzt das dominium mundi. „Aber der welt: lichen Macht, die ſie bekaͤmpften, waren ſie zugleich als geiſtlicher unterworfen, und fo war der Kampf ein ewiger Widerſpruch.“ 5? Die Kirche andrerſeits, von dem abſtrakten Prinzip ausgehend, daß das Göttliche höher ſtehe als das Weltliche, beanſpruchte als göttliche Macht die Herrſchaft über die weltliche. Der Papſt diſpo⸗ . j nierte über das ungeheure Vermögen der Geiftlichkeit, zwang ganze Lender und Staaten in ein foͤrmliches Vaſallenverhaͤltnis, vereidigte den Kaiſer zum Gehorſam gegen die Kirche, maßte ſich die Entſchei⸗ dung über die Kronen der Fürſten an, vermittelte zwiſchen den Mächten in Krieg und Frieden, trat in göttlichen und menſchlichen Angelegenheiten als oberſter Schiedsrichter auf. „Es ſtand auf der Schwebe, ob die Hierarchie das weltliche Regiment ganz in ihre Gewalt bekommen ſollte.“ 1 Der Inveſtiturſtreit, noch mehr die Ge⸗ E ſchichte der Hohenſtaufen, die „große Tragödie des Mittelalters“, entſchieden für den Papſt gegen den Kaiſer. “9 „Die Macht der Kirche aber iſt während dieſes Kampfes ungeſchwächt geblieben, und ſein Reſultat iſt, daß die Kirche ſich ebenſo zur Herrin aller Lebens⸗ verhältniſſe wie aller Wiſſenſchaften und Künſte macht, ſo daß keine Stunde des Tages vergeht, wo ſich der Menſch nicht in geiſtlichem Dienſte befände.“ 8 — Der „Kulminationspunkt“ dieſer zweiten, mittelalterlichen Periode find die Kreuzzüge.“ Hegel meint dies in einem mehrfachen Sinn. Zunächſt wird durch fie der höchſte Grad der Gemeinſamkeit erreicht, — L, IV, 877. 836f.=B, 487f. L, IV, 833f.= B, a7af. [., IV, 834. ss L, IV, 8ı7f. 837 f. = B, 489 f. „ L, IV, 818. L, IV, 805 B, 464. veeſe, Geſchichtephiloſophie Hegels 18 274 Vierte Stufe: Die chriſtliche Welt zu dem es das Mittelalter überhaupt gebracht hat. „Bei all dieſen Gegenſätzen und Entzweiungen der Chriſtenheit ſchimmert doch eine Gemeinſamkeit durch: die weltliche und die geiſtliche Macht vereinen ſich zu einem gemeinſamen Zweck, nämlich, zur Verbreitung des Chriſtentums und zur Bekämpfung ſeiner Feinde. Das Chriſtentum ſoll ſich durch den weltlichen Arm ausbreiten und geltend machen. Die große geſchichtliche Begebenheit, die dieſen Zweck verfolgte, ſind die Kreuzzüge.“ 's Zweitens vollendete die Kirche durch die Kreuze züge ihre Autorität. „In den Kreuzzügen ſtand der Papſt an der Spitze der weltlichen Macht, der Kaiſer erſchien nur, wie die anderen Fürſten, in untergeordneter Geſtalt und mußte dem Papſte, als dem ſichtbaren Oberhaupt der Unternehmung, das Sprechen und Handeln überlaſſen.“ 9? Drittens trieb die Kirche mit dem Zweck, das heilige Land, „dieſe letzte im Raum partikulariſierte Gegen⸗ wart“, zu erobern, ihr Prinzip der ſinnlichen Veräußerlichung des Geiſtigen und Göttlichen auf die letzte Spitze. „Die damalige Kirche ... ſuchte die Gegenwart Chriſti nur im Außerlichen und ſchließlich im gelobten Lande. Dies höchſte Gut ſollte für die ganze Chriſtenheit errungen werden... Alle wundertätigen Bilder und Reliquien verſchwanden in den Augen der Chriſten vor dieſer höchſten Reliquie.“ o Wie für Griechenland und Rom der höchſte Gipfel der Punkt des Sinkens war, ſo iſt für die mittelalterliche Chriſten⸗ heit der Kulminationspunkt endlich der „eigentliche Punkt der Um⸗ kehrung“. 1 „In dieſem leeren Grabe mußte die Meinung der 56 L, IV, 845f. 5° L, IV, 851 B, 496. e I., IV, 847. e J, IV, 849 = B, 494. — Damit tritt in der geſchichtsphiloſophiſchen Dialektik eine bemerkenswerte Verſchiebung ein. In der griechiſchen und römiſchen Kultur⸗ welt kommt der höchſte Gipfel, der zugleich der Punkt des Sinkens iſt, an der Grenzſcheide zwiſchen der Phaſe der Identität und der des Widerſpruchs zu liegen. Die Phaſe des Widerſpruchs hat überhaupt keinen Höhepunkt, ſie erſcheint als Zerſetzung, nicht als Zuſammenfaſſung. Die reiche und vielgeſtaltige Welt des chriſtlich⸗germaniſchen Mittelalters widerſtrebt dieſer Einfachheit des dialektiſchen Rhythmus. Hegel hat ſie im ganzen als Phaſe des Widerſpruchs gefaßt (ſiehe unten). Innerhalb dieſer Phaſe des Widerſpruchs aber unterſcheidet er nun wieder⸗ n / 1 10 . f ä er 8 * * 7 n „ 275 AN verweſen, fie konne in einem ſinnlichen Dafein ihr . finden. Die Chriſten haben Jeruſalem erobert, aber das Be von dem in ihrem Geiſte zurückgebracht, was fie geſucht % Die Aufgabe, die das chriſtliche Prinzip der germaniſchen get ſtellte, hat die mittelalterliche Kirche nicht löfen können. Worum handelte es ſich? Und was hat die Kirche geſucht, gefunden und verloren? Hegel antwortet darauf mit dem einen Satz: „Die . ungeheure Idee der Verknüpfung des Endlichen und Unendlichen baben wir zum Geiſtloſen werden ſehen, daß das Unendliche als Dieſes in einem ganz vereinzelten äußerlichen Dinge geſucht worden itſt. Die Chriſtenheit hat das leere Grab, nicht aber die Verknüpfung 3 . des Weltlichen und Ewigen gefunden und das heilige Land deshalb 1 verloren.“ Es mußte ihr dadurch zum Bewußtſein kommen, daß das Verknüpfende des Weltlichen und Ewigen kein äußerliches Ding, = 288 das „geiſtige Fürſichſein der Perſon“ iſt, daß der Menſch die göttliche Gegenwart in ſich ſelbſt ſuchen müſſe, daß die Wahr⸗ 5 heit der Religion nicht auf ſinnliche Weiſe erlangt werden kann, u ſondern ein Geiftiges und nur im lebendigen Geiſte erfaßbar iſt. . . „Dieſe Erkenntnis iſt das vorzüglichſte, das abſolute Reſultat der Kreuzzüge... Von hier fängt die Zeit des Selbſtvertrauens, der Selbſttätigkeit an. Das Abendland hat vom Morgenlande am hei⸗ ligen Grabe auf ewig Abſchied genommen und fein Prinzip der ſub⸗ jektiven unendlichen Freiheit erfaßt. Die Chriſtenheit iſt nie wieder als ein Ganzes aufgetreten.“ 63 An dieſen „tiefen Bruch“ et knüpft ſſich der Fortſchritt des Selbſtbewußtſeins. — Bevor wir Hegel darin folgen, vergegenwärtigen wir uns den Ge⸗ ſamteindruck des Mittelalters, der uns das Recht gibt, vom Mittelalter als der Phaſe des Widerſpruchs zu reden. In dem überaus reichen Bilde, das Hegel von ihm entworfen, 3 N ; um Momente höchſt kraftvoller Identität und darauffolgende der Zerſetzung. Hegels Dialektik kommt daher nur auf jehr gewundenen Wegen zum Ziel. , IV, 840. , IV, 849 f. - B, 494f. [, IV, 852 = B, 496. E 18* 3 276 Vierte Stufe: Die chriſtliche Welt fehlen nicht die lichten Züge. Alles Licht ſammelt ſich in einer über⸗ aus betriebſamen Produktivität energiſcher und individueller Kraft. „Es liegt in dem Prinzip der ſubjektiven Innigkeit und Lebendigkeit des Selbſtbewußtſeins, daß die Menſchen im Mittelalter in ihren Partikularitäten iſoliert und durch ihre Iſolierung auf individuelle Kraft und Macht reduziert ſind. So wird dann jeder Punkt, auf dem ſie ſich in der Welt aufrechterhalten, ein energiſcher. Wenn das Individuum noch nicht durch Geſetze, ſondern nur durch ſeine eigene Kraftanſtrengung geſchützt iſt, ſo iſt eine allgemeine Leben⸗ digkeit, Betriebſamkeit und Erregung vorhanden.“ 55 Die ungeheuren Leiſtungen der Baukunſt, der lebhafte Seehandel, die Regſamkeit der Gewerbe, der Schwung der Wiſſenſchaften und Rechtsſchulen, vor allem aber das Aufblühen und die wachſende Bedeutung der Städte und Städtebündniſſe, die gegen die Gewalttätigkeiten des Feudalweſens reagierend ſich als „erſte in ſich rechtliche Macht“ konſolidieren und der Hort der wiedererwachenden Freiheit werden, find des Zeuge.“ Im ganzen aber hat Hegel das Mittelalter unter dem Geſichtswinkel des verderblichen Widerſpruchs geſehen. Geiſtliche und weltliche Macht, Kirche und Staat ſind, wie gezeigt, nicht nur einander widerſprechend, ſondern in ſich vom Widerſpruch zerriſſen. * Die Kirche des Mittelalters iſt ein „vielfacher Widerſpruch in ſich“. Sie iſt erſtens der Widerſpruch zwiſchen ihrer ſittlichen Be— ſtimmung und ihrer ſittlichen Wirklichkeit. Die „Verwirklichung des Göttlichen“ iſt das „ſittliche Reich des Staates“. Die Grundpfeiler der Sittlichkeit ſind Ehe und Familie, Erwerb und Genuß des in ſeiner Arbeit ſich befriedigenden Menſchen, und die Freiheit des Individuums, die „darin beſteht, daß der Gehorſam auf das Sitt⸗ liche und Vernünftige gerichtet ſei, als der Gehorſam gegen die Ge⸗ ſetze, die ich als die rechten weiß, nicht aber der blinde und un⸗ es L, IV, 841 = B, 483. % L, IV, 84 ff. 845. 856 f. 858 f. 862 f. = B, 483 ff. 487. 499f. 503f. u 5 5. h > r 24 . AI 5540 * x Fr 9 ar I iz 11 E * 3 . N ” 1 4 mE Be var Be ww n * m ri 1 „ er > | Dos 277 5 .* e, der nicht weiß, was er tut, und ohne Bewußtſein und — in feinem Handeln herumtappt“. Mit ihren Idealen der R Keuſchheit und des Zölibate, der Armut und des Almoſens, des blinden Gehorſams und der alle entmündigenden Autorität hat die Kirche alle Sittlichkeit als ein Nichtiges degradiert. „Die Aufgabe des Mittelalters aber war nun, jene drei Prinzipien der wahren Sittlichkeit zu verwirklichen, und ſo trug die Kirche den Widerſpruch gegen ihre eigene Beſtimmung in ſich. Die Kirche war keine gei⸗ ſtige Gewalt mehr, ſondern eine geiſtliche, und die Weltlichkeit hatte mu ihr ein geiſtloſes, willenloſes und einſichtsloſes Verhältnis. Als 7 Folge davon erblicken wir überall Laſterhaftigkeit, Gewiſſenloſigkeit, Schamloſigkeit, eine Zerriſſenheit, deren weitläufiges Bild die ganze Geeſchichte der Zeit gibt.“ Der zweite Widerſpruch beſteht darin, daß ein „ſinnliches, äufßerliches Ding“, eine „gemeine äußerliche & Exiſtenz“ wie die konſekrierten Elemente als Abſolutes gelten follen. Der dritte Widerſpruch iſt der, daß ſich der Geiſt des Menſchen die Gewißheit der Identität mit dem Abſoluten nicht ſelber gibt, ſondern daß fie ihm durch einen beſonderen, äußerlich geweihten Stand vermittelt wird. Ein vierter und letzter Widerſpruch endlich mitt darin zutage, daß die Kirche „als eine äußerliche Exiſtenz Bes 3 ſitztümer und ein ungeheures Vermögen erhielt, was, da fie eigentlich den Reichtum verachtet oder verachten ſoll, eine Lüge iſt“. 68 3 Wie die Kirche, ſo iſt auch der Staat ein Widerſpruch in ſich Ar Zunächſt ift die Kaiſerwürde der traurige Widerſpruch des Wollens und Nicht⸗Könnens, eine „hohle, leere Einheit“, eine „leere Ehre“, eine „hohle Anmaſſung“, eine „Scheingewalt“, durch die das Fortſchreiten der ſtaatlichen Bildung in Deutſchland im Gegen⸗ ſatz zu andern Ländern gehemmt wurde. „Dieſe Kaiſermacht hat nicht die Kraft gehabt, etwas zu befchwören, allenfalls den Zauber 2 der Meinung, daß nämlich die anderen die Meinung feiner Kraft — — 1 TE ur « = *, IV, 88 f. = B, 480; L, IV, 839, “ L, IV, 829f. - B, 481. 278 Vierte Stufe: Die hriftliche Welt haben ſollten.“ 69 Zweitens „tritt an dem ſcheinbar jo herrlichen römiſchen Kaiſertum deutſcher Nation... der tiefſte Widerſpruch hervor, daß das Band an dieſem vorgeſtellten Staat, das wir Treue nennen, der Willkür des Gemüts anheimgeſtellt iſt, das keine ob: jektiven Pflichten anerkennt. Dadurch aber iſt dieſe Treue das Aller⸗ ungetreueſte. Die deutſche Ehrlichkeit des Mittelalters iſt ſprichwört⸗ lich geworden: betrachten wir ſie aber näher in der Geſchichte, ſo iſt fie eine wahre punica fides oder graeca fides zu nennen; denn treu und redlich ſind die Fürſten und Vaſallen des Kaiſers nur gegen ihre Selbſtſucht, Eigennutz und Leidenſchaft, durchaus untreu aber gegen das Reich und den Kaiſer, weil in der Treue als ſolcher ihre ſubjektive Willkür berechtigt und der Staat nicht als ein ſitt⸗ liches Ganzes organiſiert iſt“. 70 Endlich durchzieht das Mittelalter ein Widerſpruch insge— mein. Es iſt der Widerſpruch der Frömmigkeit, der ſchönſten und innigſten Andacht, und dann der Barbarei der Intelligenz und des Willens, — der chriſtlichen Heiligkeit, die allem Weltlichen entſagt, und des grauſamen Wütens der Leidenſchaft. 7! „Die germaniſchen Völker ſind zu dem Widerſpruch mit ſich ſelbſt gekommen, der große, aber auch fürchterliche Erſcheinungen hervorbringt. Frömmigkeit und Gewalttätigkeit, Würde und Gemeinheit, Skrupuloſität und Leicht⸗ ſinn, — alles ſchlägt ineinander über und wechſelt miteinander ab, einerſeits Wut und Leidenſchaft, anderſeits Zerknirſchung.“ 72 Ins⸗ beſondere offenbaren die Begebenheiten der Kreuzzüge dieſen „un⸗ geheuren Kontraft” der größten Ausſchweifungen und Gewalttätig⸗ keiten einerſeits, der höchſten Zerknirſchung und Niederwerfung andrerſeits. „Noch triefend vom Blute der gemordeten Einwohner: ſchaft Jeruſalems fielen die Chriſten am Grabe des Erlöſers auf ihr Angeſicht und richteten inbrünſtige Gebete an ihn“. 78 Hegel hat ſich ſehr entſchieden gegen die romantiſche Verherrlichung des Mittel⸗ 6% L, IV, 835 f. B, 482. * L, IV, 845 =B, 482. 71 L, IV, 840 = B, 482. 72 L, IV, 818f. * L, IV, 848 = B, 493. dos Germanentum 279 3 0 ausgeſprochen: „So widerſprechend, ſo betrugvoll iſt dieſes Mittelalter, und es iſt eine Abgeſchmacktheit unſerer Zeit, die Vor⸗ 1 N trefflichkeit desſelben zum Schlagwort machen zu wollen. Unbefan⸗ gene Barbarei, Wildheit der Sitte, kindiſche Einbildung iſt nicht emporend, ſondern nur zu bedauern; aber die höchſte Reinheit der Seele durch die greulichſte Wildheit beſudelt, die gewußte Wahrheit durch Lüge und Selbſtſucht zum Mittel gemacht, das Vernunft⸗ widrigſte, Roheſte, Schmutzigſte durch das Neligiöfe begründet und bekräftigt, — dies iſt das widrigſte und empörendfte Schauſpiel, das jemals geſehen worden.“ 74 Es iſt um deswillen, daß Hegel von dem „Widerſpruch der unendlichen Lüge“ ſpricht, welcher das „Mittelalter beherrſcht und das Leben und den Geiſt desſelben aus⸗ macht“. 75 Hegel fährt fort, daß nur die Philoſophie dieſen Widerſpruch be⸗ greifen und darum rechtfertigen kann.“ Es iſt das ſtolze Bewußtſein um die Überlegenheit und Fruchtbarkeit des geſchichtsphiloſophiſchen Prinzips der Dialektik, das bei Hegel ſich auch hier wieder meldet. Der Geiſt des Mittelalters iſt der chriſtliche Geiſt in feinem Andersſein, ſeiner Entfremdung von ſich ſelber, durch die er hin⸗ durchmuß, um ſich wahrhaft zu realiſieren. Es iſt der chriſtliche Geiſt in ſeiner Natürlichkeit, die er bekämpfen, von der er ſich ſcheiden und die er überwinden muß, um wahrhaft chriſtlicher Geiſt zu ſein. Seine Natürlichkeit iſt das falſche, ſeinem eigentlichen Weſen widerſprechende Verhältnis, das er ſich zur Welt gibt, und das Hegel als das Zentralproblem der Geſchichte des chriſtlichen Abend⸗ landes von allen Seiten beleuchtet hat. Und die dieſer Geſchichte immanente Dialektik bringt Hegel auf die Formel: „Es iſt ein not⸗ wendiger Gegenſatz, der in das Bewußtſein des Heiligen treten muß, wenn dies Bewußtſein noch erſtes und unmittelbares Bewußt⸗ ſein iſt; und je tiefer die Wahrheit iſt, zu der ſich der Geiſt an ſich verhält, indem er zugleich noch nicht ſeine Gegenwart in dieſer 1, IV, Sof. B, 482 f. n L, IV, 804 B, 463. L., IV, Sr = B, 483. 280 Vierte Stufe: Die chriſtliche Welt Tiefe erfaßt hat, deſto entfremdeter iſt er ſich ſelbſt in dieſer ſeiner Gegenwart. Aber nur aus dieſer Entfremdung gewinnt er ſeine wahrhafte Verſöhnung.“ 77 Es handelt ſich bei der Hegel vorſchwe— benden Verſöhnung darum, daß das religiöſe Prinzip in ein ſeinem Weſen angemeſſenes Verhältnis zum weltlichen tritt und umgekehrt. Wie dieſes Verhältnis beſchaffen ſein muß, darüber gibt gerade wieder ein Zuſatz der neuen Ausgabe Aufſchluß, der aus der mittel⸗ alterlichen Entwicklung den Prozeß der Verſöhnung folgen läßt: „Die Entwickelung iſt ... die, daß ſich das Chriſtentum zu dem res gierenden Prinzip macht. Dabei wird es dann freilich ſehr weltlich, entgegen dem Ausſpruche Chriſti: mein Reich iſt nicht von dieſer Welt. Zugleich muß es ſich dabei von der Weltlichkeit und die Welt ſich von der Kirche trennen; die Welt aber muß während dieſes Prozeſſes in ihren Elementen geiſtig, d. h. vernünftig wer: den. Das Letzte iſt, daß beide Seiten ſich für ſich geſtalten; die gei— ſtige Kirche muß ſich rein als geiſtige Macht ausbilden und dadurch ſich ſelbſt wahrmachen. Wenn dann jedes für ſich iſt, die Weltlichkeit vernünftig und die Kirche geiſtig, iſt wahrhafte Einigkeit zwiſchen beiden möglich.“ 7s Alsdann nämlich, jo fügen wir hinzu, können Welt und Kirche als Momente in der Totalität der dialektiſchen Selbft: bewegung des unendlich-endlichen Geiſtes verſtanden werden. Dies iſt der Sinn von Hegels Satz: „Es gibt zwei göttliche Reiche, das intellektuelle in Gemüt und Erkenntnis und das ſittliche, deſſen Stoff und Boden die weltliche Exiſtenz iſt. Die Wiſſenſchaft iſt es allein, die das Reich Gottes und die ſittliche Welt als eine Idee faſſen kann und erkennt, daß die Zeit darauf hingearbeitet hat, dieſe Einheit auszuführen.“ 79 | Der Fortſchritt des Selbſtbewußtſeins und damit der Prozeß der Verſöhnung, der Kirche und Welt zu geiſtigen Mächten läutert, 7 A. a. O. 's L, IV, 819f. Sperrungen vom Verf. L, IV, 827 B, 479. r ** ei + ; 3 N en or I. x 3 Bus a Das Germanentum 281 , wie bemerkt wurde, an das Reſultat der Kreuzzüge an. 90 Der Geift, unbefriedigt durch feine greuelhafte und unvernünftige F Erifteng, „bat ſich in ſich zurückgeworfen“. Er ergeht ſich von nun an entweder in ſich ſelbſt oder er begibt ſich in „die Wirklich kelt allgemeiner und berechtigter Zwecke, die eben damit Zwecke der Freiheit find“. Zu den erſteren Regungen des Geiſtes rechnet Hegel die Stiftungen von Mönche: und Ritterorden, die Ernſt machen mit der von der Kirche geforderten Entſagung des Beſitzes, des Reich⸗ tums, der Genüſſe und ſich damit gegen das weltliche Verderben der Kirche erheben. „Wir ſehen in dieſer Zeit wirkliche Erſcheinungen der höheren Welt.“ 1 Das andere, der Welt und ihren Zwecken zus gewandte Intereſſe des Geiſtes bewährt ſich nach drei Hauptrich⸗ tungen hin. Es handelt ſich hier erſtens um das Zeitalter der Er⸗ findungen und Entdeckungen. „Nachdem der Geiſt erkannt hat, daß das ſinnliche Dieſes nicht in der Kirche, ſondern außerhalb ihrer gefunden wird, wendet ſich der Menſch zu der Welt, verhält ſich praktiſch zu ihr, iſt in ihr feiner ſelbſt ſicher und läßt fie darum frei, wie er ſelbſt frei iſt. Das iſt es, was nun in der Welt auf⸗ geht; die Menſchen haben Freude und Intereſſe an der Erde be⸗ kommen, und hiermit beginnt ein ganz neues Verhältnis des Geiſtes, Leine zweite Periode, das ruhige Verhalten des Geiſtes zur Welt und zur Natur als zu dem Dieſen. So ſehen wir nun, wie die Chriſten⸗ beit allmählich von dem falſchen Wege, ihre Befriedigung zu ſuchen, zurückkommt und von nun an eine Richtung auf höhere all⸗ gemeine Zwecke nimmt, die in ſich berechtigt und Zwecke des Dies⸗ ſeits, der Gegenwart ſind.“ 82 Zu der Begierde des Menſchen, feine Erde kennen zu lernen, tritt als zweite Haupterſcheinung des dies⸗ ſeitigen Zwecken zugewandten Geiſtes die Entfaltung einer ſchon aus dem Prinzip der Kirche heraustretenden Kun ſt. „Eine neue Kunſt geht in Italien auf. Der Menſch hat es aufgegeben, ſich bloß mit C » gl. oben S. 253. „ L, IV, 852 f. B, 400 ff. * , IV, 854 ff.; L, IV, 871 B, 513, nt * Ey ER 282 Vierte Stufe: Die chriſtliche Welt einer Andacht zu begnügen, die nicht aus ſich herausgeht, und auf der anderen Seite das Sinnliche als rein Sinnliches zu belaſſen; er will es nun vergeiſtigen. So entflehen Kunſtwerke, die ſinnlicher Ausdruck des rein Geiſtigen ſind, aber zugleich auch das Sinnliche verſchönen.“ ss Das geiſtvolle Gemälde, das ſchöne Werk der Skulptur iſt die Befreiung des durch die bloße Dinghaftigkeit unterjochten Geiſtes.s“ „Das Gemüt verhält ſich zu dem Sinn⸗ lichen, das von der Kunſt die Form empfangen hat, nicht mehr wie zu einem bloßen Dinge, ſondern als Seele zu einem Seelenhaften, zu einem Geiſtigen. In ſolchem Verhältnis iſt der Geiſt frei für ſich in Beziehung zu einem, deſſen Ebenbild er iſt.“ 85 Eine dritte Haupterſcheinung des neuen Geiſtes iſt das Wiederaufleben der Wiſſenſchaft durch das Studium des Altertums. Die echte ariſtoteliſche Philoſophie verdrängt den ſcholaſtiſchen Formalismus, und in Plato geht dem Abendland eine „neue menſchliche Welt“ auf. s Das weltliche Prinzip ſcheidet ſich fo in ſteigendem Maße von der Kirche. Und mit dieſer Loslöſung ſchwingt ſich der Geiſt auf aus unwürdiger Knechtſchaft zur „edleren Menſchlichkeit“. 8° Mit den genannten drei Erſcheinungen vollzieht ſich nach Hegel die Auf: löſung des Mittelalters: „Dieſe drei Tatſachen der ſo— genannten Reſtauration der Wiſſenſchaften, der Blüte der fchönen Künſte und der Entdeckung Amerikas und des Weges nach Oſt⸗ indien ſind der Morgenröte zu vergleichen, die nach langen Stür⸗ men zum erſten Male wieder einen ſchönen Tag verkündet. Dieſer Tag iſt der Tag der Allgemeinheit, der endlich nach der langen folgen⸗ reichen und furchtbaren Nacht des Mittelalters hereinbricht, ein Tag, der ſich durch Wiſſenſchaft, Kunſt und Entdeckungstrieb, das heißt, durch das Edelſte und Höchſte bezeichnet, was der durch das Chriftene N tum freigewordene und durch die Kirche emanzipierte Menſchengeiſt als feinen ewigen und wahren Inhalt darſtellt.“ 88 2 L, IV, 869. „ L, IV, 868 f. = B, 511f. n L, IV, 868. s L, IV, 859; L, IV, 870 f. = B, 512 f. 7 L, IV, 868 = B, 511. L, IV, 871 = B, 513f. Das Germanentum 283 . Di ae die ſich dem erwachenden und über fie binausjchreis Bi tenden „Weltgeiſt“ vergeblich entgegenſtemmte, war ihrerfeits in das tiefſte Verderben geraten. Nicht um bloße „Mißbräuche“ han⸗ 1 delte es ſich, ſondern um ein „alle Adern durchdringendes Prinzip ö 1 des Verderbens“, daher rührend, daß fie das Sinnliche und Außer: liche nicht von ſich ausgeſchloſſen hatte. Aberglaube, Sklaverei der Arutorität, Wunderglaube der ungereimteſten und lappiſchſten Art, Heerſchſucht, Schwelgerei, Heuchelei, Betrug, leichtfertiger Geld⸗ bandel mit den tiefſten Bedürfniſſen der Seele, alle nur denkbare Verdorbenheit der Roheit und Gemeinheit laſſen die Kirche in der öffentlichen Achtung immer tiefer ſinken und ſteigern zugleich auf das hoͤchſte die „Empörung der Innerlichkeit“. Die 2 Tugend der Kirche aber, die Wirklichkeit fliehend, der Welt ent⸗ ſagend, iſt abſtrakt negativ und unlebendig. „Sie kommt nicht dazu, ſſittlich zu fein, denn fie zieht ſich aus dem Kreiſe des Lebendigen zurück.“ 89 Während die Kirche immer tiefer ſank, führte die veränderte Rich⸗ tung des Selbſtbewußtſeins zu „neuen Geſtaltungen des ſittlichen Ganzen“ im Staat. Negativ beſteht der Fortſchritt im Brechen der ſubjektiven Willkür, alſo des Prinzips der Feudalherrſchaft. Piosſitiv beſteht er in der Herausbildung einer monarchiſchen Staats⸗ gc⸗walt, die Recht und Geſetz an Stelle der Willkür ſetzt, die den beſonderen Willen dem Staatszweck unterordnet, die Einzelberech⸗ tigung der Individuen in die Rechte der Stände und Korporationen N überleitet und ſo ein geordnetes, organiſch gegliedertes Geſamtweſen anbahnt, aus dem die „reelle Freiheit“ hervorgeht. „Auf dieſe Weiſe kann die Macht des Herrſchers keine bloß willkürliche mehr fein. Es bedarf der Einwilligung und Stände der Korporationen, und will der Fürſt dieſe haben, ſo muß er notwendig das Gerechte und Billige wiollen. Wir ſehen jetzt eine Staatenbildung beginnen, während die 7 Feudalherrſchaft keine Staaten kennt.“ 90 ef- eff 0s. L. f 36865. 500-508; L, V. vf 234 Vierte Stufe: Die chriſtliche Welt So hat die „fürchterliche Zucht des Mittelalters“ mit den zwei „eiſernen Ruten“ der Kirche und der Leibeigenſchaft die Härte des ſelbſtſüchtigen, auf ſeiner Einzelheit ſtehenden Gemütes zermürbt, ſie hat das „germaniſche Herz, das feſte, knorrige Eichenherz“ ge⸗ brochen. „Ein allgemeiner Zweck, ein in ſich vollkommen Berech⸗ tigtes iſt für die Weltlichkeit in der Staatenbildung aufgegangen, und dieſem Zwecke der Gemeinſchaftlichkeit hat ſich der Wille, die Begierde, die Willkür des Einzelnen unterworfen.“ Die Kirche hat den Geiſt durch die „härteſte Knechtſchaft“ hindurchgeführt, aber ihn nicht zu indiſcher Dumpfheit herabgebracht. „Denn das Chriſten⸗ tum iſt in ſich geiſtiges Prinzip und hat als ſolches eine unendliche Elaſtizität.“ “1 „Es iſt hiermit vielmehr nur der Boden gereinigt worden, auf dem das religiöſe Prinzip Platz finden konnte, und den Menſchen iſt das Gefühl der wirklichen Verſöhnung geworden. Dieſe Verſöhnung wurde nunmehr in der Wirklichkeit, im Staate voll bracht; das Natürliche iſt gefangengenommen worden, und der Menſch hat ſich aus dem Mittelalter zu ſeiner Freiheit erhoben.“ 92 — Der unendlich-endliche Geiſt verſöhnt ſich mit ſich ſelber nur durch den Widerſpruch. Dieſes dialektiſche Grundprinzip vermag einzig die abendländiſche Geſchichte, inſonderheit die des chriſtlichen Mittelalters zu erhellen und ihren geſchichtsphiloſophiſchen Wert aufzudecken. An dieſes Prinzip iſt zu denken, wenn Hegel ganz knapp, aber höchſt bedeutſam ſagt: „Es iſt die Menſchheit nicht, ſowohl aus der Knechtſchaft befreit worden, als vielmehr durch die Knechtſchaft.“ 9s Die Knechtſchaft iſt nicht etwas, was an den Geiſt des Menſchen von außen her als ein ihm Außerliches und Fremdes zufällig herantreten kann oder nicht, ſondern wie die Roheit und die Begierde, das Unrecht und das Böſe ſeine ureigene elementariſche Natur, die nur dadurch, daß der in ſich ſelbſt zwie— ſpältige Geiſt ſie bekämpft und überwindet, zu dem ihm Außerlichen und Fremden erſt wird, als was ſie dem zur Freiheit, zur Sitt⸗ 1 L, IV, 839. 875 B, 509, * L, IV, 875. * L, IV, 875 =B, 510, % . | Das Germanentum 285 — und abu durch den Sieg über ſich ſelbſt gelauterten Geifte erſcheint. ». So bat Hegel durch das Prinzip der dialektischen Seelbſtbewegung des Geiſtes dem Dualismus gegeben, was des “ Dualismus ift. Aber er hat ihn, weit entfernt von allem flachen und webltſeligen Optimismus, mit der tiefen, metaphyſiſchen Schwere der zermalmenden Tragik und des opfervollen Leids aufgenommen in die Totalitat des mit ſich ſelbſt identiſch bleibenden all- einen Geiſtes, hat ihn damit zum Moment herabgeſetzt und ihm den Stachel der Selbſtzerſtörung ausgebrochen. Uber den leidenden und ſterbenden Gott triumphiert der ewig aufer⸗ ſtehende Gott. Verföhnung, nicht Zerriſſenheit und Zerſtörung, Kosmos, nicht Chaos iſt das letzte Wort des von chriſtlichem Ethos bdurchdrungenen großen Philoſophen. 2 d) Die Phaſe der konkreten Identität Die dritte Periode, die neue Zeit, beginnt mit der Re⸗ formation, der „alles verklärenden Sonne, die auf jene Morgenröte am Ende des Mittelalters folgt“. s Auf den Widerſpruch des Mittelalters folgt die Verſoͤhnung der neuen Zeit. Der dia⸗ llektiſche Gang der Geſchichte der germaniſchen Welt hat Hegel gleich zu Beginn veranlaßt, eine Beziehung zum philoſophiſch⸗ dialektiſchen Gehalt des chriſtlichen Mythus von der Dreifaltigkeit uꝛu ſtiften. Er nennt die erſte Periode das „Reich des Vaters“, weil Rees ſich hier erſt um die „ſubſtanzielle, ungeſchiedene Maſſe“, alſo um die unmittelbare Identität handelt. Die zweite Periode iſt das Reich des Sohnes“ als die im Widerſpruch der weltlichen Exiſtenz begriffene Identität. Die dritte Periode iſt das „Reich des Geiſtes“, die Verſohnung des Widerſpruchs, durch den fich die Identität des unendlich⸗endlichen Geiſtes mit ſich ſelbſt vermittelt. o Hegel nimmt i der neuen Ausgabe dieſen Gedanken nun noch einmal auf. „Das Mittelalter war das Reich des Sohnes. Im Sohne iſt Gott noch Bil. oben S. 60f. off. * IL, IV, 877=B, sı4. * L, IV, 766 = E 430f. 286 Vierte Stufe: Die chriſtliche Welt nicht vollendet, ſondern erſt im Geiſte; denn als Sohn hat er ſich außer ſich geſetzt, und es iſt alſo ein Andersſein da, das erſt im Geiſte, in der Rückkehr Gottes zu ſich ſelber, muß aufgehoben wer— den. Wie das Verhältnis des Sohnes ein Außerliches an ſich hat, ſo galt auch im Mittelalter die Außerlichkeit. Mit der Reformation aber beginnt nun das Reich des Geiſtes, wo Gott als Geiſt wirklich erkannt wird.“ 97 Hegel fährt fort: „Hiermit iſt das neue, das letzte Panier aufgetan, um das die Völker ſich ſammeln, die Fahne des freien Geiſtes, der bei ſich ſelbſt, und zwar in der Wahrheit iſt und nur in ihr bei ſich ſelbſt ſſt. Dies iſt die Fahne, unter der wir dienen, und die wir tragen. Die Zeit von da bis zu uns hat kein anderes Werk zu tun gehabt und zu tun, als dieſes Prinzip in die Welt hineinzubilden.“ 98 Wie Hegel das Weſen der katholiſchen Kirche vom Meßopfer her, ſo hat er — die neue Ausgabe läßt darüber keinen Zweifel — das Weſen der Reformation von Luthers Abendmahlslehre her, „worin ſich alles konzentriert“, verſtanden. „Der Prozeß des Heils geht nur im Herzen und im Geiſte vor. In dieſer Lehre werden jo alle Außerlichkeiten, die mannigfaltigen Formen und Zweige der Knechtſchaft des Geiſtes abgetan. Der einfache Unterſchied zwiſchen der lutheriſchen und katholiſchen Lehre liegt darin, daß geſagt wird, die Verſöhnung kann nicht durch ein bloß äußerliches Ding, die Hoſtie, vollbracht werden, ſondern nur im Glauben, d. i. in der Richtung des Geiſtes daraufhin, und im Genuſſe, indem die Hoſtie gegeſſen, zermalmt wird.“ 99 Der gläubige Genuß der Hoſtie im Abendmahl bedeutet für Luther nicht mehr und nicht weniger als die nicht⸗ſinnliche Gegenwart Chriſti im Geiſt und die im Geiſt ſich vollziehende Einung des Subjekts mit dem gegenwärtigen Gott, der aber — ſo reduziert Hegel gleich wieder den Mythos auf den Logos — das ſubſtantielle Weſen des menſchlichen Geiſtes ſelber iſt. „Dieſer Geiſt iſt das Weſen des Subjekts. Indem ſich das 7 L, IV, 881. * IL, IV, 881 = B, 519. % L, IV, 878f. a Are Tl „aha | 287 ft zu ihm als zu feinem Weſen verhält, fo wird es frei, weil * bei ſich iſt; ſo iſt die chriſtliche Freiheit wirklich ge⸗ wecken Hiermit iſt die abſolute Innigkeit der Seele, die der Re⸗ le ſelbſt angehört, und die Freiheit in der Kirche gewonnen.“ 100 ES: Hegel ſagt geradezu: „Die einfache Lehre Luthers iſt die Lehre 1 der Freiheit.“ 101 Aus dem Bei⸗Sich⸗Selbſt⸗Sein des Geiſtes und 3 bamit aus der Entfernung aller Verhältniſſe der Außerlichkeit ent⸗ ſpringt die reformatoriſche Lehre von den Werken, vom Glauben, * von dem allgemeinen Prieſtertum, vor allem aber von dem durch Cbhriſtus normierten Gewiſſen, durch das die außere Autorität der 3 Kirche tödlich getroffen wird. 102 Was inſonderheit die vom Mittelalter hinterlaſſene Aufgabe der 3 Verſohnung von Kirche und Staat, von religiöſem und weltlichem Prinzip betrifft, ſo beruht dieſelbe auf der Erfüllung der weltlichen T23uyecke mit geiſtigem und ſittlichem, oder, wie Hegel kurzweg ſagt, 2 mit vernünftigem Gehalt, jo daß nicht mehr ein göttliches Jenſeits einer als böfe geltenden und des Guten unfähigen Welt dualiſtiſch ent⸗ 2 eedenſteht. „Das Göttliche hört auf, die fire Vorſtellung eines Jen⸗ = . zu haben. Es wird nun gewußt, daß das Sittliche und Rechte im Staate auch das Göttliche und das Gebot Gottes find und daß 3 es dem Inhalte nach kein Hoͤheres, Heiligeres gibt.“ 100 Familie, Recht, Eigentum, Erwerb, Sittlichkeit, Regierung, Verfaſſung uſw. ſind — der bloßen Stofflichkeit, dem Chaos regelloſer Willkür ent⸗ 1 Betätigungsformen des Allgemeinen. Die ſie durchwal⸗ tende Vernunft iſt die Manifeſtation desſelben unendlich-endlichen Pn 878 f. 881 = B, 517 f. 519. Vgl. oben S. 244 ff. Es iſt natürlich die Frage, ob Hegel bei feiner Reduzierung des Mythos auf den Logos nicht einen maſſiv⸗ E ansteriaififhen Mythus wie den der kirchlichen Trinitäts⸗ und Chriſtuslehre * nur durch einen fublimeren Mythus erſetzt. M. E. ift dies der Fall. Die Mythen⸗ 9 bildung iſt eine „Urfunktion des Geiſtes“. Jede große geiſtige Epoche ſchafft ſich ben Mythus bzw. bildet frühere Mythen um und fort. Ernſt Kried, Willen: 2 . als Mythos, Die Tat XIII. Jahrgang 1922, S. 230 ff. L, IV, 878, w, 879 f. 883 f. = B, 317f. 520f. L, IV, 888 = B, 525. Er . eo 1 * Bir 288 Vierte Stufe: Die chriſtliche Welt Geiſtes, wie es die neue Kirche als das „Reich der Freiheit des Geiſtes in der Geſtalt der ſubjektiven Erkenntnis“ iſt. Die Inten⸗ ſität des ſubjektiven Verſöhnungs- und Freiheitsbewußtſeins tritt aus der reinen Innerlichkeit heraus und kommt als „objektiver Geiſt“, d. h. in der Form der die Individuen bindenden Allgemein- heit zur Erſcheinung. „In dieſem Sinne muß man es faſſen, daß der Staat auf Religion gegründet ſei. Staaten und Geſetze ſind nichts anderes als das Erſcheinende der Religion an den Verhält⸗ niſſen der Wirklichkeit.“ 104 Die neue Ausgabe fügt hinzu: „Re⸗ ligion und Staat ſind von nun an in Eintracht; denn beide haben dasſelbe Geſchäft. Die wahrhafte Verſöhnung der Welt mit der Religion iſt nun vorhanden.“ 105 „Der göttliche Geiſt muß das Weltliche immanent durchdringen.“ 106 Es iſt die Heilige und Gött⸗ lichſprechung der innerweltlichen Kulturzwecke gegenüber allem re: ligiöſen Fanatismus und Dualismus, die Hegel mit dem Auftreten des reformatoriſchen Freiheitsprinzips grundſätzlich erfolgt fein läßt. Ihre letzte Wurzel iſt — ſo dürfen wir Hegel zu Ende deuten — die dialektiſſche Selbſtbewegung des unendlich-endlichen Geiſtes. Wie der Geiſt des Subjekts ſich von ſeiner Endlichkeit ſcheidend ſich als unendlich erfaßt und dem Göttlich-Weſenhaften eint, fo iſt auch der Geiſt der Welt, der objektive Geiſt, in Einung mit Gott oder der Weltvernunft, wenn er ſich von der ſingulären Willkür ſcheidend ſich zur Form der Allgemeinheit, oder, da die Betätigung des Allgemeinen das Denken iſt, zur Form des Gedankens erhebt. Daraus folgt, daß die Ehe nicht mehr die Eheloſigkeit, der Familien⸗ vater nicht mehr den Mönch, Tätigkeit und Erwerb nicht mehr das Almoſen, der Staat nicht mehr die ihn bevormundende und gän⸗ gelnde Kirche als das Heiligere, Göttlichere über ſich haben. Das Wichtigſte iſt, daß an die Stelle des blinden Gehorſams der freie Gehorſam tritt. Das Objekt des blinden Gehorſams iſt 10 L, IV, 881f,=B, 519f. *% L, IV, 882. 1% Enzyklopädie a. a. O. $ 552, S. 468. re „e zen Das Germanentum 289 die Zwangsautorität der mittelalterlichen Kirche. Das Objekt des N freien Gehorſams iſt der in ſeinen Ordnungen vernünftig organi⸗ ſierte Staat, den die Kirche des Geiſtes und der Freiheit in ſich gewähren läßt, wie umgekehrt der Staat der Kirche das Recht der Beſonderheit einräumt, Die orientaliſche Welt kannte nur den uns freien Gehorſam, die Knechtſchaft. „Bedingte“ oder „ſchoͤne“ Frei⸗ heit war die Freiheit der griechiſchen, „abſtrakte“ Freiheit die der römischen Welt. Die Freiheit der germaniſchen Welt ift die des freien Gehorſams. Die Reformation iſt für Hegel die für die Geſchichte der neuen und neuſten Zeit entſcheidende Umlagerung des Geſamtbewußtſeins und damit auch die Wurzel, aus der er den neuen Freiheitsbegriff entſpringen läßt. Die klaſſiſche Definition lautet: „Es wurde jetzt der Gehorſam gegen die Staats⸗ geſetze als die Vernunft des Wollens und des Tund zum Prinzip gemacht. In dieſem Gehorſam iſt der Menſch frei, denn die Be⸗ ſonderheit gehorcht dem Allgemeinen. Der Menſch hat ſelbſt ein Gewiſſen und hat daher frei zu gehorchen. Damit iſt die Möglichkeit einer Entwicklung und Einführung der Vernunft und Freiheit geſetzt, und was die Vernunft iſt, das ſind nun auch die göttlichen Gebote. Das Vernünftige erfährt keinen Widerſpruch mehr von ſeiten des religiöjen Gewiſſens; es kann ſich auf feinem Boden ruhig entwickeln, ohne Gewalt gegen das Entgegengeſetzte gebrauchen zu müſſen.“ 107 Hegel ſieht ja in dem monarchiſchen Staat — denn dieſer iſt gemeint — diejenige ſtaatliche Organiſationsform, die die alles zerſtörende Willkür und den alles verdumpfenden Zwang end⸗ gültig überwunden hat, indem fie die Rechte und Pflichten des Ein⸗ 3 1 \ . © Br. zelnen und der Geſamtheit gegenfeitig begrenzt und fie zum freien Geehorſam verſöhnt. Erinnern wir uns daran, daß die Willkür, oder, wie der Lieblings⸗ ausdruck Hegels dafür auch lautet, die „Partikularität“ es war, * die den Untergang der ſtaatlichen Bildungen der griechiſchen und %, IV, 888 f. = B, 525f. tee ſe, Geſchichtopbiloſopbie Hegels 19 290 Vierte Stufe: Die hriftlihe Welt römiſchen Welt herbeigeführt, wenn auch das Wachstum des neu— ſchöpferiſchen Geiſtes nicht gehindert hat, ſo rücken zwiſchen der orientaliſchen Welt der Knechtſchaft und der proteſtantiſch-germa⸗ nischen Welt des freien Gehorſams die griechiſche, römiſche und mittelalterlich-chriſtliche Welt als Reiche der „Mitte“ zuſammen, wenn man unter dieſer Mitte die furchtbaren Mächte der Willkür und des Chaos verſteht. Von der Knechtſchaft durch die Willkür zur Freiheit, das iſt das dialektiſche Thema der Weltge— ſchichte, das die Dialektik des unendlich-endlichen Geiſtes auf den vier Stufen ſeiner Geſtaltwerdung immer wieder variiert, bis der Urwiderſpruch der Willkür durch die erſtarkende Macht des Geiſtes endgültig gebannt, d. h. verſöhnt iſt. 1s — Damit iſt das Prinzip der neuen Zeit umſchrieben, von der Re- formation jedoch keineswegs ſchon verwirklicht: „Der Geiſt tritt nach der Reformation nicht gleich in dieſer Vollendung auf.“ Die Verſöhnung Gottes mit der Welt, der Kirche und des Staates war eine vergleichsweiſe immer noch unmittelbare und abſtrakte, d. h. „noch nicht zu einem Syſtem der ſittlichen Welt entwickelt“. 109 Die impoſante Univerſalmonarchie Karls V. iſt ohne inneres In⸗ tereſſe und läßt kein welthiſtoriſches Reſultat zurück. Sie konnte nicht verhindern, daß die neue Kirche zu weltlicher Exiſtenz ge— langte. 110 Dieſe weltliche Exiſtenz iſt ausgefüllt mit blutigen Re⸗ ligionskriegen, die in dem Weſtfäliſchen Frieden zwar zur Anerkennung der proteſtantiſchen Kirche, aber politiſch für Deutſch⸗ land zu einer „konſtituierten Anarchie“ führen. „In dieſem Frie⸗ den iſt der Zweck der vollkommenen Partikularität und die privat⸗ rechtliche Beſtimmung aller Verhältniſſe ausgeiprochen... Vom Zwecke eines Staates iſt dabei kein Gedanke und keine Vorſtel⸗ lung.“ 111 Für die Geſchichte der übrigen Nationen aber verlegt ſich der Schwerpunkt in die Konſolidierung zu monarchiſchen Staaten 108 Pgl. hierzu oben S. 149 f. 151. 1% L, IV, 889 = B 528f. 1 L, IV, 893 f. B, 536. 1 L, IV, Sgaff. 898 f. = B, 537 ff. 540f. nen 5 nz * EB» 1 — * und einem Staatenſyſtem, deren Hauptintereſſe die Schmälerung der Privatrechte der Dynaſten, die Umſetzung ihrer Privatverbind⸗ lichkeiten in Staatsbeſitz und Staatsaͤmter und ihrer Herrſchafts⸗ rechte in Pflichten gegen den Staat war. 11 Der Entwicklung der katholiſchen Kirche nach ihrer weitreichenden Beeinfluſſung durch die Reformation hat Hegel kein weiteres Intereſſe entgegen⸗ gebracht. „Sie machte halt: bis hierher und nicht weiter; ſie trennte ſich von der aufblühenden Wiſſenſchaft, von der Philoſophie und humaniſtiſchen Literatur und hatte bald Gelegenheit, ihren Wider⸗ willen gegen Wiſſenſchaftliches kundzugeben ... Die katholiſche Welt iſt fo in der Bildung zurückgeblieben und in größte Dumpfheit ver⸗ ſunken.“ 113 Der Proteſtantis mus als Kirche und Theologie hat ſich kaum weniger verengt. 114 Hegel notiert, daß nicht nur die politiſche, ſondern auch die religiöſe, innerkirchliche Geſchichte des deutſchen Proteſtantismus nach Luther einen kläglichen Anblick 4 dietet: „Der Proteſtantismus hat dieſe Wendung eines kleinlichen Grübelns über den ſubjektiven Seelenzuſtand und der Wichtigkeit der Beſchäftigung damit genommen und lange Zeit den Charakter einer innerlichen Quäferei und Jammerlichkeit in ſich gehabt, was 3 heutzutage viele bewogen hat, zum Katholizismus überzutreten, um gegen dieſe innere Ungewißheit eine förmliche breite Gewißheit an dem imponierenden Ganzen der Kirche zu erhalten.“ Und mit dem 5 1 Schandmal der Hexenprozeſſe blieb ſeiner empiriſchen Geſtaltung noch lange der im Prinzip überwundene Glaube an die von allem Göttlichen abgetrennte, beſondere Macht der böſen, teufliſchen Welt: lichkeit aufgeprägt. 115 Die geiſtige Führung übernimmt der durch die Reformation grund⸗ * fäßlich entbundene freie Gedanke, der alles in der Form der Allgemeinheit betrachtet und dadurch die Tätigkeit und Produktion * des Allgemeinen iſt. „Die letzte Spitze der Innerlichkeit iſt das k, IV, ssoff. - B, si ff. ur L, IV, ss4f. = B. 522. n. L, IV,913 = B, 543. , W,. ssoff. = B, 328ff. 19* 292 Vierte Stufe: Die chriſtliche Welt Denken; es iſt in ſich frei, indem es das Allgemeine, das ſich nur zu ſich verhält, zum Inhalte hat. Der Menſch iſt nicht frei, wenn er nicht denkt; denn er verhält ſich dann zu einem andern und iſt bei dieſem.“ 116 „Dieſes Denken iſt jetzt das Panier, das überall die Völker verſammelt.“ 117 „Das Denken iſt jetzt die Stufe, auf welche der Geiſt gelangt iſt. Es enthält die Verſöhnung in ihrer ganz reinen Weſenheit, indem es an das Äußerliche mit der Anfor— derung geht, daß es dieſelbe Vernunft in ſich habe als das Sub- jekt.“ 118 Daß die Vernunft die ſubſtantielle Grundlage ebenſowohl des Bewußtſeins als des Außerlichen und Natürlichen iſt, iſt zuerſt durch Descartes hervorgehoben worden. 119 Die neue Ausgabe erläutert feine epochale Bedeutung mit den Worten: „Er iſt der Ur: heber der neuen Philoſophie. Sein Grundſatz lautete: cogito, ergo sum, was nicht ſo verſtanden werden darf, als ob hier ein Schluß vorläge und ergo die Konſequenz aus Prämiſſen bezeichnete, ſondern es heißt: Denken und Sein iſt dasſelbe, ein Grundſatz, der auch jetzt noch immer gilt.“ 120 Das Vertrauen des denkenden Subjekts zu ſich ſelbſt erwuchs an dem Aufblühen und Gedeihen der Erfahrungs-, vornehmlich der Naturwiſſenſchaften, die dem ungeheuren Aber- und Wunderglauben der Zeit entgegentreten. „Denn die Natur iſt nun ein Syſtem be— kannter und erkannter Geſetze, der Menſch iſt zu Hauſe darin, und 116 L, IV, 914 =B, 543f. 7 L, IV, 914. — Rechtsphiloſophie a. a. O., Vor: rede S. 19: „Es iſt ein großer Eigenſinn, der Eigenſinn, der dem Menſchen Ehre macht, nichts in der Geſinnung anerkennen zu wollen, was nicht durch den Gedanken gerechtfertigt iſt — und dieſer Eigenſinn iſt das Charakteriſtiſche der neuern Zeit, ohnehin das eigentümliche Prinzip des Proteſtantismus. Was Luther als Glauben im Gefühl und im Zeugnis des Geiſtes begonnen, es iſt dasſelbe, was der weiter: _ hin gereifte Geiſt im Begriffe zu faſſen, und fo in der Gegenwart ſich zu befreien, und dadurch in ihr ſich zu finden beſtrebt iſt.“ A. a. O. F 328, S. 415: Der Gedanke und das Allgemeine find das „Prinzip der modernen Welt“, 18 L, IV, 915 = B, 544; L, I, 246: „Es iſt die Form des Gedankens, was die gründliche Verſöhnung zuſtande bringt: die Tiefe des Gedankens iſt die Ver⸗ ſöhnerin.“ 1 L, IV, 914f. = B, 544. % L, IV, 915. R237 Das Germanentum 293 4 nur das gilt, worin er zu Hauſe iſt, er iſt frei durch die Erkenntnis der Natur.“ Die Welt wird entzaubert von allen fremden, gewal⸗ tigen Mächten, über die man nur durch Magie ſiegreich werden zu koͤnnen vermeinte. „Das Auge des Menſchen wurde dadurch klar, 7 der Sinn erregt, das Denken arbeitend und erflärend. Es war für 3 die Menſchen, als habe Gott jetzt erſt die Sonne, den Mond, bie 1 Geſtirne, die Pflanzen und Tiere geſchaffen, als ob die Geſetze jetzt 5 erſt beſtimmt worden waͤren; denn nun erſt gewannen die Menſchen N N an dieſen Geſetzen ein Intereſſe, weil ſie ihre Vernunft in jener 1 Vernunft wiedererkannten und das Allgemeine in der Natur und im * Verſtande entdeckten.“ 121 1 Zu ihrem Höhepunkt kommt die Epoche des freien Gedankens im Zeitalter der Aufklärung. Die Autonomie der Vernunft hat ſich gegen das Gelten der Autorität durchgeſetzt. Und ſie hat nicht bloß die Naturauffaſſung von den trüben Mächten des Aberglaubens gereinigt, ſondern das geſamte Geiſtesleben ihrem Geltungsbereich 7 unterworfen. „Das abfolute Kriterium gegen alle Autorität des keligisſen Glaubens, der poſitiven Geſetze des Rechts, insbeſondere des Staatsrechts war nun, daß der Inhalt vom Geiſte ſelbſt in freier Gegenwart eingeſehen werde.“ Von hier aus hat Hegel eine ſehr deutliche Verbindungslinie zur Reformation gezogen und ge⸗ zeigt, inwiefern die Aufklärung an ſie anknüpft, aber auch über ſie = hinausführt: „Luther hatte die geiſtige Freiheit und die konkrete Veerſöhnung erworben; er hat ſiegreich feſtgeſtellt, was die ewige Beſtimmung des Menſchen ſei, müſſe in ihm ſelbſt vorgehen. Der Inhalt aber von dem, was in ihm vorgehen und welche Wahrheit iir ihm lebendig werden müſſe, iſt von Luther angenommen worden, ein Gegebenes zu ſein, ein durch die Religion Offenbartes. Jetzt iſt das Prinzip aufgeſtellt worden, daß dieſer Inhalt ein Gegenwärtiges ſei, wovon ich mich innerlich überzeugen konne, und daß auf dieſen inneren Grund alles zurückgeführt 11 L, IV, giof. 912 f. - B, 544f. 294 Vierte Stufe: Die chriſtliche Welt werden müſſe.“ 122 Hegel erkennt alſo hinſichtlich des ſubſtantiellen Gehalts keinen eigentlichen Bruch zwiſchen Reformation und Auf: klärung an. Das Zeitalter der Aufklärung wäre ohne das Zeitalter der Reformation nicht denkbar. Gewiſſe Tendenzen der letzteren wie die Freiheit des Geiſtes und die neue Würdigung der diesſeitigen Welt gelangen in der erſteren zu breiteſter Auswirkung. Aber der Rahmen, in dem dies geſchieht, iſt ein anderer. An die Stelle des Gedankens der ſupranaturalen Offenbarung tritt der Gedanke der Immanenz und Autonomie. Die Aufklärung hat Recht und Sittlich⸗ keit „als auf dem präſenten Boden des Willens des Menſchen ge⸗ gründet betrachtet, da es früher nur als Gebot Gottes, äußerlich auferlegt, im Alten und Neuen Teſtament geſchrieben, oder in Form beſonderen Rechts in alten Pergamenten, als Privilegien, oder in Traktaten vorhanden war“. „In Ciceros Weiſe“ gelten der Aufklärung die Triebe der Menſchen, welche die Natur ihnen ins Herz gepflanzt habe, als ausſchließliche Quelle des geſamten Rechts. 123 Daß auch der Staat der Kritik und den Beſtimmungen des ſeiner ſelbſt gewiſſen Verſtandes unterworfen wurde, führte zu einem neuen Staatsbegriff, dem ein Zuſatz der neuen Ausgabe zugute kommt: „Indem der Staat und die Regierung Verſtand haben, ihre Wirkſamkeit als allgemeine Zwecke faſſen, ſo tritt jetzt die Vorſtellung eines allgemeinen Staatszweckes als Höchſtes, Gel⸗ tendes ein. Das Staatsrecht wird nach allgemeinen Beſtimmungen gefaßt. Dadurch muß das hinfallen, was bloße Privatberechtigung in Anſehung der Staatsverhältniſſe iſt. Indem der Staat denkend wird, nimmt er ein anderes Verhältnis in der Wirklichkeit an. Dem Begriffe nach gehören dem Staate alle Verhältniſſe an, die der Form nach privatrechtlich ſind. Aber eben darum darf nur dasjenige dieſe Form behalten, was ſeiner Natur nach Privatrecht ſein kann. Dies, daß der Staat denkend wurde, iſt das Werk der natur- 122 L, IV, 915f. B, 546, Sperrungen vom Verf. 1 L, IV, 918 B, 545. ie F A 8 Das Germanentum 295 rechtlichen Aufklärung.“ se Unter dieſem Geſichtepunkt nennt die neue Ausgabe Friedrich II. von Preußen eine „welthiſtoriſche Perſon“ 12 „Er kann als der Regent genannt werden, mit dem die neue Epoche in die Wirklichkeit tritt, worin das wirkliche Staats⸗ intereſſe feine Allgemeinheit und böchfte Berechtigung erhalt.“ Held und Vorkämpfer der proteſtantiſchen Großmacht Europas, ein philoſophiſcher König, unſterblich als Geſetzgeber, Haus vater für das Wohl ſeiner Untertanen, „eine ganz eigentümliche und ein⸗ zige Erſcheinung in der neueren Zeit“, hatte er, das proteſtantiſche Prinzip von der weltlichen Seite auffaſſend, das „Bewußtſein von der Allgemeinheit, die die letzte Tiefe des Geiſtes und die ihrer ſelbſt bewußte Kraft des Denkens iſt“. Es iſt das Auszeichnende ſeiner Erſcheinung, daß er als König und nicht als Privatmann den all— gemeinen Zweck des Staates denkend gefaßt und als der erſte unter den Regenten alle Beſonderheiten, wenn ſie dem Staatszweck ent⸗ gegen waren, dem allgemeinen Beſten als letztem Prinzipe unter⸗ geordnet hat. 126 „So wird die neue Kirche von Preußen repräſen⸗ tiert, wohin der Blick der Freiheit ſich gerichtet hat und noch richten wird.“ 127 Wie nur die „Innigkeit des deutſchen Geiſtes“ der Boden war, auf dem das große Werk der Reformation erſtehen konnte, ſo blieb die Innigkeit der germaniſchen Nationen der eigentliche Boden für die . 2 Befreiung des Geiſtes. Den romaniſchen Nationen räumt Hegel den Vorzug der größeren Charakterbeſtimmtheit und des ent⸗ : 2 ſchiedeneren Zweckbewußtſeins ein. Aber im innerſten Grunde ihrer Mentalität ſieht er, zurückgreifend auf die urſprüngliche Vermiſchung %% L, IV, gızf. n L, IV, 918. % L, IV, 907. 918 f. = B, 542. 546. % L, IV, 907. — Es iſt mir nicht erklärlich, wie Hegel dazu kommt, den Staat Friedrichs des Großen als eine Frucht der „naturtechtlichen Aufklärung“ hinzu: 5 ſtellen, während er ihn gleichzeitig für feine univerſaliſtiſche Denkweiſe in An: 3 ſpruch nimmt. Die Naturrechtstheorie konſtruiert Staat und Geſellſchaft von den gatomiſierten Individuen her, führt zur franzöſiſchen Revolution, zum Liberalis⸗ mus, zur Demokratie. Gerade dagegen richtet ſich Hegels große Oppoſition. 296 Vierte Stufe: Die chriſtliche Welt des römiſchen und germaniſchen Blutes, eine „Entzweiung“, die ſie die wichtigſten Angelegenheiten des menſchlichen Geiſtes, das religiöfe und das ſtaatliche Intereſſe, gegeneinander vergleichgültigen läßt. 128 „Das weltliche und das geiſtige Intereſſe iſt jenen Nationen zweierlei; ſie gehen einerſeits ihren ſinnlichen Bedürfniſſen nach und üben auf der anderen Seite ihre religiöſen Pflichten aus. Sie ver⸗ folgen ruhig ihre weltlichen Zwecke und laſſen ihre religiöſe Anſicht nicht hinzukommen, und ebenſo wird das Religiöſe äußerlich für ſich abgetan.“ 129 Sie haben nicht jenes Geſammeltſein, jene tiefſte Ein⸗ heit, die Totalität des Geiſtes und des Empfindens, die wir Gemüt heißen und die die Stärke des germaniſchen Geiſtes ausmacht. „Das Innere iſt ein Ort, deſſen Tiefe ihr Gefühl nicht auffaßt; dieſes nämlich iſt beſtimmten Intereſſen verfallen, und die Unendlichkeit des Geiſtes iſt nicht darin. Das Innerſte iſt nicht ihr eigen.“ 180 Nur die innere Totalität des Geiſtes erſtrebt auch eine Totalität des geiſtigen Kosmos, die Verſöhnung Gottes und der Welt. Dabei unterſchätzt Hegel keineswegs den Anteil, den die romanischen Nas tionen an dem Aufkommen und der Ausbildung der Erfahrungs: wiſſenſchaften genommen haben, die ihr vorzüglichſtes Betätigungs⸗ feld geblieben find. 131 Von dem Frankreich Ludwigs XIV. iſt die geiſtige Bildung Europas ausgegangen. 132 Die neue Ausgabe hebt dieſen Sachverhalt noch ſchärfer hervor: „Die Franzoſen ſind das Volk des Gedankens und Geiſtes, aber des weſentlich abſtrakten, das Volk unendlicher Bildung, deſſen Gedanke aber mit der Außer: lichkeit gegen das Konkrete behaftet iſt. Der abſtrakte Gedanke und der Witz ſind hier die bezeichnenden Weiſen des Bewußtſeins. Das Denken der abſtrakten Allgemeinheit iſt das, was wir Bildung nennen. Frankreich iſt ſo das Land der Bildung; ein gebildeter Menſch zu ſein, allgemeine Benehmungsweiſe zu haben, das iſt das Streben des Franzoſen.“ 133 Descartes iſt von Hegel rühmend 135 L, IV, 877. 886 f. B, 517. 522 ff. 1 L, IV,887. e L., IV, 887 B, 524f. 131 L, IV, 912 = B, 544. 2 L, IV, 909, 911 =B, 536. 1 L, IV, 905, Be ae ENT A 3 wer u; | 5 . Fe . N ze N 4 * ev 7 Ts 4 225 r r a . * 5 11 BE u. ae‘ " Das Germanentum | 297 emwähnt. Und von Frankreich iſt die Aufklärung nach Deutſchland berübergekommen. 1% Danach kann es nun keinem Zweifel unter: liegen, dafi Hegel das Unzulängliche der Aufklärung auf den über⸗ ragenden Einfluß des romaniſchen Geiſtes zurückführt und daß in der Verſtandesbildung der Aufklärung die ſpezifiſche Totalität des germaniſchen Geiſtes keineswegs zum Ausdruck kommt. Hegel hat an die Spitze ſeiner Betrachtungen über die Aufklärung die Definition geſtellt: „Der Grundſatz der Aufklärung iſt Herr⸗ ſchaft der »Vernunft«, Ausſchließen aller Autorität. Die von dem Verſtande aufgeſtellten Geſetze, dieſe auf das gegenwärtige Bewufßftſein gegründeten allgemeinen Beſtimmungen in bezug auf die Geſetze der Natur und den Inhalt deſſen, was recht und gut iſt, hat man Vernunft genannt. Aufklärung hieß man das Gelten dieſer Geſetze.“ 185 Man hat die vom Verſtand aufgeſtellten Geſetze (fälſchlicherweiſe) Vernunft genannt! Darin liegt bereits Hegels ganze Kritik! Die neue Ausgabe umgrenzt den Geltungs⸗ bereich des Verſtandes noch viel ſchärfer und hebt hervor, daß inner⸗ halb dieſes Bereiches der Unterſchied zwiſchen romaniſch⸗katholiſchem und germanifch-proteftantifchem Geiſte noch nicht hervottritt. Dieſe ganze Form der Erkenntnis hat nur die zwei Seiten erſtens der Erfahrung und zweitens der Art, wie dieſe, die im unmittelbaren Wahrnehmen iſt, in die Form des Allgemeinen erhoben wird. In den Geſetzen ſowie in den Gattungen iſt der Verſtand bei ſich: das ſinnliche Material gilt, es iſt der Inhalt, der Ausgangspunkt, und von da aus wird in das Allgemeine übergegangen, und dies All⸗ gemeine ift der Verſtand. Der Verſtand iſt teils die Weiſe des fub- jektiven Denkens, teils der Zuſammenhang des Außerlichen. In der Form des Geſetzes iſt der Verſtand befriedigt, weil er darin die BVdentitat vor ſich hat, die er ſelbſt iſt. Auf diefer Stufe ſteht ſich = der Geiſt in katholiſchen und proteſtantiſchen Gebieten gleich.“ 186 , IV, 916 -= B, 546. % L., IV, 913 = B, 546. % L., IV, 913. 298 Vierte Stufe: Die chriſtliche Welt Die erfahrbaren Geſetze der Natur find für die Verſtandeserkenntnis der Aufklärung ein Letztes. Sie führt deshalb konſequent zu Ende gedacht zum Materialismus und Atheismus. Sie kann die „Brücke und den Übergang im Aufſteigen zu Gott nicht zeigen“. 137 Die neue Ausgabe bringt weiterhin wichtige Aufſchlüſſe. Der Verſtand mit ſeinen Geſetzen hat „natürliches Sein“ zur Grundlage, ſei es ein Seiendes der phyſiſchen oder — wie Gefühle und Triebe — der geiſtigen Natur. „Indem der Verſtand bei dieſem Natürlichen als dem abſolut Wahren ſtehen bleibt, kann es die Religion nicht gegen ihn aushalten. Sie hat einen ſpekulativen Inhalt; ſie iſt ver⸗ nünftig und inkonſequent gegen den Verſtand. Denn die Vernunft iſt eben dies, das Unterſchiedene als Eins, als Konkretes zu faſſen; der Verſtand dagegen hält die Unterſchiede feſt. Er ſagt, das Endliche iſt nicht unendlich, und ſo iſt alles Myſteriöſe, d. h. Spekulative der Religion ihm ein Nichtiges.“ 138 „Der Inhalt wird damit als endlicher geſetzt, und alles Spekulative iſt aus menſchlichen und göttlichen Dingen durch die Aufklärung verbannt und vertilgt worden.“ 139 g Mit andern Worten: Der Verſtand verhauſt in der undialektiſchen Einſeitigkeit des natürlichen, endlichen Seins. Er iſt deshalb not⸗ wendig irreligiös, oder läßt wenigſtens die Religion als etwas Gleichgültiges auf ſich beruhen. Aber der Verſtand iſt nicht die Totalität des Geiſtes. Die Totalität des Geiſtes iſt die den Verſtand in ſich befaſſende und zum Moment herabſetzende Vernunft. Die Vernunft ift dialektiſſch. Denn fie erlöſt das Endliche aus der abſtrakten Iſolierung, in der es durch den mechaniſierenden Verſtand feſtgehalten wird, und, indem ſie das Endliche mit dem Unendlichen verſöhnt, iſt ſie lebendiger, konkreter, unendlich-endlicher Geiſt. Die Aufgabe, Gott und die Welt, Religion und Kultur zu verſöhnen, blieb der Totalität des germaniſchen Geiſtes vorbehalten. „Das Streben unſerer Tage,“ ſagt Hegel, „iſt die Würdigung der Ver— 17 A. a. O. 1 L, IV, 916. e L, IV, 916 = B, 546f, Das Germanentum 299 er — die Erkenntnis Gottes, dies, daß der Geiſt von ſich weiß. * unſer Bewußttſein iſt um fo hoher zu fchägen, wenn wir denken, wieviel Arbeit es gekoſtet hat, dies hervorzubringen.“ 140 Hinter 3 dieſen Worten verbirgt ſich das ſtolze Gefühl, daß die Vernunft⸗ 3 philoſophie des deutſchen Idealismus der vom romaniſchen Geiſt der Entzweiung inſpirierten Aufklarung aus demſelben Grunde und ckbenſo überlegen iſt, wie das chriſtliche Prinzip dem in das Endliche 7 gebannten, undialektiſchen Verſtande der römischen Welt. 11 — Es war geſagt worden, daß nach der Reformation der durch fie grundſatzlich entbundene freie Gedanke die geiſtige Führung an ſich nahm und daß die Epoche des freien Gedankens im Zeitalter der Aufklärung zu ihrer Hohe kam. Es iſt das Prinzip der Autonomie, * der Selbſtbeſtimmung, gegen alle autoritativen Bindungen, das ſich damit durchſetzte. Oder, wie Hegel ſagt, an die Stelle irgendeines Prinzips der (zudiktierten) Meinung iſt das „Prinzip der Ge: weißheit, welche die Identität mit meinem Selbſtbewußtſein“ iſt, 4 getreten. 142 Das Prinzip der Selbſtbeſtimmung iſt die Freiheit des Willens, die „höchſte Beſtimmung, die der Gedanke E finden kann“. 143 Wie Hegel die einfache Lehre Luthers die Lehre der Freiheit nannte, 14 fo gedenkt er dieſes Umſtandes auch in ſeinen einleitenden Worten über die franzöſiſche Revolu— tion: „Freiheit des Willens iſt Freiheit des Geiſtes im Handeln und geht unmittelbar aus dem Prinzip der evangeliſchen Kirche hervor.” 145 Von dem Zeitalter des ſich ſelbſt beſtimmenden Willens, dem die franzöſiſche Revolution angehört, ſagt Hegel: „Dieſe un⸗ geheure Entdeckung über das Innerſte und die Freiheit, dies letzte Bewufſtſein des Tiefſten, iſt damals gemacht worden. Das Bewußt⸗ ſein des Geiſtigen iſt jetzt weſentlich das Fundament, und die Herr⸗ ſchaft iſt dadurch der Philoſophie geworden.“ Die Revolution iſt die Empörung des Freiheitsgedankens gegen die daſeienden Zuftände * % L, IV, 937. n Bal. oben S. 253 ff. % L, IV, 924 = B, 550. ½ L., IV, 950. % Mol, oben S. 287. % L, IV, 920. 300 Vierte Stufe: Die chriſtliche Welt und die Philoſophie ihr Ausgangspunkt. 146 „Die franzöſiſche Res volution hat im Gedanken ihren Anfang und Urſprung genom⸗ men.“ 147 Ihrem Gehalt nach iſt dieſe Begebenheit „welthiſto— riſch“. 148 „Solange die Sonne am Firmamente ſteht und die Pla⸗ neten um ſie herumkreiſen, war das nicht geſehen worden, daß der Menſch ſich auf den Kopf, das iſt, auf den Gedanken ſtellt und die Wirklichkeit nach dieſem erbaut. Anaxagoras hatte zuerſt geſagt, daß der voös die Welt regiert; nun aber iſt der Menſch dazu gekommen, daß der Gedanke die geiſtige Wirklichkeit regieren ſollte. Es war dieſes ſomit ein herrlicher Sonnenaufgang. Alle denkenden Weſen haben dieſe Epoche mitgefeiert. Eine erhabene Rührung hat in jener Zeit geherrſcht, ein Enthuſiasmus des Geiſtes hat die Welt durch: ſchauert, als ſei es zur wirklichen Verſöhnung des Göttlichen mit der Welt nun erſt gekommen.“ 149 Mit dieſen berühmten Worten feiert Hegel die in der franzöſiſchen Revolution wirkſame Ideologie. Die Freiheit des Willens als Grund aller Rechtsgeſetze, Pflichten— gebote und Verbindlichkeiten, ja als das, „wodurch der Menſch Menſch wird“, iſt in Frankreich durch Rouſſeau verkündigt worden. 150 Aber fie iſt wie der formelle Wille der Kant ſchen Phi⸗ loſophie ein inhaltloſes Prinzip, deſſen Stoff man in den natür- lichen Trieben fand. Der revolutionäre Freiheitsgedanke — darauf läuft Hegels Kritik der franzöſiſchen Revolution und ihrer Folge: erſcheinungen hinaus — iſt daher ebenſo abſtrakt wie die Geiſtes⸗ welt der Aufklärung, der er entſprang. 151 Die Rekonſtruktion des Staates erfolgte nicht von der Totalität des Geiſtes, die auf die Verſöhnung Gottes und der Welt gerichtet iſt, ſondern von dem „abſtrakten Einzelwillen“ aus. „Dieſer formelle, eigene Wille wird nun zur Grundlage gemacht. Recht in der Geſellſchaft iſt, was das 146 L, IV, 924 = B, 550; Rechtsphiloſophie a. a. O. $ 279, ©. 363: „Dieſes Ich will macht den großen Unterſchied der alten und modernen Welt aus.“ 7 L, IV, 90; x» #8 L, IV, 931 = B, 558. 1 L, IV, 926 = 5, 552, % „ 1 L, IV, aaf. - B, 548f. Das Germanentum 301 4 Geſeg will, und der Wille iſt als einzelner; alſo der Staat als Aggregat der vielen einzelnen, iſt nicht eine an und | für ſich ſubſtanzielle Einheit und die Wahrheit des Rechts an und für ſich, der ſich der Wille der einzelnen angemeſſen machen muß, um wahrhafter, um freier Wille zu ſein. Sondern es wird nun ausgegangen von den Willensatomen, und jeder Wille iſt unmittelbar als abſoluter vorgeſtellt.“ 02 Und daß man unter der Freiheit des Willens den beſonderen Willen, wie ihn einer gerade hat, verſtand, mußte mit der fürchterlichen Tyrannei des Schreckens⸗ regimentes Robespierres zur ſchließlichen Auflöſung des Staa⸗ tes überhaupt ausſchlagen.!““ Hätte man Hegel gefragt, wo man die Freiheit wahrhafter verſtanden habe, im Frankreich der Revolution oder im Preufien Friedrichs des Großen, fo wäre feine Antwort micht zweifelhaft geweſen. Die liberale Staatsdoktrin iſt der legitime Abkoͤmmling der franzöſiſchen Revolution. Und im Liberalismus ſieht Hegel die uralte widerſpruchsvolle Macht der atomiſierenden Willkür wie ein immer noch nicht beſchworenes Geſpenſt in neuem Gewande durch die Lande der Gegenwart umgehen. „Die ſubjektiven Willen der Vielen ſollen gelten: dieſe Abſtraktion wird feſtgehalten und befindet ſich immer im Gegenſatz gegen das Vorhandene. Nicht zu⸗ frieden, daß vernünftige Rechte, Freiheit der Perſon und des Eigen⸗ tums gelten, daß eine Organiſation des Staates und in ihr Kreiſe des bürgerlichen Lebens ſind, die ſelbſt Geſchäfte auszuführen haben, daß die Verſtändigen Einfluß haben im Volke und Zutrauen in dieſem herrſcht, ſetzt der Liberalismus allem dieſen das Prinzip der Atome, der Einzelwillen entgegen: alles ſoll durch ihre aus⸗ drückliche Macht und ausdrückliche Einwilligung geſchehen. Mit dieſem Formellen der Freiheit, mit dieſer Abſtraktion laſſen ſie nichts Feſtes von Organiſation aufkommen. Den beſondern Ver⸗ , IV, 920. 924. 926 B, 550, 581 f. Sperrungen vom Verf. 10 Rechte⸗ pPhiloſophie a. a. O. SS 5. 258. n 9 zZ . "Un 1 1 . N 22 . Top rei. a N 302 Vierte Stufe: Die chriſtliche Welt fügungen der Regierung ſtellt ſich ſogleich die Freiheit entgegen; denn ſie ſind beſonderer Wille, alſo Willkür. Der Wille der Vielen ſtürzt das Miniſterium, und die bisherige Oppoſition tritt nunmehr ein; aber dieſe, inſofern ſie jetzt Regierung iſt, hat wieder die Vielen gegen ſich. So geht die Bewegung und Unruhe fort. Dieſe Kolliſion, dieſer Knoten, dieſes Problem iſt es, an dem die Geſchichte ſteht und das ſie in künftigen Zeiten zu löſen hat.“ 154 Wie kommt es, fragt Hegel weiter, daß das, was die Franzoſen praktiſch ausführten, bei den Deutſchen „ruhige Theorie“ blieb? War doch auch Kants Freiheitsprinzip abſtrakt⸗formeller Wille: „Hier wurde geſagt, der reelle Wille ſei die Vernunft des Willens; der Menſch ſolle nur ſeine Freiheit wollen. Er ſoll die Pflicht, das Recht nur um der Pflicht, des Rechtes willen tun. In meinem Willen iſt nichts Fremdes; nichts kann mir dagegen als Autorität aufgeſtellt werden: in meinem Willen bin ich am reinſten in mich zurückgezogen.“ 155 Hegel antwortet, daß dem formellen Prinzip der Philoſophie in Deutſchland die konkrete Welt und Wirklichkeit mit innerlich befriedigtem Bedürfnis des Geiſtes und mit berühigtem Gewiſſen, alſo verſöhnt gegenüberſtand. „Dabei iſt wohl zu be— merken, daß nur die Proteſtanten zur Beruhigung über die rechte liche und ſittliche Wirklichkeit gekommen ſein konnten. Denn dieſe Wirklichkeit iſt einerſeits die proteſtantiſche Welt ſelbſt, die ſo weit im Denken zum Bewußtſein der abſoluten Spitze des Selbſtbewußt⸗ ſeins gekommen iſt, und anderſeits hat der Proteſtantismus die Beruhigung über dieſe Wirklichkeit in der Geſinnung, die, ſelbſt mit der Religion eins, die Quelle alles rechtlichen Inhalts im Privat⸗ recht und in der Staatsverfaſſung iſt.“ 156 Es iſt die bleibende Wirkung der Reformation, daß die proteſtantiſche Welt nicht „zweierlei Gewiſſen“ zuläßt, daß es in ihr kein heiliges, kein reli giöſes Gewiſſen gibt, das vom weltlichen Recht getrennt oder ihm gar entgegengeſetzt wäre, daß daher durch „Einſicht und Bildung“ 184 L, IV, 925. 931. 932 f. B, 557 f. 0 L, IV, 922. 4 L, IV, 923 5, 549 Das Germanentum 303 5 0 geſchehen habe, was geſchehen ſoll. 157 Dahingegen die katholiſche Welt mit ihrer dualiſtiſchen Scheidung des Heiligen und Weltlichen den Widerſtand gegen den Staats zweck ſanktioniert und gewaltſame Erſchüͤtterungen nicht von ſich halten kann, wenn das religioſe Ge⸗ wiſſen und die Sittlichkeit der Kirche einerſeits, der Begriff der Freiheit und die Vernunft der Geſetze andrerſeits einander hindernd im Wege ſtehen. 108 „Die Revolution tritt alſo in den romaniſchen Ländern hervor. . „ wo aber die Freiheit der evangeliſchen Kirche herrſcht, da iſt Ruhe. Denn mit der Reformation haben die Prote⸗ ſtanten ihre Revolution vollbracht.“ 159 — „Drei Elemente und Mächte des lebendigen Staates“ hat Hegel in ſeinem, dem germaniſchen Freiheitsbegriff zuſammengeſchaut. Das erſte Element bezeichnet er als „reelle Freiheit“. Er ver⸗ ſteht darunter Freiheit des Eigentums, Freiheit der Perſon, Freiheit der Gewerbe und freien Zutritt zu allen Staatsämtern. Sie iſt die Freiheit des Individuums. Dias zweite Element iſt die „formelle Freiheit“ Unter ihr verſteht Hegel die geſetzgebende, regierende und verwaltende Autos rität des Staates, der nach außen hin den Staatszweck, die Auf: rechterhaltung der nationalen Individualität und Selbſtändigkeit, verfolgt, nach innen das Wohl des Staates und aller ſeiner Klaſſen dbeeſorgt. E Aber die Autorität des Staates laftet nicht heteronom auf der Freis 3 heit des Individuums, das ſich vielmehr mit jener als feinem eigenen gegenſtändlich gewordenen Willen identiſch weiß. Und fo ſchließen ſich gewollter Zwang und individuelle Freiheit drittens zuſammen zur Einheit der „Geſinnung“: „Die, welche die Ge⸗ ſetze zu betätigen haben, find Individuen und haben ein Gewiſſen; was ſie entſcheiden, kommt aus ihrer Überzeugung, aus ihrem Innern. Da iſt nun die weſentliche Beſtimmung, daß es in der Geſinnung nichts Höheres gebe als das Recht, nicht ein anderes, , IV, 917. 923. 933. 937 B, aof. 362. % L, IV, 924. 926, 933 = B, 380. 552. % L, IV, 925. 4 11 2 * N 304 Vierte Stufe: Die chriſtliche Welt das heiliger ſei in Beziehung auf weltliche Dinge und Angelegen— heiten. Dieſe Geſinnung iſt die letzte Garantie, die Regierung und Volk haben, die Geſinnung, die das innere Wollen der Geſetze iſt, nicht nur Sitte, ſondern das Bes: wußtſein, daß die Geſetze und die Verfaſſung überhaupt das Feſte ſeien, und daß es die höchſte Pflicht der Individuen fei, ihre beſonderen Wil: len ihnen zu unterwerfen. Es können vielerlei Meinungen und Anſichten über Geſetze, Verfaſſung, Regierung ſein, aber die Geſinnung muß die fein, daß alle dieſe Meinungen gegen das Sub— ſtanzielle des Staates untergeordnet und aufzugeben ſind; ſie muß ferner die ſein, daß es gegen die Geſinnung des Staates nichts Höheres und Heiligeres gebe, oder daß, wenn zwar die Religion höher und heiliger, in ihr doch nichts enthalten ſei, was von der Staatsverfaſſung verſchieden oder ihr entgegengeſetzt wäre. Zwar gilt es für eine Grundweisheit, Staatsgeſetze und Verfaſſung ganz von der Religion zu trennen, indem man Bigotterie und Heuchelei von einer Staatsreligion befürchtet; aber wenn Religion und Staat auch dem Inhalte nach verſchieden ſind, ſo ſind ſie doch in der Wurzel eins, und die Geſetze haben ihre höchſte Bewährung in der Religion. Hier muß nun ſchlechthin ausgeſprochen werden, daß mit der katholiſchen Religion keine vernünftige Verfaſſung möglich iſt; denn Regierung und Volk müſſen gegenſeitig dieſe letzte Garantie der Geſinnung haben und können ſie nur haben in einer Religion, die der vernünftigen Staats⸗ verfaſſung nicht entgegengeſetzt iſt.“ 160 Jeder dieſer großen Sätze iſt auf die Goldwage zu legen. Mit ihnen hat Hegel in glücklichſter Weiſe zuſammengefaßt, was er in der germanischen Welt als Sinn und Ziel ihrer Geſchichte durchzuführen willens war. Es war der germaniſchen Welt aufgegeben, das Prin- zip der chriſtlichen Religion, die Verſöhnung des endlichen mit dem 1% L, IV, 926ff. B, 552 ff. Sperrungen vom Verf. 1 8 i de be 67007 305 alten Geiſt, nicht nur der Subjektivitaͤt des Gemüte, ſondern dem ganzen Weltleben einzubilden. Aus feiner abſtrakten Urſprüng⸗ lichkeit heraustretend ſollte es auf dem Boden der germaniſchen Volker ein chriſtliches Reich geſtalten, ein Reich der Verföhnung uviſchen Gott und der Welt, ein Reich der Freiheit, die nicht Will⸗ kur, ſondern Gehorſam, ein Reich des Gehorſams, das nicht aͤußer⸗ licher Zwang, ſondern freie Gebundenheit iſt. „Wir haben in dieſen Vorleſungen beobachtet, wie das Bewußtſein bis hierher gekommen iſt, und haben die Hauptmomente der Form aufgezeigt, in der das Prinzip der Freiheit ſich verwirklicht hat. Die Abſicht war zu zeigen, daß die ganze Weltgeſchichte nichts iſt als die Verwirk⸗ lichung des Geiſtes und damit die Entwickelung des Begriffs der Freiheit, und daß der Staat die weltliche Verwirklichung der Frei⸗ heit iſt.“ 10 Wir fügen im Sinne Hegels hinzu: und die geiſtige Kirche die religiöfe Verwirklichung der Freiheit! Die zwei gött⸗ lichen Reiche der geiſtigen Kirche und des vernünftigen Staates, die Religion als Sphäre der ſubjektiven, der Staat als Sphäre der objektiven Freiheit, in der Erſcheinung der beſonderen Exiſtenz ge⸗ trennt, aber im Weſen der Grundſaͤtze und der Geſinnung identiſch, weil in derſelben Weltvernunft uͤrſtändend und die Totalität des in ſich verſoͤhnten geiſtigen Kosmos darſtellend, find das Ziel nicht nur der Entwicklung der germaniſchen Welt, ſondern der — Welt⸗ * geſchichte. 4. Die Zukunft der Geſchichte Der dialektiſche Rhythmus dieſes Realiſierungsprozeſſes iſt deutlich hervorgetreten und bildet wie in den früheren Teilen ſo auch in dieſem das feſte Gedankengerüſt für den Bau des Ganzen: von der unmittelbaren Identität durch den Widerfpruch zur Verſöhnung. Nur, daß bezeichnenderweiſe der Prozeß der Verſoͤhnung innerhalb des chriſtlich⸗germaniſchen Kulturkreiſes fällt und nicht als noch L. IV, 937f.=B, söaf. tee ſe, Geſchicgtopbiloſoptie Hegels 20 306 Vierte Stufe: Die chriſtliche Welt zu löſende Aufgabe einem ſpäteren welthiſtoriſchen Volke vor: behalten bleibt, wie das bei der orientaliſchen, griechiſchen und rö⸗ miſchen Welt der Fall war. Aber iſt damit nicht die Geſchichte zu Ende? „Man kann oft gegen Hegel die Beſchuldigung ausſprechen hören, daß er die Geſchichte mit ſeiner Zeit enden und dem Weltgeiſte kein Geſchäft mehr übrig bleiben laſſe, das in der Zukunft vollbracht werden ſolle.“ 162 Der Hinweis darauf, daß Hegel in dem Liberalismus ſeiner Zeit ein beunruhigendes, noch nicht gelöſtes Problem der Geſchichte ſah, kann dieſem Einwand nicht begegnen. Noch wichtiger wäre dann ja wohl die Prognoſe, die Hegel für Amerika ſtellt: „Amerika ift... das Land der Zukunft, in welchem ſich in vor uns liegenden Zeiten, etwa im Streite von Nord- und Südamerika, die weltgeſchichtliche Wichtigkeit offenbaren ſoll.“ 163 Es iſt eben die Frage, ob der Fort⸗ gang der Geſchichte mit Hegels geſchichtsphiloſophiſchen Voraus⸗ ſetzungen überhaupt vereinbar iſt, ja aus ihnen notwendig folgt, oder, ob er ihnen gegenüber ſchlechthin eine Inkonſequenz bedeutet, die dann allerdings die Anlage des Ganzen von vornherein als voll⸗ kommen verfehlt erwieſe. An dem erhobenen Einwand iſt ſoviel richtig, als in der Tat das Auftreten eines neuen weltgeſchichtlichen Prinzips nach Hegels Vorausſetzungen nicht mehr möglich iſt. Der Weltgeiſt iſt bereits mit dem chriſtlichen Prinzip in ſeine letzte Tiefe eingedrungen und hat mit ihm ſeine höchſte Höhe erklommen. „Die chriſtliche Welt iſt die Welt der Vollendung; das Prinzip iſt erfüllt und damit iſt das Ende der Tage voll geworden: die Idee kann im Chriſten⸗ tum nichts Unbefriedigtes mehr ſehen.“ 161 Mit der chriſtlichen Re⸗ ligion iſt die „abſolute Epoche in der Weltgeſchichte“ eingetreten, 169 Aber eben, weil es ſich um ein abſolutes Prinzip handelt, iſt ſeine Einbildung in die endliche „Natur“ ſeines exiſtierenden 182 G. Laſſon, Hegel als Geſchichtsphiloſoph a. a. O. S. 174f.; B, 575, Anmerkung 12 des Herausgebers. L, I, 200 B, 134. 1 Pgl. oben S. 257. 8 L, 1,22, Br f 55 Di., gulunſt ber Geſchichte 307 weltlichen Dafeins eine niemals fertige, ſondern eine, man muß wohl fagen: unendliche Aufgabe. 100 f Hiermit haͤngt zuſammen, daß die Anlage der chriſtlich⸗germaniſchen RB - Welt verglichen mit der roͤmiſchen und griechifchen von dieſen in da Punkte obmeidt, beffen Bebeutung a jet in boden Un. deen, daß die chriſtliche Welt der griechiſchen darin entſpricht, daß es ſich beide Male um die Einbildung des herrſchenden Prinzips in die Geſamtheit des Staats: und Kulturlebens handelt. 197 Dieſes 1 Se Prinzip iſt bei den Griechen das der „ ſchoͤnen Individualität“, * yſchoͤne“ Freiheit, bei den Römern das der „ſubjek⸗ die ſich als yabſtrakte“ Freiheit zeigt. Waͤh⸗ Völkern aber — ſehr undeutlich und mit Ein⸗ oͤmiſchen, um ſo deutlicher und rũckhaltloſer riechiſchen Volke — um eine gleichſam reibungsloſe und ſelbſt liche Realiſierung eines und desſelben Prinzips handelt, Be handelt es ſich in der Geſchichte der germaniſchen Welt nicht um der ſich als endlich⸗ unendlicher erfaßt, und um das ſpezifiſch germaniſche der „Innigkeit“ oder des „Gemüts“. Die Realiſierung des chriſtlichen Prinzips, die Hegel den germaniſchen Völkern als 221 F W HN n Hegel hat zwar die Vorſtellung der Geſchichte als eines unendlichen Progreſſes, der „ewig dem Ziele fern bleibt“, verabſcheut. „Der Begriff des Geiſtes iſt Rück⸗ 1 kehr in ſich ſelbſt.. . alſo iſt das Fortſchreiten kein unbeſtimmtes ins Unendliche, 4 ſondern es ift ein Zweck da, nämlich die Rückkehr in ſich ſelber. Alſo iſt auch ein gewiſſer Kreislauf da, der W ſich ſelbſt.“ L, I, 163f. Vgl. Rechtsphiloſo⸗ hinaus, und bezeichnet die bloß negative ſchlechte Unendlichkeit, die nicht wie die * wahre eine Rückkehr in fich ſelbſt hat. — Die Frage, ob Hegel die Geſchichte mit < feiner Zeit, infonderheit dem preußiſchen Staat von anno 1820 folgerichtig enden laſſen müffe, darf getroſt verneint werden, verneint aber nur zugunſten der von „ſchlechten Unendlichkeit“. 107 Vgl. oben S. 286. 262. 20* 308 Vierte Stufe: Die chriſtliche Welt Aufgabe zuweiſt, beſteht in der gegenſeitigen Annäherung, keines⸗ wegs aber in einer unterſchiedsloſen Verſchmelzung dieſer beiden getrennten, wenn auch aufeinander angewieſenen und einander ent— gegenkommenden Prinzipien. Der chriftliche Freiheitsbegriff iſt des⸗ halb auch nicht der germaniſche. Jenen hat Hegel das „Prinzip der abſoluten Freiheit in Gott“ genannt. 168 Der germa⸗ niſche Freiheitsbegriff iſt der des freien Gehorſams. Die chriſtliche Welt, die aus dem Zuſammenwirken dieſer beiden Prin- zipien entſteht, iſt endlich nicht ein Reich. Hegel ſpricht ausdrück⸗ lich von „zwei göttlichen Reichen“, dem weltlichen Staat und der religiöſen Kirche. Während der Begriff des Staates von Hegel ein— deutig im Sinne der vernünftig organiſierten Inſtitution verſtanden wird, die menſchliches Gemeinſchaftsleben auf die Dauer erſt mög— lich und wahrhaft ſittlich macht, unterſcheidet er bei dem unter⸗ ſchiedsloſen Gebrauch der Worte Kirche und Religion anſcheinend nirgends zwiſchen der Kirche als Organiſation und Inſtitution und der Religion als einer Bewegtheit der reinen Innerlichkeit. Aber Hegel hat doch geſagt: „Die geiſtige Kirche muß ſich rein als geiſtige Macht ausbilden.“ 169 Er hat im Gegenſatz zur mittelalter⸗ lichen Kirche die „neue Kirche“ der Reformation das „Reich der Freiheit des Geiſtes in der Geſtalt der ſubjektiven Erkenntnis“ gez nannt. 170 Und an der Stelle von den zwei göttlichen Reichen heißt es: „Es gibt zwei göttliche Reiche, das intellektuelle in Gemüt und Erkenntnis und das ſittliche, deſſen Stoff und Boden die weltliche Exiſtenz iſt.“ 171 Danach iſt es nun kaum mehr zweifelhaft, was Hegel unter „Kirche“ verftanden wiſſen will, nämlich das unſicht⸗ bare Reich des verſöhnten Geiſtes auf dem Boden der reinen Sub: jektivität, nicht auf dem der weltlichen Exiſtenz. Das Problem von Kirche und Staat als zweier direkt zuſammen- oder gegeneinander treffender Inſtitutionen taucht im Geſichtskreiſe ſeiner Geſchichts— philoſophie nicht auf, ſoweit die proteftantifche Welt zur Frage ſteht. 106 L, III, 746 B, 426. 16 Pgl. oben S. 280. 17% L, IV, 88 1f. 1 Vgl. oben S. 280. Die Zufunft der Gefchichte 309 * Einen wird erfichtlich, daß Hegel dieſes Problem der modernen 4 4 Welt von der hohen Warte einer Philoſophie der Weltgeſchichte aus als etwas Untergeorbnetes empfunden hat, als eine innere An⸗ ganiſationen auch immer beschaffen ſein und durch „Einſicht und 3 Bildung“ geregelt werden moͤge 17e, gar nicht heranreicht an bie UAnwiderſprechlichkeit des göttlichen Reiches in Gemüt und Er⸗ EkLeenntnis. Diesem göttlichen Reich in der weltlichen Exiſtenz des Kulturſtagates und durch fie eine Daſeins möglichkeit zxs!u ſchaffen, die es zur vollſten Auswirkung gelangen . und die wurzelhafte Identität beider Reiche hervor- * * treten läßt, das war und iſt und bleibt die verſöhnende «A Aufgabe der vergangenen und kommenden Geſchichte der Welt. | ER Hegel hat das Verhältnis des Staates zur Religion auch ausführlich behandelt in po, S. 325—343 feiner Rechtsphiloſophie a. a. O. Hier erörtert er auch das Verhältnis des Staates zur Kirche als Inſtitution. Gegen alle Mißachtung und . Unterſchätzung des Staates von ſeiten einer polemiſch oder fanatiſch gegen ihn ſich gebärdenden teligiöfen Geſinnung betont Hegel den göttlichen und geiſtigen Charakter des Staates. „Der Staat iſt göttlicher Wille, als gegenwärtiger, ſich i 5 zur wirklichen Geſtalt und Organiſation einer Welt entfaltender Geiſt.“ Gegen den Mißbrauch der Religion von feiten des Staates, inſofern religiöfe Gebunden: heit zum Gehorſam willfähriger mache, macht Hegel geltend, daß die Religion das Feld der freien Innerlichkeit ſei, das der Staat nicht gefährden dürfe. Zwiſchen v3 Staat und (proteftantifcher) Kirche beſteht die weſentliche Einheit der Grund: N fie und der Geſinnung, aber der Unterſchied der beſonderen Exiſtenz. Wie die Religion ſelber iſt auch die beſondere Exiſtenz der Kirche bedingt durch die en der Subjektivität (Gemüt, Empfindung, Gefühl, Glaube, Vorſtel⸗ lung). Die beſondere Exiſtenz des Staates beruht auf der in ihm ſich organifieren: den Allgemeinheit des Gedankens. Soweit die Kirche ſich aus der Sphäre der Innerlichkeit in das Weltliche begibt, unterſteht ſie der Autorität des Staates. Den Anomalien der Sekten gegenüber, die aus religiöfen Gründen direkte Pflich⸗ ten gegen den Staat nicht anerkennen, kann ſich der ſtarke Staat die Weisheit und Würde der Toleranz geſtatten. L, I, 105 ff. = B, i f. Enzyklopädie a. a. O. 185852, S. 4saff. Schlußbetrachtung Ein letztes Reſultat kann mit kurzen Worten gezogen werden. Die prinzipiellen Vorausſetzungen des erſten, grundlegenden Teils haben ſich durchgängig im Verlauf der näheren geſchichtsphiloſo— phiſchen Darlegungen Hegels bewährt. Die Geſchichtsphiloſophie Hegels iſt ſchon rein als Werk eines Denkſtils von wunder⸗ voller Formklarheit und Geſchloſſenheit des Grundriſſes und des Aufbaus. Dieſer Denkſtil iſt der dialektiſche. Das logiſche Prinzip der Dialektik mit ſeinem Rhythmus von Identität und Widerſpruch meiſtert die unbändige Fülle des geſchichtlichen Stoffes. Und ſelbſt die Gedankenreihe, die wir die organifche Entfal⸗ tung — im Unterſchied von der dialektiſchen Bewegung — nannten, beugt ſich willig dem herrſchenden Prinzip. Die orga⸗ niſche Entfaltung des Geiſtes verläuft dialektiſch, mit dieſem Para⸗ dor hat man ſich abzufinden. Die Dialektik iſt ja nicht ein totes Schema, das dem lebendigen Werden des Geiſtes, der Dynamik ſeines drangvollen Aufſtiegs übergeſtülpt wird, eine formale Kate⸗ gorie des Verſtandes im Kant ſchen Sinne, ſie iſt vielmehr das Bildungsgeſetz eines lebendigen Leibes, das mit dieſem Eines iſt. Man könnte verſucht ſein, die Dialektik als das Formalprinzip, die Freiheitsidee als das Materialprinzip der Hegel: ſchen Geſchichtsphiloſophie anzuſehen, wenn nicht dieſe abſtrakten Unterſchiede — Verſtandesbeſtimmungen würde Hegel ſie nennen — 2 an Hegels Philoſophieren immer wieder zuſchanden würden. An Nur die kurze Abhandlung über den „Mohammedismus“ (L, IV, 789—797) fällt aus dieſer Geſchloſſenheit heraus. Sie durfte deshalb übergangen werden, r - + 1 x 4 r „ 4 a J R E ne er Ze h » 3 * 9 N W El 1 u. 4 * 2 ; „ii u 28 4 1 * * * 1 Ay 2 Shhufibetrachtung 311 den Lebendigen, Werdenden kann man nicht die ſtarren Unterſchiede 9 von Form und Inhalt, von Geſtalt und Gehalt fixieren wie an dem Roten, Gewordenen. Das Prinzip der Dialektik iſt das Flaſſig⸗ werben der Gegenſätze, die Idee des Überganges, wie es das Lebens dige zeigt, die Dialektik daher im Grunde ein nationaler Rot— be gherf, der Fülle des geiftigegefchichtlichen Lebens Herr zu werden, ſie überfehbar, fie formulierbar zu machen, ſie im Begriff zu 1 22 bannen und gleichzeitig doch wieder den toten Begriff zu ſprengen und zu verlebendigen. Die Dialektik iſt in ihrer eigentlichen, letzten Er a“ 5 Aſbſicht nicht eine Schematiſierung und Einſchnürung des lebendigen G.eiſtes, ſondern das Erſpüren des Rhythmus, der dieſen Geift Als lebendigen erweiſt. Und dieſer Geiſt iſt geladen mit ſittlichen nd religisſen Energien.? Es iſt der Geiſt des Denkers, der 85 binausſpäht in das geſchichtliche Werden der Menſchheit und dort die⸗ ſlelben fittlichen und religiöfen Kräfte am aufbauenden Werke ſieht wie in ſich ſelber. „Was für eine Philoſophie man wähle, hängt Bi davon ab, was für ein Menſch man iſt.“ Dieſes Wort Fichtes gilt in eminentem Maße von der Geſchichtsphiloſophie Hegels. Sie Er iſt gerade in ihrer dialektiſchen Faſſung Symbol > D It Ye dies nicht der Fall, und wird der Geiſt gar boykottiert, ſo wird aus dem Prin⸗ uu der Dialektik wie bei Karl Marx ein toter Mechanismus. Nach Marx iſt alles geiſtige Leben gegenüber dem materiellen Wirtſchaftsmechanismus ſekundär, ein ideologiſcher lIberbau, der keine Daſeinsberechtigung in ſich ſelbſt hat. Die daialektiſche Methode, die auf genuin geiſtigem Boden gewachſen iſt, auf die Mecha⸗ nit des Wirtſchaftslebens anwenden, heißt, mit ihr Schindluder treiben. Marx ft Pfeudohegelianer. „Daß Marr eine Parodie aus Hegels dialektiſchem Ver: flihren machen konnte, war feine Sache. Daß aber ein ganzes Jahrhundert lang 4 . Anhänger und Kritiker ihm dieſen Hegelianismus nachrühmten, wirft ein grelles dicht auf die grenzenlos ſeichte und irregerichtete philoſophiſche Bildung der vorigen And heutigen Geſchlechter.“ Othmar Spann, Der wahre Staat 4. a. O. S. 32 ff. 183 f. * 2 9 4 4 4 — 312 Schlußbetrachtung Es iſt letzten Endes eine untergeordnete Frage, welche Requiſiten der Hegelſchen Geſchichtsphiloſophie man vor dem Forum Kants noch als dauernd verwendbar ſich zu erklären getraut, nachdem man die Geſchichtsphiloſophie Hegels durch das Herausbrechen des kon— ſtruktiven Prinzips der Dialektik in einen Trümmerhaufen verwan⸗ delt hat. Dieſe Aufgabe mag denen überlaſſen bleiben, die nach einer „wiſſenſchaftlichen“ Philoſophie der Geſchichte fahnden. Für uns iſt Hegels Werk auf dem Gebiete der Geſchichtsphiloſophie — trotz Spengler — immer noch die gewaltigſte, unübertroffene Leiſtung des menſchlichen Denkens, mag ſie auch letztlich nur als Mythos der chriſtlich-germaniſchen Seele, aber dann auch als einer ihrer tiefgründigſten, wertbar ſein. * . nar tas 48 Barth, Paul 17. 19. 105 — 13. 92. 186. 306 1 605 88. 71. 06 ichte e 25. 28. 371 „ Kuno 17. 19. 98 h II. d. Gr. 295. 301 e, coff 95ff. = Sn 251 * * Ei. Karl d. Gr. 263. 255 Ai Karl V. 290 Terter 4 Re Konfuzius 156 3 3 287 m den, Eduard 28 f. 45. 68f. Namen- und Autorenverzeichnis r d. Gr. 138 f. 188 f. 05f. Kronenberg, M. 25. 192. 281 Kühnemann, Eugen 85. 100 Laſſon, Georg 13. 16. 17 f. 19. 28. 52. 63. 306 Leibniz 49. 55 Leſſing 36. 71. 84f. Locke os Luther 286 f. 292. 299 Marx, Karl 80. 311 Nietzſche 135 Perikles 207. 226 Plato 23f. 214f. 282 Plenge, Johann 40 Ranke, von, L. 40. 92. 137 Rouſſeau 105. 300 Schelling 25 f. 36. 106. 110 Schlegel 106 Schmitt, Eugen, Heinrich 19. 26. 89 Scholz, Heinrich 15. 118f. 138. N 244 Simmel, Georg 96 Sokrates 212 ff. 234. 236. 251 Spann, Othmar 47. 311 Spengler, Oswald 9. 36. 39. 69. pa ff. 162 f. 186f. 312 Spinoza 24. 107 Troeltſch, Ernſt 50. 55. 240. 252 Windelband, W. 39f. 30. 39. 52. 184. 12 Vom Verfaſſer find ferner erfienen: 8 Die Prinzipienlehre der neueren ſyſtematiſchen Theologie im Lichte | der Kritik Ludwig Feuerbachs. Leipzig. J C. Hinrichs ſche Buch y handlung 1912. 196 Seiten. m Moderne Theoſophie. Ein Beitrag zum Verſtändnis der geiſtigen Strö⸗ mungen der Gegenwart. Zweite, völlig umgearbeitete u. ſtark erweiterte Aufl. Berlin. Furche-Verlag roax. 228 Sei⸗ ten. Dritte Auflage in Vorbereitung. 5 BÜCHER DES FURCHE-VERLAGES en ———— —— Jacob Böhme (1875 — 1624) Die hochtenure Pforte, da der Menſch Gott und ſich ſelber beſchauen und zum überſinnlichen Leben gelangen mag Sechs Schriften, darunter das Gebetbüchlein von 1624, mit den Inhaltsangaben von J. G. Gichtel. Herausgegeben von Wilhelm Goeters (Bonn) und Wilhelm Irmer (Berlin). Titelholzſchnitt, Druckanordnung und Einbandzeichnung von F. H. Ehmcke. Druck in der Ehmcke⸗Fraktur. Umfang 198 Seiten. Format 19:25 cm. Eins malige Auflage in nur 750 Exempl.: Nr. 21 - zoo auf deutſch Japan und in een den uud In een Inhalt: Als Einleitung: Ein Brief von Jacob Böhmen an Herrn Caſpar Lindnern, zu Beuthen 1621 Die hochteure Pforte von göttlicher Beſchaulichkeit, was Myſterium Magnum und wie alles von, durch und in Gott ſei, und wie Gott in allen Dingen fo nahe ſei und alles erfülle, Geſchrieben im Jahre 1620 durch Jacob Boͤhmen Troſtſchrift von vier Komplexionen, das iſt Unterweiſung in der Zeit der Anfechtung für ein ſtets trauriges, angefochtenes Herz, wovon Traurigkeit natürlich urſtaͤnde und komme, wie die Anfechtung geſchehe. Nebſt feinen Troſtſprüͤchen, ange⸗ fochtenen Herzen und Seelen faſt nützlich. Auf Begehren geſchrieben im Martio, Anno tar durch Jacob Böhmen / Vom überfinnlichen Leben. Iſt ein Geſpraͤch eines Meiſters und Jüngers, wie die Seele möge zu goͤttlicher Anſchauung und Gehör kommen: und was ihre Kindheit in dem natürlichen und übernatürlichen Leben ſei; und wie ſie aus der Natur in Gott und wieder aus Gott in die Natur der Selbheit eingehe; auch was ihre Seligkeit und Verderben fei. Geſchrieben im Jahre 1622 durch Jacob Böhmen Eine kurze Andeutung von dem Schlüͤſſel zum Verſtand goͤttlicher Geheim⸗ niſſe. De poenitentia. 1623 Gebetbüchlein auf alle Tage in der Wochen. Wie ſich der Menſch ſoll ſeines Amtes, Standes und Wandels ſtets verinnern, darein ihn Gott verordnet hat, und wie er ſeinen Anfang, Mittel und Ende in alle ſeinem Tun ſoll Gott befehlen und ſtets mit Gott alle ſeine Werke wirken, gleichwie der Aſt des Baumes mit der Kraft der Wurzel feine Zweige gebieret und darauf feine Früchte trägt. Und wie er in allen Anfängen ſoll aus Gottes Brünnlein Kraft ſchoͤpfen zu feinem Wirken und feinem Schöpfer für alle Wohltat danken. Geſtellet auf Bitten und Begehren meinen lieben und guten Freunden, ihnen zu täglicher Abung des wahren Chriſtentums in ihrem Hauskirchlein, durch Jacob Böhmen von Goͤrlitz im Jahre 1624 Die Summarien von Joh. Georg Gichtel / Nachwort des Herausgebers BÜCHER DES FUR HE ME RLT NS * Matthias Gruͤnewald Der Maler des Iſenheimer Altars Eingeleitet von Wilhelm Niemeyer us dem Inhalt: Perſönlichkeit und Schickſal. Der Altargedanke. Das Seh⸗ geſetz des Schreinaltars. Das Altarwerk für Iſenheim. Die Tafeln des Iſen⸗ heimer Altars. Iſenheimer Altar und Sixtiniſche Decke. Die gemalte Schreinfigur. Die Umrißeinheit der Geſtaltengruppen. Der Geſtaltmaßſtab als Seelenausdruck. Grünewalds Stoffgefühl als Myſtik. Grünewalds Bildgeſtalten gemalte Schrein⸗ ſchnitzſiguren. Die Kraft der Sehvorſtellung bei Grünewald. Standbilder und Standbildergruppen aus Farbe. Die farbige Durchſcheinung des Stoffes. Die Ver⸗ wandlung des Schreingrundes in maleriſche Sicht. Die maleriſche Ferne unter dem Geſetz der Schreinſicht. Der Formgedanke des Schreinaltars. Grünewald als Voll⸗ ender des Schreingedankens. Grünewalds maleriſche Aufhebung der maleriſchen Form. Grünewald und die Tragik der deutſchen Form. Grünewalds Geſamtwerk. Umfang: 80 Seiten Groß⸗Quart mit zehn mehrfarbigen, einundzwanzig einfarbigen Bildtafeln und drei Zeichnungen der urſprünglichen Altaranſicht atthias Grünewald: das iſt der Name, Wort, Zeichen, Yuslöfung für die ſtärkſte Erſchũtterung, die deutſche maleriſche Kunſt zu geben hat. Im Schickſal und in der Seele dieſes Malers waltet herrſchend ein gefährlichſtes Geſetz des Geiſtes: der Wille zur maßloſen Steigerung, zur letzten Ausſchöͤpfung der künſtleriſchen Formen und Möglichkeiten, zur Einung der Gegenfäge und Zuſammenzwingung der Pole. Alles Leben und jede Kunſt, die unter dieſem Geſchick ſtehen, ſie gehen den Weg zu mächtigfter Tat oder zu unbegreiflicher Verlorenheit. Die Schickſale und die Werke, die fo geboren werden, find tragiſch. Ihre Größe und Herrlichkeit wie ihre abwegige Eins ſamkeit fließen aus gleichem Quell der Bedingtheit. Für Zeiten und Volkheiten, denen ſie lebendig find, bedeuten fie das Höchfte, Aber mit jaͤher Wendung koͤnnen Werk und Sein in tiefes Dunkel treten. Mit dieſer Schickſalsart ſteht Grünewald bei Geiſtern wie Paracelſus und Jakob Böhme, tiefſten Deutſchen, mächtigſten Deutſchen, Rufern der 1 eigenſten deutſchen Geiſtigkeit, aber immer wieder tief überdaͤmmert und ſeltſam ab⸗ ſeits. Der Jugend dieſes Jahrhunderts wurde Grünewald das Erlebnis der alten Kunſt überhaupt, die Möglichkeit tiefſter Erſchütterung durch maleriſche Schauung, die gewal⸗ tige Offenbarung verborgener, verlorener Möglichkeiten der deutſchen Seele, Wider⸗ klang und Beftätigung einer maleriſchen Hochſpannung über die Jahrhunderte hin. Dem Geſchlecht, deſſen Malerei Nolde und Schmitt⸗Rottluff ſchufen, war Grünewald wieder in vollſtem Sinne gegenwärtig. So konnte die Münchener Ausſtellung des Iſen⸗ heimer Altars ein Volksereignis werden, die Wallfahrt einer Bevölkerung zu einem Werk der Kunſt. Die dunkle Qual, die tiefe Schickſalsangſt, die Troſtſehnſucht einer gott? fernen Zeit, ſie trieben eine ganze Stadt, ihre Kunſtwiſſenden und ihre kunſtfremden Maffen, in die Gefühlsgewitter und Erlebnisſchauer dieſes frommgewaltigen Werkes. 1 ra * a | ohen n DES FURCHE-VERLAGES Schöpfung Ein Jahrbuch für religidfe Ausdruckskunſt Herausgegeben von Dr. Oskar Beyer unter Mitarbeit von Or. Kurt Karl Eberlein, Karlstuher Kunſthalle; Dr. Otto iſcher, Direktor der Stuttgarter Gemäldegalerie; Pfarrer Karl Joſef Friedrich, Grünhain (Sachſen); Architekt W. A. Hablik, Itzehoe (Holflein); De, G. F. Hartlaub, Kunſt⸗ halle Mannheim; Or. Herbert Hauſchild, Leipzig, Herausgeber des „Archiv für Buch⸗ gewerbe und Graphik“; Architekt Dipl.» Ing. Erich Mendelfohn, Berlin; Prof. Dr. Hans Much, Hamburg; Or. Wilhelm Niemeyer, Dozent an der Kunſtgewerbe⸗ ſchule Hamburg; Wilhelm Schäfer, Heraus geber der „Rheinlande“, Ludwigshafen (Bodenſee); Dr. Paul F. Schmidt, Oirektor des ſtäͤdtiſchen Muſeums, Dresden; Stadtbaurat Bruno Taut, Magdeburg; Geh. Reg.⸗Rat Univ.Prof. Dr. W. Waet⸗ sold, Berlin; Dr. Karl With, Leiter des Folkwang⸗Muſeums, Hagen i. W., u. a. | Umfang: 160 Seiten Groß⸗Quart mit etwa 60 eins und mehrfarb. Abbil⸗ dungen nach Gemälden, graphiſchen, plaſtiſchen u. architektoniſchen Werken Di Jahrbuch „Schoͤpfung“ ſoll das Wichtigſte von dem aus der Zerſtreuung ſammeln, was heute aus lebendiger religiöfer Geſinnung heraus Form und Sprache wird. Es will einen Ort der Vereinigung ſchaffen für alles das, was innerlich zuſammengehöͤrt, ſelbſt wenn die Außerungs formen in verſchiedener Rich tung liegen oder ganz perfönlich bedingt zu fein ſcheinen. Es ſucht über dem Verſchiedenartigen, Mannigfaltigen das Gemeinſame deutlich werden zu laſſen, das einmal wieder zu einer neuen, umfaſſenden religiöfen Stilbildung führen muß. Es hat zu gleicher Zeit die Aufgabe, neben die jungen Keime des Werdenden Werke aus religiös ges dundenen und ſchoͤpferiſchen Kunſtvergangenheiten zu ſtellen, an denen ſich das Sehen, das Wertgefühl, die Urteilsbildung dauernd orientieren kann. Nicht um Kunſtgeſchichte damit zu treiben, ſondern als Zeugniſſe ewig jugendlicher und gegen⸗ wärtiger Bewegung. Es kann nicht kirchlich oder konfeſſionell oder auf das Deutſche kt, — es kann nur univerſal angelegt fein, wenn es alle diejenigen von unferen Zeitgenoſſen angehen foll, für die der eigentliche Kunſtwert, alſo das, was uns an einem Werk ergreift, ein Geiſtiges, Metaphyſiſches iſt. Das braucht keineswegs aus zuſchließen, daß der Hauptakzent auf unſerem deutſchen Kunſtſchickſal ſowie auf dem Ehriſtlichen liegt, allerdings einem Chriſtlichen im reinſten, hoͤchſten, allgemein⸗menſchlichen Sinne. Außer Auffägen über alte und neue, chriſtliche und außerchriſtliche refigiöfe Kunſt und beſonders wichtigen, klaſſiſchen Außerungen über das religiöſe Kunſtproblem wird das Werk eine Revue mit Buchbeſprechungen enthalten, die von beſonders berufenen Kennern der einzelnen religioͤſen Kunftgebiete verfaßt werden, ſowie Berichte über Ausſtellungen religiöfer Kunſt und fonftige Mit; teilungen über wichtige Ereigniffe des Jahres, die mit derfelben in Beziehung ſtehen. BÜCHER DES FURCHE-VERLAGES PP — — — Die unendliche Landſchaft über religiöfe Naturmalerei und ihre Meiſter Von Oskar Beyer Grundſaͤtzliches: Über Landſchaftsmalerei. Arten der Landſchaft. Möglich- keit religiöfer Naturkunſt. Die religiöſe Landſchaft. Merkmale und Dar: ſtellungsmittel. Der Typus des religiöſen Landſchaftsmalers. Einzelbetrach⸗ tung: Die Oſtaſiaten. Sandro Botticelli. Matthias Grünewald. Rembrandt van Rhijn. Caspar David Friedrich. Jean Francois Millet. Giovanni Se gantini. Hans Thoma. Wilhelm Steinhauſen. Carl Menſe. Ausſicht. Ein mehrfarbiges Titelbild, fünfunddreißig einfarbige Bildtafeln im Bilderteil. u dieſem Buche handelt es ſich um die myſtiſche, die „unendliche“ Landſchaft. Dieſe Landſchaft ſetzt eine Künſtlerſeele voraus, die die Natur und das ihr Zu⸗ grundeliegende in denkbar hoͤchſtem Maße erlebt und bejaht hat. Das der Natur Zu⸗ grundeliegende iſt aber in Spinozas Aus drucksweiſe die ewig ſeiende Eine Subſtanz, das goͤttliche Myſterium, deſſen Entfaltung ins Dinglich⸗Sichtbare das iſt, was eben wir mit dem Begriff „Natur“ zu umfaſſen ſuchen. Dadurch wird auch verftändlich, weshalb die Malerei des Unendlichen, dieſe geiſtigſte Malerei, es ſich geſtatten darf, mit naturaliſtiſchen Bildmitteln zu arbeiten, denn die Dinge der Natur müſſen größte Wichtigkeit gewinnen, weil an ihnen der religiöfe Seinswert erlebt wird, oder, um mit Meiſter Eckhart zu ſprechen: weil die Kreaturen Fußſtapfen Gottes ſind; und in Luthers Worten: weil die Natur Gottes Vermummung iſt. Durch eine letzlich uner⸗ Härliche Kraft der Intenſivierung, die, wohl bemerkt, gar nichts mit theoſophiſchen, ſpiritiſtiſchen, gnoſtiſchen und ähnlichen Beſtrebungen zu ſchaffen hat, wird in dieſen Bildern eine hoͤchſte, als religiös zu bezeichnende Wirkung erzielt, wobel es im Rahmen des Seeliſchen, Stimmungshaften zu einer beglückenden Symbolik des Geiſtigen kommt. Was dieſes Geiſtige angeht, ſo winkt es hier nicht etwa einer unerfüllbaren Sehnſucht, ſondern die göttliche Unermeßlichkeit iſt einer einſamen Seele in einer Stunde, einem Augenblick des großen Schweigens, im Angeſicht von Bergen, Ebenen, Baͤumen als wirklichſte Wirklichkeit aufgegangen. Die unbeirrbare Sicherheit und Ruhe, der „Friede“ des wahrhaft geiſtigen Menſchen, der tatſächlich (und nicht nur bildlich geſprochen) höher iſt als alles Vernunftweſen, iſt in dieſe Bilder eingegangen. D ²ůdWꝛtm̃m uv al d w — vf ̃ ̃ͤ¹A' g u 2, zu > 2 U 1 n ee | je — — Me I et An 1 ni ak . 1 2 N U * Leese, Kurt 49 Die Geschichtsphil HT7L4 Hegels n PLEASE DO NOT REMOVE SLIPS FROM THIS POCKET UNIVERSITY OF TORONTO LIBRARY